Herr Schmidbauer, in Ihrem neuen Buch prägen Sie den Begriff „Helikoptermoral“. Was meinen Sie damit?
Kennzeichnend für die Helikoptermoral sind eine übersteigerte ängstliche Aufmerksamkeit und hastige Bewertungen ganz ohne Empathie und den Blick für die Zusammenhänge. Es entsteht eine Diskussion, die ohne Interesse am Verständnis eines Problems sofort die Bewertung parat hat, das schnelle dramatische Urteil. Die Anklage ist zugleich der Schuldspruch, der Ankläger wird zum Richter und Henker.
Woher kommt Ihr…
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Urteil. Die Anklage ist zugleich der Schuldspruch, der Ankläger wird zum Richter und Henker.
Woher kommt Ihr Interesse an diesem Thema?
Ich beschäftige mich schon lange mit der Tatsache, dass in Paarbeziehungen durch Bewertungen sehr viel Schaden entsteht. Und es ist mein Eindruck, dass es generell schwererfällt, Sachen unbewertet zu lassen. Das wäre aber in vielen Situationen das Konstruktivste: dass man erst einmal das Werturteil aufschiebt und versucht, den Kontext zu verstehen.
Und wie kommt der Helikopter ins Spiel?
Das ist abgeleitet von den Helikoptereltern. Hier hat sich diese Tendenz zuerst bemerkbar gemacht: dass man das Kind mit Bewertungen überversorgt, ihm vermittelt, die Eltern wissen in allem besser Bescheid. Und wenn das Kind nach den Bewertungen der Eltern funktioniert, dann wird schon alles gutgehen. Wenn etwas schlechtgeht, dann hat das Kind eben nicht nach den elterlichen Vorgaben funktioniert – und dann werden die Vorgaben intensiviert. Es wird nicht gefragt, warum etwas nicht funktioniert hat. Deswegen habe ich dem Buch diesen schönen Satz von Mark Twain vorangestellt: „Sobald wir das Ziel aus den Augen verloren haben, verdoppeln wir unsere Anstrengungen.“ Es wird ein Mangel wahrgenommen. Und je weniger man diesen Mangel versteht, umso intensiver wird er bewertet.
Sie führen Ihre Praxis schon sehr lange. Hat sich das über die vergangenen Jahrzehnte verändert?
Ja, die Helikoptereltern sind deutlich zahlreicher geworden. Da ist sehr, sehr viel Unbefangenheit verlorengegangen. Und parallel ist das gesellschaftliche Klima viel bewertungsfreudiger geworden. Das Motto „Leben und leben lassen“ verschwindet immer mehr.
Worauf führen Sie das zurück?
Es ist der Versuch, die Unübersichtlichkeit in der globalisierten Welt zu bekämpfen. Allerdings mit ungeeigneten Mitteln. Wir erleben eine ungeheure Aufregung, zumal in den Medien, um vielerlei Dinge, und gleichzeitig verschwinden die wirklich bedeutenden Zukunftsprobleme wie die Umweltproblematik oder die soziale Ungerechtigkeit aus dem Bewusstsein. Diese schwer zu bewältigenden, aber unglaublich drängenden Probleme werden verschleiert, indem man permanent die Gelegenheit zu einfachen Werturteilen produziert. So wird nach negativen Ereignissen fast schon ritualisiert nach der Verschärfung von Gesetzen gerufen. Als wenn schärfere Gesetze die Ursachen beseitigen könnten.
Sehen Sie darin eine Strategie?
Ja. Früher haben nur die geringgeschätzten bunten Blätter die Menschen mit Geschichten über die moralischen Verfehlungen Prominenter abgelenkt, heute sehe ich in einer immer breiter werden Palette von Medien immer weniger den Anspruch, einem Problem wirklich auf den Grund zu gehen. Vielleicht weil das so viel mehr Mühe machen würde. Stattdessen kommt man mit Bewertungen daher, die Klarheit vortäuschen, aber in Wahrheit den klaren Blick auf die Dinge verstellen.
Aber worin liegt die Motivation?
In einer grundlegenden Verunsicherung. Je komplexer die gesellschaftlichen Prozesse werden, desto größer wird das Bedürfnis nach einfachen Lösungen – auch wenn sie nur eine Illusion darstellen. Hier sind die Helikoptereltern ein gutes Beispiel: Sie versuchen, dem Kind eigene Erfahrungen zu ersparen, und verkennen, wie wertvoll die Erfahrung ist, wenn sich das Kind das Knie aufschlägt. Nur so kann es lernen aufzupassen.
Sie beschreiben, dass Angstabwehr eine zentrale Rolle spielt. Auf welche Weise?
Die Unübersichtlichkeit der gesellschaftlichen Prozesse steigert die Angstbereitschaft der Menschen. Das ist empirisch belegt. Die Bevölkerung, zeigen Umfragen, wird immer ängstlicher. Das Werturteil ist ein Mittel, Angst zu reduzieren.
Das heißt: Ich verstehe eine Sache nicht, aber wenn ich eine Haltung zu ihr habe, fühlt sie sich weniger bedrohlich an?
Genau. Indem ich etwas bewerte, kann ich es abhaken und muss mich erst einmal nicht mehr darum kümmern. Wobei dieses Verhalten die Dinge meistens eher verschlechtert.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Die Tochter kommt zu Besuch, und die Mutter hat Angst, weil die Tochter immer noch unverheiratet ist. Sie hätte aber doch so gerne Enkelkinder. Jetzt kann die Mutter über diese Angst reden. Das tun viele Menschen nicht gerne. Stattdessen sagt sie: „Du hast schon wieder zugenommen!“ Weil sie befürchtet, dass die Tochter keinen Mann findet, wenn sie nicht schlank genug ist, und dann auch keine Enkel kommen. Und sie muss als Mutter dafür sorgen, dass die Tochter das weiß und sich entsprechend diszipliniert ernährt. Tatsächlich fühlt die Tochter sich gekränkt und verunsichert. Und sucht womöglich, wenn das ihre Struktur ist, Trost im Essen.
Sie nennen den Narzissmus als zweiten wichtigen Aspekt der Helikoptermoral. Welchen Zusammenhang sehen Sie?
In der Bewertung steckt immer auch die Auffassung: „Ich weiß es besser.“ Oder gar: „Ich bin etwas Besseres.“ Und da ist es ganz gleich, ob mich die Sache etwas angeht oder nicht. Dadurch demonstriere ich meine eigene Überlegenheit, Stärke und Macht.
Wie stellt sich die unheilvolle Dynamik der Helikoptermoral in Paarbeziehungen dar?
Ein typisches Beispiel sind unterschiedliche Vorstellungen von Ordnung. Der Mann kommt nach Hause, zieht seine Sachen aus und lässt sie irgendwo liegen. Das stört die Frau. Sie möchte, dass er sie in den Schrank hängt oder wohin sie ihrer Meinung nach gehören. Sie sagt es ihm, erlebt aber am nächsten Tag, dass es wieder so ist. Dann sagt sie: „Du weißt doch genau, wie mich das stört.“ Und jetzt gibt es eine Entscheidung, wie das Paar diesen Konflikt weiterentwickelt: auf handwerkliche Weise oder mit Bewertungen, gleichsam perfektionistisch.
Was ist die handwerkliche Variante?
Das Paar lässt sich Zeit, den Dissens wahrzunehmen. Es gibt unterschiedliche Ordnungsvorstellungen bei beiden, aber das ist nun einmal so. Es hat mit dem anderen erst einmal nichts zu tun. Die Frau räumt für eine Weile diese Dinge, die sie stören, selbst weg oder fordert ihren Mann dazu auf. Wenn beide guten Willens sind, werden sie nach einer Weile eine Lösung für dieses Problem finden.
Und wie läuft es in der perfektionistischen Variante ab?
Dann empfindet die Frau das Verhalten ihres Mannes als narzisstische Kränkung. Wenn diese Kränkung zu stark wird, geht sie in die Bewertung: „Du bist ein Schlamper! Und jetzt werden wir doch mal sehen, ob ich dir das abgewöhnen kann.“ Das will der Mann nicht auf sich sitzen lassen und schlägt zurück: „Du bist zwanghaft, und ich will mal sehen, ob ich dir das abgewöhnen kann.“ Und so kommen die beiden in eine wirklich kritische Situation für ihre Partnerschaft. Sie sind gefährdet, sich gegenseitig zu entwerten. Dann ist es nicht mehr weit zu einer Haltung, die lautet: „Wenn du dich nicht änderst, dann kann ich dich nicht mehr lieben.“ Die Helikoptermoral in Liebe und Partnerschaft dramatisiert Versuche, den Partner in eine Rolle zu manipulieren, welche eigene Ängste lindert. Dadurch können diese Ängste verleugnet werden – nicht der moralisierende Partner ist ängstlich, das Gegenüber ist „nicht richtig“ oder „macht alles falsch“.
Welche Angst wäre hier eigentlich zu bearbeiten?
Derjenige, der die strikteren Ordnungsvorstellungen hat, vielleicht tatsächlich zwanghaft ist, empfindet das Verhalten des anderen als chronische Gefährdung. Er ist überzeugt, dass er im Sinne einer Welt, die er als richtig empfindet, dagegen vorgehen muss. Er fühlt sich bedroht. Und statt darüber zu sprechen, bewertet er und verhindert eine tragfähige Lösung für die Partnerschaft. Hier ist letztlich die Verbindung zu den vielen anderen Bereichen, in denen die Helikoptermoral großen Schaden anrichtet.
Sie schreiben, dass Helikoptermoral und Populismus eng verwandt sind. Ihr Buch ist zwar vor der Wahl von Trump entstanden, hat aber dadurch eine zusätzliche Aktualität bekommen.
Ja, was aktuell in Amerika passiert – aber auch wie wir in Deutschland darauf reagieren –, ist ein wunderbares Beispiel für dieses Phänomen. Die narzisstische Position wird ganz deutlich. Deswegen halte ich diese mediale Überreaktion für einen Fehler. Sie bedient ja gerade die Bedürfnisse des Narzissten. Ein Mensch wie Trump hat große Angst vor der Bedeutungslosigkeit und nimmt deswegen enorme Opfer auf sich. Die Energie, die er für diesen Wahlkampf brauchte, kommt meiner Meinung nach aus einer Transformation von Angst. Aber statt jetzt jeden seiner Tweets erregt zu diskutieren, ginge es meiner Meinung nach darum, die Debatte zu versachlichen. So wie es die Richter beim Einreiseverbot für die Bürger aus den sieben muslimischen Staaten gemacht haben. Sie schauen, ob das dem Gesetz entspricht, und entscheiden auf wohlabgewogener Basis. Das ist eine handwerkliche Herangehensweise.
Welche Rolle spielt das Internet für die Helikoptermoral?
Eine entscheidende. Jeder hat die Möglichkeit, mit seinen Werturteilen eine gewaltige Menge von Menschen zu erreichen. Das führt dazu, dass die Urteile immer schneller kommen, dass sie immer drastischer ausfallen müssen, um noch wahrgenommen zu werden. Das ist ja meine Hauptkritik daran: dass die Urteile so schnell fallen, ohne Blick auf den Kontext.
Es steckt also darin das Element der Eskalation.
Ich muss andere an Geschwindigkeit und Radikalität des Moralisierens übertreffen. Die Helikoptermoral trägt eine verborgene, paradiesbezogene Komponente in sich. Wer das Paradies vor Augen hat, den kümmert nicht, was er auf dem schnellsten Weg dorthin niedertrampelt.
Was ist aus Ihrer Sicht die richtige Position: Wir schauen uns das Problem jetzt erst einmal in Ruhe an, entscheiden nicht sofort, sondern bemühen uns um ein abgewogenes Urteil – was natürlich mehr Zeit benötigt?
Das ist die handwerkliche Herangehensweise. Es entsteht ein Raum, in dem Dinge noch erwogen werden können. Den engen Sie mit jeder Bewertung weiter ein, bis er sich dann schließt. Das geschieht heute oft viel zu schnell. Deswegen spielt die Angst hier eine so große Rolle. Sie lässt eigentlich nur die Wahl zwischen Angriff und Flucht. Da kommen Fremde in mein Dorf, und bevor die überhaupt kommen können, muss ich das Haus verbrennen, in dem sie sich niederlassen könnten. Die Bewertung, die vorausgegangen ist: Es ist schlecht, wenn Fremde kommen.
Was schlagen Sie stattdessen vor?
Ich kann mir eingestehen, dass ich gar nicht weiß, wie das mit den Fremden wird. Vielleicht wird’s schlecht, vielleicht wird’s auch gut. Vielleicht bringt der Neue, der da kommt, etwas mit, von dem ich profitieren kann. Vielleicht ist er produktiv und interessant. Aber vielleicht auch nicht. Ich weiß es nicht. Und durch ein moralisches Stigma, dass wir angeblich gerade „überfremdet“ werden, schließt sich dieser Raum der Möglichkeiten wieder. Die Art, wie Frau Merkel dieses Problem angegangen ist, ist in Ordnung. Ihre Sozialisation in der Naturwissenschaft mag ihr helfen. Der Naturwissenschaftler lernt ja, erst einmal nicht zu bewerten, sondern zu forschen, bis er mehr verstanden hat. Genau das versuchen der Psychotherapeut, der Analytiker oder der Coach auch: einen Raum zu schaffen, in dem wir ohne schnelle Bewertungen die Situation klären können, die Verteilung der Kräfte und die Bedürfnisse.
Und das hält der Ängstliche nicht aus.
Der muss immer schnell seine Kompetenz und seine Macht beweisen, zeigen, dass er alles im Griff hat. Wenn er allerdings mit seiner Angst bewusst umgeht, können Lösungen wachsen. In der Analyse wird dieser Raum, über den wir gerade sprechen, mit dem Dichter John Keats verbunden. Der hat gesagt, dass große Dichter wie Shakespeare es verstehen, die verschiedensten Emotionen in einem Raum darzustellen, ohne eine vorschnelle Entscheidung herbeizuführen. Diese negative capability bezeichnet die Fähigkeit zu akzeptieren, dass nicht jeder komplexe Sachverhalt aufgeklärt werden kann.
Das geht im moralischen Aktionismus verloren.
Hier denkt man, man müsse schnell zu einer Bewertung kommen, radikal entscheiden – und wer das nicht macht, der sitzt das Problem aus. Das ist heute zu einer echten Killerphrase geworden. Zumal in einer Zeit, in der sich der Neuigkeitswert einer Nachricht unglaublich schnell abnutzt.
Wie kommen wir hinter diesen Punkt zurück? All diese Phänomene scheinen so unausweichlich.
Das sind sie nicht. Es geht um Sorgfalt. Und um Innehalten. Fragen wir uns doch erst einmal, ob wir wirklich etwas verändern müssen. Häufig kämpfen wir mit den Werkzeugen des Perfektionismus gegen unsere Ängste und multiplizieren sie auf diese Weise. Tragödien ereignen sich, sie sind unzweifelhaft eine Zumutung für die Betroffenen. Und es gibt nicht immer eine Heilung dafür. Das wird heute oft verleugnet. Die Idee allerdings, es könnte doch eine Heilung geben, schafft neue Verletzungen.
Was setzen Sie dagegen?
Ein Gegenpol der Helikoptermoral ist die Zivilcourage. Das gilt nicht zuletzt für meinen eigenen Berufsstand. Wir sollten unabhängig von moralischen Zuschreibungen anderer das tun, was wir für richtig halten. Ich sehe in der Psychotherapie die gefährliche Tendenz, sich gegen Anwürfe von außen, gegen Helikoptermoralisten juristisch abzusichern. Im Umgang mit den Bedürfnissen kranker Menschen widersprechen sich Justiz und Psychologie aber dramatisch. Die Rechtsprechung geht von einem mündigen Bürger aus, dessen Interessen geschützt werden müssen, indem er vor der Entscheidung für eine bestimmte Behandlung über alle Risiken und Nebenwirkungen aufgeklärt wird. Die emotionale Situation eines Patienten ruft aber nach einem Helfer, der weiß, was er tut, und die Verantwortung für die vorgeschlagene Kur übernimmt. Ohne Zweifel an ihr zu wecken und Ängste zu säen. Ich finde, das sollten wir aushalten können.
Wolfgang Schmidbauer arbeitet als Psychoanalytiker, Familientherapeut und Autor in München. Er ist seit September 1977 Autor von Psychologie Heute. Sein Thema damals: „Unsere kranken Therapeuten“.
Wolfgang Schmidbauers aktuelles Buch Helikoptermoral. Empörung, Entrüstung und Zorn im öffentlichen Raum ist soeben im Hamburger Murmann-Verlag (kursbuch.edition) erschienen.