Herr Berzbach, in Ihrem neuen Buch Formbewusstsein plädieren Sie dafür, dass wir jedem Bereich unseres Alltags mehr Struktur und Ordnung geben sollten, um besser zu leben. Das klingt abstrakt.
Das scheint nur so. Mir geht es um ganz konkrete kleine Veränderungen. Viele tägliche Gewohnheiten sind so automatisiert, die Dinge, die uns umgeben, so vertraut, dass wir uns kaum mehr Gedanken machen, ob sie stimmig sind oder eine gute Form für uns haben. Doch damit unterschätzen wir ihre Bedeutung für unser gesamtes…
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sind oder eine gute Form für uns haben. Doch damit unterschätzen wir ihre Bedeutung für unser gesamtes Wohlbefinden. Den Rahmen unseres Alltags bilden ja ganz grundlegende Bereiche wie Ernährung, Kleidung, Beziehung oder Medien. Diese können wir unter die Lupe nehmen und dann bewusst schöpferisch eingreifen, stilgebend agieren, mehr Ordnung und Struktur schaffen. Davon werden wir profitieren.
Warum sind es gerade Form und Struktur, die uns guttun? Helfen da nicht eher Freiheit, Kreativität und Individualität?
Immer noch denken viele zunächst an Förmlichkeit und Zwang, wenn sie das Wort „Form“ hören. Es entsteht schnell das Gefühl, davon habe man nun wirklich genug gehabt. Natürlich gab es Zeiten, in denen zwanghafte Formen unsere Realität prägten und wir mehr Freiheit und Kreativität brauchten. Aber die Zwänge sind jetzt fast alle weg. Das Pendel ist quasi in die andere Richtung ausgeschlagen. Wir individualisieren heute alles. Jeder kann selbst entscheiden, wie er seinen Lebensbereich gestalten will. Dadurch kommt es oft zu Beliebigkeit und einer Laissez-faire-Haltung. Es gibt keine festgelegten Rhythmen und Zeiten fürs Essen mehr, keine festen Umgangsformen im Kontakt mit anderen, der Medienkonsum ist oft ufer- und regellos.
Wie begründen Sie diese gesellschaftliche Entwicklung hin zur Formlosigkeit?
Was Soziologie angeht, will ich mich gar nicht zu weit aus dem Fenster lehnen. Aber es gibt beispielsweise die These von Richard Sennett über den Verfall des öffentlichen Lebens. Er beschreibt eine „Tyrannei der Intimität“. Damit meint er, dass wir uns in der Öffentlichkeit alle so verhalten, als seien wir im privaten Raum – beispielsweise wenn wir in Flip-flops oder im Trainingsanzug zum Einkaufen gehen oder alle Menschen mit „du“ anreden. Das ist natürlich bequem. Aber wir übersehen dabei: Wenn alles privat ist, dann führt das ästhetisch schnell zu unschönen Erscheinungen. Viele Menschen unterschätzen heute einfach, dass Ästhetik im Alltag Bedeutung hat und die Form unser ganzes Leben und unsere Stimmung mitprägt. Es gibt auch ästhetische Grundbedürfnisse.
Können Sie ein Beispiel dafür geben, wie Formen uns prägen?
Im Sommer war die Einschulungsfeier meiner Tochter. Die Kinder und Mütter waren zum Teil schön gekleidet. Doch die meisten Männer kamen in Shorts und ausgewaschenen T-Shirts. Wer sich so wenig für einen besonderen Anlass macht, der verpasst eine Gelegenheit, Feierlichkeit zu empfinden. Denn dass uns Kleidung eine Haltung verleiht, weiß jeder. Das sieht man etwa an Menschen, die im Homeoffice arbeiten. Es ist empfehlenswert, den Schlafanzug auszuziehen. Denn die Kleidung hilft, in die Arbeitsrolle zu finden. Die äußere Form gibt uns also eine innere Form, bringt Halt und Sicherheit.
Das klingt etwas kleinkariert: Kann man wirklich sagen, dass nur jemand, der gut angezogen ist, Feierlichkeit empfindet?
Wenn man nur über Einzelpunkte spricht, wirkt das schnell banal. Da liegt es nahe, zu sagen: „Ach, sieh das doch lockerer.“ Doch sowohl die Psychologie als auch die Lehren aus Philosophie und Buddhismus, auf die ich mich in meinem Buch beziehe, gehen davon aus, dass alle Themen des Alltags hochgradig miteinander vernetzt sind. Alles hängt mit allem zusammen. Wenn ich ständig qualitativ minderwertige Medien konsumiere, etwa ohne Grenzen fernsehe, hat das Auswirkungen auf meine Sprache, Wahrnehmung, meinen Körper, vielleicht auf mein Essen. So kann man das für alle Bereiche durchspielen: In der Verzahnung vieler kleiner, unachtsamer Dinge entsteht etwas Destruktives. Zu dieser Idee passt die Broken-Windows-Theorie aus der Sozialpsychologie. Sie besagt, dass in einem Haus, in dem ein Fenster zerbrochen ist, bald auch andere Scheiben eingeworfen werden und so manchmal ganze Viertel verslumen. Und in unseren Wohnungen, auf unseren Arbeitsflächen ist es ja nicht anders. Unordnung lässt schnell noch mehr Unordnung entstehen. Und das hat dann in der Summe Einfluss auf unsere Arbeit, Stimmung, Kreativität, auf die Art, wie wir uns zu Hause bewegen.
Was gibt es denn noch für Formen, für die wir wieder mehr Sinn entwickeln könnten?
Einfach und sehr wichtig finde ich es, wieder bestimmte Lebensrhythmen zu kennen und anzuerkennen und sich danach zu richten. Es gibt ja tradierte Wechsel aus Arbeit und Pause, etwa den freien Sonntag oder bestimmte feste Arbeitszeiten. Es gab auch lange eine Struktur von Mahlzeiten wie Frühstück, Mittagessen und Abendbrot, die heute von vielen nicht mehr wichtig genommen wird, die aber als Form einen Sinn hat – weil sie gesund ist, weil sie sozial ist, weil sie den Tag zusammenhält. Dafür ein Gefühl zu bekommen und diese verschiedenen Phasen zu beachten halte ich für klug. Dazu braucht man dann allerdings ein bisschen Durchhaltewillen. Zu bestimmten Mahlzeiten zu essen bedeutet ja auch, zu anderen Zeiten auch mal einige Stunden nicht zu essen – und in der Zeit diese Beschränkung auch auszuhalten.
Apropos Beschränkung: Sie widmen diesem Thema ein ganzes Kapitel. Warum ist das Prinzip so entscheidend?
Wer sich beschränkt, sieht die Dinge, die er dann noch hat, viel besser. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass äußere Beschränkungen zu innerer Freiheit führen. Menschen, die kreativ tätig sind, wissen das. Erst in dem Moment, wo sie einen gestalterischen Rahmen setzen, also eine Einschränkung akzeptieren, entsteht meist eine konkrete Idee. Und um es wieder auf die ganz alltäglichen Formen zu beziehen: Nehmen Sie noch mal unsere Kleidung. Gut angezogene Menschen haben oft keine umfangreiche Garderobe. Sie haben aber einen Überblick über die wenigen ausgewählten Sachen, die sie haben, können gut kombinieren. Und wenn man nur wenige Dinge hat, kommt noch etwas dazu: Man fängt automatisch eher an, auf die Qualität zu achten. Denn wer verzichtet, der erfährt immer auch etwas über das, was er gerade entbehrt, und kann es in Zukunft mehr schätzen und besser beurteilen.
Das müssen Sie genauer erklären ...
Ich sehe das so: Wer reden lernen will, sollte schweigen lernen. Wer Essen verstehen will, sollte auch mal fasten. Ganz praktisch: Wenn ich ein Genießer bin, dann muss ich das, was ich esse, immer wieder mal einschränken. Man kann gute Pralinen nur genießen, wenn man nicht zu viele davon isst. Ich kann eine Mahlzeit nur schätzen, wenn ich auch mal Hunger habe. Wenn man sich die Epikureer anguckt, kann man das lernen. Diesen antiken Philosophen wird ja nachgesagt, dass sie der Völlerei gefrönt hätten. Dabei haben sie das Gegenteil kultiviert: Sie haben die Form der Beschränkung so eingesetzt, dass sie ihren Genuss damit steigerten, die Auswahl der Speisen und die Menge so gewählt, das Essen ein Genuss war. Diese Art des bewussten Essens können wir im Alltag ausprobieren. (Siehe auch den Beitrag auf Seite 25.)
Sie deuten immer wieder an, wie wichtig Formen und Struktur für das Gleichgewicht unserer Psyche sind. Noch mal ganz konkret: Warum ist der Einfluss derartig groß?
Ein wichtiger Gedanke dazu stammt vom Zenmeister Christoph Hatlapa. Er sagte einmal sinngemäß: wenn wir stark sind, halten wir die Form; Wenn wir schwach sind, dann hält die Form uns. Damit ist gemeint, dass wir aktiv auf unsere Umgebung und unsere Umwelt einwirken sollten, um eine Form zu schaffen, die uns trägt. Das gibt Ruhe, Sicherheit, Freude, Schönheit und einen Halt in den Momenten, in denen wir vielleicht durch äußere Ereignisse ins Schlingern geraten. Umgekehrt lassen wir immer dann, wenn wir „schwach“ sind – also nicht darüber nachdenken, was für eine Form angemessen wäre –, zu, dass die Umstände uns formen. Wer beispielsweise nicht darüber reflektiert, wie er persönlich mit Fernsehen, Internet, Smartphone umgehen will, der gerät schnell in den Strudel dessen, was Norm ist. Und lässt sich leicht verleiten, viele Stunden vor den vermeintlich entspannenden Medien zu verbringen. Dass die Form uns im Griff hat, passiert natürlich immer mal wieder – aber es ist unheilsam. In der östlichen Philosophie denkt man über Schönheit ja generell anders als hier im Westen. Man sagt, dass das Gegenteil von „schön“ nicht „hässlich“ ist, sondern „böse“. Dementsprechend ist schön auch „heilsam“ und „gut für uns“. Letztlich ist nach dieser Lehre alles, was wir ästhetisch gestalten, eine Stärkung.
Ästhetisches Empfinden ist nicht jedem gegeben. Kann man dennoch zu Formbewusstsein finden?
Geschmäcker sind verschieden, das schon. Aber ich glaube, dass die meisten Menschen ein Gefühl dafür haben, was stimmig ist und was nicht, wenn sie sich dafür öffnen. Jeder hat Bereiche, in denen Stil und Struktur wichtig sind. Bei manchen ist es ein Hobby, eine Sammelleidenschaft. Andere sind im Beruf formvollendet, privat aber formlos. Stil ist also in manchen Bereichen da und in anderen tendenziell nicht.
Jeder macht sich den guten Stil also individuell so, wie er will?
Jedenfalls finde ich das Bewusstsein, dass die äußere Form einen Wert hat, viel wichtiger als die Frage, welcher Stil besonders schick ist. Mir geht es darum, dass jeder anfängt, die einzelnen Bereiche zu durchdenken und dann aktiv zu werden und die Dinge zu gestalten. Ich glaube, dass das, was dann dabei herauskommt, immer hochwertiger, schöner und auch wohltuender ist als die Form, die vorher war. Ich will aber keinen Stil vorgeben. Man kann sich im bürgerlichen, sportlichen oder subkulturellen Stil anziehen – wichtig ist, dass man sich Gedanken darüber macht, was man tragen möchte und was situationsangemessen ist.
An der Hochschule halten Sie mit Studierenden auch Seminare ab, in denen Sie sich mit Struktur, Stil und der Kunst der Beschränkung beschäftigen. Sie machen dort Übungen wie zum Beispiel, einen Tag ohne Handy zu gestalten. Wie nehmen die Studierenden das auf?
Ich bin großer Fan von solchen Übungen. Mich interessiert dabei aber nicht, ob sie wirklich gelingen oder nicht. Viele Studierende brechen den Offlinetag tatsächlich ab, manche kommen danach auch nicht mehr ins Seminar zurück. Doch ich glaube, dass immer, wenn man versucht, auf etwas zu verzichten, auch etwas Entscheidendes passiert: Man wird sich der eigenen Abhängigkeit bewusster – dessen, was uns unfrei macht. Manchmal kommt dann irgendwann später ein Punkt, an dem man nicht mehr akzeptieren will, dass man gebunden ist – und ändert etwas. Manchmal bekomme ich Jahre später Mails von Studierenden, die mir sagen: „Die Handyübung hab ich nie vergessen.“ Das finde ich gut. Dass wir in dem Seminar auch üben, neue Formen zu schaffen, nehmen viele positiv auf. Wir trinken grünen Tee, trinken ihn aus schönen Schalen. Diese Sorgsamkeit für die Dinge übernehmen viele, sie fällt oft leichter.
Teeschalen, Lebensmittel, Kleidung, Wohnungseinrichtung – definiert sich das alles nicht etwas zu sehr über Konsum und Dinge? Ist das nicht etwas viel „Haben“ und ein bisschen wenig „Sein“?
Mir erscheint die Trennung „Haben oder Sein“, die ja seinerzeit vom Psychoanalytiker Erich Fromm aufgestellt wurde, viel zu streng und auch nicht zutreffend. Ich finde, wir dürfen Dinge lieben, wir dürfen mit Besitz umgehen, dürfen auch „haben“. Und mir ist es auch wichtig, dass wir uns der Gestaltungskraft des Kaufens bewusst sind. Unsere Konsumentscheidungen haben immer auch einen Einfluss auf das Sein. Wer über Lebensmittel nachdenkt, ist schnell bei den schlechten Bedingungen der Massentierhaltung, wird dann vielleicht häufiger zu Bioprodukten greifen – und damit wiederum auf die Welt einwirken. Erst wenn wir auch im Haben eine wichtige Beziehungsform zur Welt sehen, nehmen wir die Dinge und damit die Umwelt wahr, achten mehr auf sie. Dann gestalten wir das Verhältnis zu den Sachen liebevoller.
Sie betonen aber dennoch, dass es so etwas wie Eigentum letztlich nicht gibt.
Ich glaube, dass wir auf die Dinge nur aufpassen. Sie sind Lebensabschnittspartner. Wenn wir sterben, kriegen unsere Sachen, unsere Häuser und unsere Autos andere Menschen. Ich mag diesen Gedanken und finde ihn tröstlich. Wenn wir das vor Augen haben, müssen wir auch nicht mehr alles selbst haben. Es hilft uns, mit Konsum gelassener umzugehen, uns letztlich weniger darüber zu definieren und dennoch verantwortlich mit den Dingen umzugehen. Und das halte ich für eine wünschenswerte Entwicklung.
Der Erziehungswissenschaftler Frank Berzbach unterrichtet Psychologie an der ecosign, Akademie für Gestaltung in Köln und Kulturpädagogik an der TH Köln. Sein neues Buch ist im Sommer 2016 erschienen und trägt den Titel Formbewusstsein. Eine kleine Vernetzung der alltäglichen Dinge (Verlag Hermann Schmidt).