Genie mit Methode?

Vor gut 100 Jahren brach ein Wunderkind namens William James Sidris alle Bildungsrekorde. Lag es an der Erziehungsmethode seines Vaters?

So etwas wie an jenem Januartag im Jahre 1910 hatte man selbst an der altehrwürdigen Harvard University noch nie erlebt: Ein elfjähriger Junge in kurzen Hosen tritt im Harvard Math Club vor die besten Mathematiker der Eliteuniversität, um ein Referat über die Geometrie der vierten Dimension zu halten. „Das Thema ist von großer Bedeutung, wenn es darum geht, einige der schwierigsten geometrischen Probleme zu lösen. Eine gründliche Durchdringung der Materie könnte das gesamte Fach der Geometrie…

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der Materie könnte das gesamte Fach der Geometrie revolutionieren“, wird der blutjunge Referent anderntags in der New York Times zitiert. „Nach dem Vortrag“, berichtet der staunende Reporter, „wurde das Wunderkind von Professoren und anderen Zuhörern umringt, die ihm Fragen stellten und ihn baten, die schwierigeren Teile seiner Theorie nochmals zu erläutern.“

William James Sidis, so der Name des extrem Frühbegabten, ist zu diesem Zeitpunkt bereits eine kleine Berühmtheit. Schon einige Monate zuvor – er war gerade zum jüngsten Harvard-Studenten aller Zeiten geworden – hat die amerikanische Presse ausführliche Porträts über ihn veröffentlicht. Die Mathematik ist sein größtes, aber beileibe nicht sein einziges Talent. Ob Fremdsprachen, Medizin, Naturwissenschaften, Geschichte oder Philosophie – der kleine Billy weiß alles, kann alles, saugt alles in sich auf. Die sieben Jahrgangsstufen der elementary school hat er in sieben Monaten durcheilt, für die Highschool braucht er nur drei.

Bei 250 oder gar 300 lag sein Intelligenzquotient angeblich, weshalb er bis heute immer wieder als intelligentester Mensch aller Zeiten bezeichnet wird. Allerdings taucht dieser astronomisch hohe Wert zum ersten Mal in einem Artikel auf, der zwei Jahre nach seinem Tod erschienen ist; es gibt keinen verlässlichen Hinweis darauf, dass er jemals einen Intelligenztest absolviert hat. Nicht immer lässt sich bei William James Sidis zuverlässig auseinanderhalten, was wahre Lebensgeschichte und was Legende ist.

„Ihr jämmerlichen College-Eulen“

Unbestreitbar ist, dass der „Wunderjunge von Harvard“, wie die Zeitungen ihn 1910 nennen, überragende Geisteskräfte besitzt. Niemand zweifelt damals daran, dass aus ihm einmal einer der größten Gelehrten des zwanzigsten Jahrhunderts werden wird. Am wenigsten sein Vater Boris. Er wird nicht müde, öffentlich bekanntzugeben, was hinter Billys spektakulärer Entwicklung stehe: eine spezielle Erziehungsmethode, die er selbst entwickelt habe. Sie sei – sein Sohn liefere den unwiderlegbaren Beweis – ungleich erfolgreicher als die Pädagogik, die an den öffentlichen Schulen praktiziert wird. Mehr noch: So gut wie jedes Kind könne ein Genie werden, man müsse es nur nach den Prinzipien der „Sidis-Methode“ erziehen.

Das amerikanische Schulwesen um die vorletzte Jahrhundertwende ist im Wesentlichen nach preußischem Vorbild organisiert. In sogenannten factory model schools werden die Kinder mit Wissen angefüllt, als ginge es um die Herstellung von gleichförmigen Fabrikwaren: Alle müssen dem gleichen Frontalunterricht lauschen. Der Stoff wird weniger durch eigenständige kreative Arbeit erlernt als stur auswendig gebüffelt. Strenge Disziplin in der Klasse ist oberstes Gebot und wird notfalls mit dem Rohrstock erzwungen. Ziel ist nicht Bildung als Wert an sich, auch nicht die Herausbildung einer selbständigen Persönlichkeit oder gar kritisches Denken, sondern die Zurichtung des Individuums auf die Bedürfnisse des Arbeitsmarkts einer Industriegesellschaft. All das ist Boris Sidis ein Graus.

1911, als der Rummel um seinen Sohn seinen Höhepunkt erreicht, veröffentlicht er ein Buch – oder besser gesagt eine Kampfschrift – mit dem Titel Philistine and Genius (auf Deutsch etwa: Die Spießer und das Genie). Hemmungslos beschimpft er das bestehende Schulsystem und seine Vertreter: „Das treudoofe Schulfräulein, der fette Bonze im Direktorensessel, der vertrocknete Pädagoge mit der Spießermoral, der kleingeistige Bürokratenschädel – sie alle haben sich als unfähig erwiesen, ihre einzige Aufgabe, die Bildung unserer Jugend, anständig zu erfüllen. Ihr jämmerlichen College-Eulen, akademisches Federvieh, altersschwache Fledermäuse in morschen Schulgemäuern – die Kraft des hellen Sonnenlichts erfüllt euch mit Panik.“ Im harschen Kontrast dazu beschreibt er seinen Sohn, ohne ihn beim Namen zu nennen, in den rosigsten Farben. „Mit zwölf Jahren besucht er, während seine Altersgenossen mit Mühe lesen und schreiben können und ein erbärmliches, geistfernes Dasein am Rockzipfel irgendeiner altertümlichen Schulmamsell fristen, mit großem Gewinn die anspruchsvollsten Kurse in Mathematik und Astronomie, die eine unserer führenden Universitäten anbietet. Zugleich ist er von ausgesprochen heiterem Gemüt und strotzt förmlich vor guter Laune und Lebensfreude.“

Das Vorbild William James

Boris Sidis kann damit rechnen, dass seine Worte Beachtung finden. Er hat sich im Amerika jener Tage auch als Leiter des Sidis Psychotherapeutic In­stitute einen Namen gemacht, eines der ersten psychotherapeutischen Sanatorien der Welt. Außerdem hat er zwei Doktortitel aus Harvard in der Tasche, einen in Medizin, den anderen in der damals noch jungen Disziplin Psychologie. Sein Doktorvater ist kein Geringerer als Professor William James, der berühmte Philosoph und Nestor der amerikanischen Psychologie. Die beiden schätzen sich und stehen sich intellektuell nahe. Unter anderem verbindet sie der Gedanke, dass die allermeisten Menschen nur einen kleinen Teil ihrer geistigen Kapazität nutzen. Wem es gelinge, eine Schranke im Kopf zu überwinden, dem stehe ein Reservoir zusätzlicher Kräfte zur Verfügung. William James spricht vom „zweiten Wind“, Boris Sidis von „verborgenen Energien“. Einen zuverlässig erreichbaren Zugang zu diesem Extrapotenzial kennen sie nicht, aber ihnen ist klar: Sollte er gefunden werden, würde die Menschheit schlagartig einen gewaltigen Entwicklungssprung machen. Die Vermutung, dass sein Billy deshalb schier Unglaubliches leistet, weil er aufgrund seiner Erziehung imstande ist, seine „verborgenen Energien“ zu nutzen, ist für Boris naheliegend. Er wähnt sich einem Geheimnis auf der Spur, das die Welt verändern könnte.

In seiner Dissertation (The Psychology of Suggestion) und seiner übrigen wissenschaftlichen Arbeit versucht Boris Sidis, Licht ins Dunkel des Unterbewussten zu bringen. Er beschäftigt sich mit Phänomenen wie Persönlichkeitsspaltung, Suggestion und Hypnose und entwickelt ein eigenes Modell des menschlichen Bewusstseins. Eine zentrale Rolle spielt dabei der von ihm geprägte Begriff des subwaking self. Nach Boris’ Vorstellung handelt es sich dabei um einen zweiten Bewusstseinszustand, der unterhalb des wachen, vernunftgeleiteten Selbst liegt. Durch Hypnose, so Boris, lasse sich der kontrollierende Verstand, der im normalen Wachzustand das Ich leitet, paralysieren, wodurch ein Zugriff auf das subwaking self ermöglicht werde. Dieses reagiere stark auf suggestive Botschaften, so dass der Hypnotiseur ihm Anweisungen geben und somit das Verhalten des Behandelten grundlegend und dauerhaft verändern könne. Auf diesem Konzept beruht auch die Therapiemethode, nach der Dr. Dr. Boris Sidis in seinem Privatsanatorium auf einem prächtigen Anwesen in Portsmouth, New Hampshire seine überwiegend wohlhabenden Patienten behandelt. Der Klinikprospekt verspricht Linderung bei allerhand Störungen, darunter solche „des Gedächtnisses und des Geistes, Willensschwäche, alle Arten von Zwangsvorstellungen, Angstzuständen und Phobien“.

Beide Eltern sind hochbegabt

Mindestens so wichtig wie die Heilung psychischer Erkrankungen ist Boris Sidis alles, was mit Bildung und Erziehung zu tun hat. In seiner Geburtsstadt, dem ukrainischen Berdytschiw, gründet er schon als Jugendlicher eine Sonntagsschule, in der er der Landbevölkerung kostenlos Lesen und Schreiben beibringt. Doch die Regierung des Zarenreichs hat Angst vor gebildeten Untertanen, die fähig sind, ihr Schicksal in die eigene Hand zu nehmen. Sie beendet das idealistische Projekt auf brutale Weise. Boris verbringt zwei Jahre in einem Polizeigefängnis und rettet sich mit knapper Not nach Übersee. Allein und mittellos landet er 1886 in Manhattan, im Herzen die flammende Überzeugung, dass bestmögliche Bildung größtmögliche Freiheit und Glück bedeutet.

Folgerichtigerweise besteht einer der ersten Jobs, mit denen er sich in Amerika über Wasser hält, darin, anderen Immigranten Englisch beizubringen. Eine seiner Schülerinnen, Sarah Mandelbaum, aus der Ukraine ausgewandert und jüdisch wie er, erweist sich als besonders ehrgeizig. Obwohl sie nie eine Schule besucht hat, bringt Boris sie so weit, dass sie als eine der ersten Frauen in Amerika überhaupt ein Medizinstudium mit Promotion abschließt. Zudem wird sie seine Frau. Aus der Ehe geht 1898 ein Sohn hervor. Professor William James wird nicht nur dessen Patenonkel, sondern auch sein Namensstifter – womit wir wieder bei William James Sidis wären, dem „Wunderjungen von Harvard“.

Von Geburt an wächst der kleine Billy inmitten der intellektuellen Elite Amerikas auf. Ohne Übertreibung lässt sich sagen, dass er in den ersten Lebensjahren von mehr Universitätsprofessoren als gleichaltrigen Spielkameraden umgeben ist. Außerdem sind allem Anschein nach beide Elternteile selbst hochbegabt. Dass diese Faktoren zu Billys Ausnahmeentwicklung zumindest beigetragen haben könnten, hält sein Vater Boris aber für ausgeschlossen. Schon zu einer Zeit, in der es den Begriff noch gar nicht gibt, denkt er wie ein Behaviorist. Für ihn ist Intelligenz nichts Naturgegebenes, das durch Vererbung weitergegeben wird und mit dem der eine mehr, der andere weniger ausgestattet ist, sondern einzig und allein das Ergebnis von Erziehung, und zwar im Idealfall von einer, die gar nicht intensiv genug sein und mit der man nicht früh genug beginnen kann.

„Die Vorstellung, dass man das Gehirn eines Kleinkindes ruhig brachliegen lassen dürfte“, erklärt Boris 1910 in einem Interview mit dem American Magazine, „ist vollkommen falsch und verderblich. Ein Kind ist im Grunde genommen ein Denk-Tier. Keine Kraft der Welt kann es davon abhalten zu denken, seinen Verstand zu benutzen. Wenn man es damit jedoch allein lässt, werden seine Beobachtungen ungenau und seine Schlussfolgerungen fehlerhaft sein. Tatsächlich erreicht man die besten Resultate, wenn man die Grundlagen des korrekten Denkens mit ihm einübt, sobald es zu sprechen anfängt oder sogar noch früher. Es besteht keine Gefahr, dass sein Gehirn überlastet werden könnte. Im Gegenteil, es wird entwickelt und gestärkt.“

Herzensbildung fehlt

Kein Wunder, dass Boris Sidis sich gegen den Vorwurf verteidigen muss, er habe Billy immer nur zum Büffeln angetrieben, anstatt ihn frei spielen zu lassen. Er betont: „Das Problem ist, dass Eltern ihre Kinder vernachlässigen und ihnen erlauben, ihre Energien zu verschwenden. Damit meine ich ganz und gar nicht, dass Kinder nicht spielen dürften. Mein Junge spielt sehr wohl – er spielt mit seinen Spielsachen, und er spielt mit seinen Büchern. Das ist der Kern der Sache: Bringt eure Kinder dazu, dass sie sich so sehr fürs Lernen interessieren, dass das Lernen und Spielen für sie ein- und dasselbe ist. Sagt mir nicht, dass das nicht geht. Ich habe bewiesen, dass es geht.“

Einen präzisen Werkstattbericht darüber, wie er bei Billys Erziehung vorgegangen ist, hat Boris nicht hinterlassen und auch keine Anleitung für Eltern zur Herstellung ihres eigenen Genies. Die „Sidis-Methode“ ist keine Lerntechnik, sondern eher eine Sammlung von Ideen, Prinzipien und goldenen Regeln zum richtigen, das heißt für Boris: maximal lernförderlichen Umgang mit Kindern. „Vermeiden Sie Bestrafung in jeglicher Form. Sie ist die Hauptursache von Angst.“ „Erwecken Sie Neugier – sie ist der Schlüssel zum Lernen.“ „Weisen Sie Ihr Kind niemals zurück. Lassen Sie seine Fragen nie unbeantwortet.“ „Setzen Sie ihm Ideen bevorzugt zur Bettzeit in den Kopf, unmittelbar vor dem Einschlafen. Suggestionen werden dann besonders fest im Kopf verankert.“ Diese Grundsätze zeigen, dass Boris Sidis sich nicht zu Unrecht als pädagogischer Modernisierer ausgegeben hat. Anders als der Mainstream seiner Zeit hält er Wissen nicht für einen Stoff, der den Kindern notfalls mit Gewalt eingetrichtert werden muss, sondern für etwas Lebendiges, Bewegliches, das sich jedes Kind freiwillig und freudvoll selbst aneignet, wenn die Erwachsenen ihm die richtigen Angebote machen. Man könnte ihn als einen Vordenker der antiautoritären Erziehung bezeichnen. Indem auch seine Beschäftigung mit Suggestion und Hypnose in sein Konzept eingeflossen ist, nimmt er zudem Ideen vorweg, die Jahrzehnte später unter Begriffen wie Suggestopädie oder Superlearning Verbreitung gefunden haben.

Wie sah der Erziehungsalltag im Hause Sidis konkret aus? Aus den Lebenserinnerungen von Sarah, die das Vorgehen ihres Mannes von Anfang an unterstützt und mitgetragen hat, ergibt sich ein Bild. „Das ganze Geheimnis von Billys Erziehung liegt darin, dass wir ihm früh die Liebe zum Lernen eingepflanzt haben“, schreibt Sarah. Und: „Er sollte sich von Anfang an wie ein Erwachsener fühlen.“

Mit „dämlichen Spielchen“ und „Altweibermärchen“ verschwenden seine Eltern keine Zeit. Zudem findet sich nirgends ein Hinweis darauf, dass zu ihrem Lernprogramm auch Herzensbildung und die Einübung sozialen Verhaltens gehören. Das ist wohl der größte Fehler der „Sidis-Methode“. Er wird sich Jahre später bitter rächen.

Aristoteles im Vorschulalter

Seine erste klassische Bildung bekommt Billy dagegen schon in der Wiege vermittelt, indem Boris und Sarah ihm Texte aus der altgriechischen Mythologie vorlesen. Als er zwei ist, schenken sie ihm einen Eimer mit Buchstabenklötzchen, mit deren Hilfe er Lesen und Schreiben lernt, lange bevor seine Hände kontrolliert mit einem Stift umgehen können. Mit den strengen Regeln der aristotelischen Logik wird der Junge im Vorschulalter vertraut gemacht; sie sollen ihm dabei helfen, folgerichtige von irrigen Gedankengängen zu unterscheiden. Überhaupt legt man im Hause Sidis höchsten Wert auf rationales Denken.

Wenn es darum geht, Fremdsprachen zu lernen – laut Sarah beherrschen Boris und Billy mehrere Dutzend und benötigen eine Woche, um sich eine neue anzueignen –, werden Wortstämme analysiert, grammatische Strukturen untersucht und linguistische Vergleiche mit anderen Sprachen angestellt. All das war, wie Sarah beteuert, für Billy ein Spiel und „großer Spaß“.

Das legt eine Vermutung nahe, die Boris Sidis mit Sicherheit brüsk zurückgewiesen hätte: Anscheinend ist die Geschichte von William James Sidis nicht nur die eines extremen Erziehungsexperiments, sondern auch die eines extrem begabten Kindes, das sich als Proband ideal eignete und möglicherweise auch unter gewöhnlicheren Umständen genialische Züge entwickelt hätte. Damit dürfte eine Erklärung gefunden sein, weshalb die „Sidis-Methode“ kein zweites Mal zu einem vergleichbaren Ergebnis geführt hat. Bereits Billys zwölf Jahre jüngere Schwester Helena wurde weit weniger intensiv erzogen. Die Gründe dafür sind nicht genau bekannt. Fest steht nur, dass Helena Sidis eine recht konventionelle, unauffällige Karriere als Sozialkundelehrerin machte.

Ihr berühmter Bruder William, dessen soziale Kompetenzen zeitlebens weit hinter seinen intellektuellen Fähigkeiten zurückstehen, wird indes mit zunehmendem Alter seiner Rolle als öffentlich begafftes Genie mehr und mehr überdrüssig. Als junger Erwachsener weigert er sich, noch länger die Werbefigur für die Erziehungstheorien seines Vaters zu mimen. Stattdessen beginnt er, sein Leben nach eigenen Vorstellungen zu gestalten. Und das hat nichts mit der akademischen Musterkarriere zu tun, die seine Eltern und die amerikanische Öffentlichkeit von ihm erwartet haben.

Geistig ausgebrannt?

Angewidert von einer Gesellschaft, in der sich alles ums Geld dreht, und insbesondere entsetzt über einen Staat, der Millionen junge Männer zwangsweise in den Weltkrieg schickt, zieht sich William immer mehr in sich selbst zurück. Er bricht den Kontakt zu seinen Eltern ab und schlägt sich über seine gesamte zweite Lebenshälfte hinweg – er stirbt 1944 mit 46 Jahren an den Folgen eines Hirnschlags – als Eigenbrötler mit einfachen, schlecht bezahlten Hilfsarbeiten durch. Seine Intelligenz ist ungebrochen, aber er nutzt sie nur noch für sich selbst. Er schreibt Unmengen von Abhandlungen über verschiedenste Themen, von der Geschichte der amerikanischen Ureinwohner bis zum Aufbau des Universums. Das Wenigste davon wird gedruckt.

Die zeitgenössische Presse hat für die Verwandlung ihres einstigen Lieblings nur eine Erklärung parat: Er muss geistig ausgebrannt sein. Die Hauptschuld daran gibt sie der „Sidis-Methode“, die sie wenige Jahre zuvor noch als pädagogisches Wundermittel gefeiert hatte. Dass es weit mehr als nur eine einzige Versuchsperson gebraucht hätte, um deren Vor- und Nachteile beurteilen zu können – auf diesen Gedanken kommt anscheinend niemand. Der Name Sidis ist kompromittiert und geht in der Geschichte weitgehend unter.

Daran hat sich bis heute wenig geändert. Es gibt unzählige Montessorikindergärten und Waldorfschulen, beide auf Reformkonzepte zurückgehend, die etwa zur gleichen Zeit entstanden sind, aber keine Sidiskitas. Gäbe es sie, wie sähen sie aus? Für heutige Augen wohl gar nicht einmal so ungewöhnlich – zumindest wenn wir davon ausgehen, dass die überzogenen Erwartungen, die Billys Entwicklung geweckt hatte, im Laufe der Zeit ohnehin relativiert und die hyperintensive Totalförderung auf ein gemäßigteres Tempo zurückgefahren worden wäre.

Was übrig bleibt, sind Grundgedanken, die in abgemilderter Form längst in die pädagogische Praxis eingegangen sind. Auch wenn in heutigen Schulen der Lehrervortrag nach wie vor die vorherrschende Unterrichtsform ist – die autoritären Paukanstalten, gegen die Boris Sidis seinerzeit so vehement kämpfte, sind glücklicherweise passé. Dass Früherziehung lange vor Schuleintritt Kindern einen Entwicklungsvorsprung verschafft, ist uns ein wohlvertrauter Gedanke, fast eine Selbstverständlichkeit geworden. Dass spielerisches Lernen effektiver und für das Seelenleben des Kindes gesünder ist als ein rigides System aus Befehl und Gehorsam, ebenfalls. Und dass körperliche Züchtigung in der Kindererziehung nichts verloren hat, sowieso. Deshalb lautet die Pointe der Geschichte: Boris Sidis und seine „Sidis-Methode“ sind zwar weitgehend vergessen. Trotzdem haben sie sich in den vergangenen hundert Jahren in wesentlichen Zügen durchgesetzt. PH

Klaus Cäsar Zehrer ist promovierter Kulturwissenschaftler und arbeitet als Journalist und Autor in Berlin. Sein erster RomanDas Genie (Diogenes, 2017) behandelt die Lebensgeschichte von William James Sidis und die „Sidis-Erziehungsmethode“

Schwarzweiß-Foto zeigt William James Sidis
Vater mit Anspruch: Boris Sidis zog seinen Sohn gerne als Beweis für seine Thesen heran

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 6/2018: Diese Wohnung tut mir gut!