Herr Professor Selke, einer meiner Freunde misst täglich über eine Smartphone-App, wie viele Schritte er geht. Um was für sein Herz zu tun. Ist das nicht toll?
Das habe ich auch mal gemacht. Aber dann habe ich mir gedacht: Junge, das bringt’s doch nicht! Du hast den Wald vor der Tür! Geh einfach raus! Um das zu schaffen, musst du doch keine Schritte zählen! Das, was körperlich und psychisch an Bewegung guttut, ist völlig unabhängig von solchen Schrittzählern.
Aber Sie können verstehen, warum das Leute tun?…
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guttut, ist völlig unabhängig von solchen Schrittzählern.
Aber Sie können verstehen, warum das Leute tun? Das kann motivieren!
Klar weiß ich das. Das ist ja einer der meistgenannten Gründe bei diesen Fitness-Trackern: den inneren Schweinehund zu überwinden. Neben der sozialen Leistungsschau, die man damit betreiben kann. Aber dann ist die Frage: Was ist das für ein Persönlichkeitstyp, der sich damit motivieren lässt? In welches Gesamtbild passt das rein? Warum brauchen wir so einen unmittelbaren Feedbackkanal? Diese digitalen Heinzelmännchen bieten etwas, was in unserer von Anonymität und Ignoranz durchzogenen Welt nur bedingt üblich ist. Viele Leute bekommen im täglichen Leben gar keine Rückmeldung, ob sie gut oder schlecht sind, ob man sie mag oder nicht mag. Und plötzlich gibt es Geräte, die sagen einem: Du bist gut! Du wirst besser! Verständlich, dass das Spaß macht und als motivierend empfunden wird. Dass diese Art des Lifelogging schon heute so viele Leute nutzen, sagt auch etwas über unsere Gesellschaft aus.
Wie hängt der präventive Gedanke des Lifelogging mit der zunehmenden Individualisierung von Gesundheit zusammen?
Soziologisch gesehen perfektioniert Lifelogging die Ideologie der Prävention, die Individualisierung der Verantwortung für den eigenen Körper, für den eigenen Gesundheitszustand. Das ist ein Bild von Körper und Gesundheit, das sich in der Postmoderne allmählich gebildet hat. Krankheit ist demnach kein Schicksal mehr, sondern wir sind selbst dafür verantwortlich und Manager unseres Körpers. Aber Prävention ist mehr, als sich an ein paar Zahlen zu orientieren. Prävention ist etwas Ganzheitliches, zu dem viele Faktoren gehören: Wie viel Stress ich habe, was mir an Leistung am Arbeitsplatz abverlangt wird und so weiter. Bei Lifelogging besteht immer die Gefahr, sich auf zu wenige Aspekte zu intensiv zu fokussieren und damit auch ein verzerrtes Bild von sich selbst zu zeichnen. Das hat nur bedingt etwas mit Prävention zu tun, sondern eher mit der Gefahr der Hypochondrie, der Überdiagnose.
lst diese Art des Lifelogging also viel zu simpel gestrickt?
Ja. Vor allem wird der Körper nur noch als Rohstoff gesehen, den man formen kann. Da steckt ja mehr als die Idee des Messens dahinter. Messen heißt auch immer: formen und vergleichen. Der soziale Vergleich ist da implizit drin. Der Ausgangspunkt ist, sich klarzumachen, dass diese Daten niemals nur beschreibend sind, sondern normativ. In diesen Daten stecken immer Erwartungen. Damit ich eine Aussage kriegen kann, muss ich sie vergleichen. Und um es vergleichen zu können, brauche ich eine Benchmark, ein Mittelmaß, eine Norm. Und damit haben Sie immer eine soziale Komponente.
Entsteht damit nicht automatisch eine Hierarchie?
Ja, man muss sich einordnen in eine Hierarchie, die zwei Pole hat: gut und schlecht. Ein Mittelwert macht bloß Sinn, wenn es oberhalb und unterhalb dieses Mittelwerts Messpunkte gibt. Und da ist die ganze Diskussion um Lifelogging total blind. Da wird immer nur von denen gesprochen, die oberhalb des Mittelwertes sind, die sich verbessern. Und die unterhalb des Mittelwerts landen, aus welchen Gründen auch immer, Menschen, die ich digitale Versager nenne, über die wird nicht gesprochen. Mit solchen Mittelwertvergleichen entstehen automatisch Menschen, die dem nicht Genüge leisten können oder wollen. Und die werden mit Sicherheit nicht gelobt, sondern in irgendeiner Weise sozial deklassifiziert.
Was wird von den Daten „sinnlich“ erfahrbar?
Ich glaube, das ist genau das Problem, dass Lifelogging nicht auf einer sinnlichen Ebene läuft, sondern auf einer verzweckten, sachlichen Ebene. Es können eben nur die Dinge gemessen werden, die man irgendwie operationalisieren kann. Es ist eine Überfokussierung auf das Messbare. Das Nichtmessbare– latente Dinge wie Wünsche, Träume, Ängste, emotionale Zustände – das bleibt verborgen. Der Mensch wird reduziert. Zu einer Maschine, die bestimmte Outputs ausspuckt, die man abgreifen kann. Der Mensch ist aber komplexer, sodass das nur ein Ausschnitt unserer Realität ist, der versachlichte Teil. Was versprechen denn die Gurus des Lifelogging ihren Jüngern?
Verbesserung durch Vermessung, dadurch mehr Gesundheit, bessere Lebensplanung, bessere Work-Life-Balance, höhere Produktivität und letztlich auch eine umfassendere Erinnerung an das eigene Leben. Bis hin zu einer Art gefühlter Unsterblichkeit. Die digitale Selbstverdatung und exzessive Selbstvermessung soll das eigene Leben noch perfekter, stromlinienförmiger und effizienter gestalten. Die Lebensoptimierung basiert dabei auf der genauen Kenntnis der Fakten. Durch eine Analyse von Mustern und Strukturen in den Aufzeichnungen wollen die Lifelogger eigene Schwächen entdecken und beheben. Lifelogging böte demnach die Möglichkeit, nach Zusammenhängen zwischen Ereignissen und Erfahrungen im eigenen Leben zu suchen. Das Ergebnis dieser Analysen sind sogenannte Häufigkeitsverteilungen und Relationen, die sich visuell darstellen lassen.
Ist diese Technik nicht auch ein ideales Spielzeug für den Egozentriker unserer Tage? Die Leute der sogenannten Generation Ich?
Das wäre jetzt eine Bashing-Perspektive. Nach der Devise: Das sind alles Nerds und Egozentriker, die das machen. Das stimmt in der Breite so nicht, obwohl die Gurus dieser Bewegung tatsächlich so einen Ansatz haben: Es geht um mich selbst. Es ist ein Projekt der Persönlichkeitsveredelung. Die soziologische Erklärung von Lifelogging geht für mich aber mehr in Richtung „Regierung der Selbstregierung“, der Idee, dass in modernen westlichen Gesellschaften der Kontrollzwang von außen durch strikte Regierungen weggefallen ist, peu à peu. Viele Studien zeigen hingegen, dass der Kontrollzwang verinnerlicht wurde. Überall haben wir heute diese Selbstregierung und Selbstbewertung. Aber es geschieht jetzt auch digital auf eine Art und Weise, die viel tiefgreifender ist und die von einer fundamentalen Verunsicherung der Menschen ausgeht, die täglich sehen, dass äußere politische Krisen nicht oder kaum beherrschbar sind.
Wie setzt Lifelogging an diesem Prozess an?
Lifelogging versucht da, eine Art Deich zu bilden. Für mich sind diese Daten Deiche, die das Bedrohliche ein Stück weit draußen halten können und die einen Innenraum schaffen, der plötzlich beherrschbar ist. Und dann gibt es so eine Art Rückzug und Individualisierung von Krisenmanagement auf den Ort, den wir vielleicht beherrschen können: den eigenen Körper. Das eigene Leben. Und das potenziert das, was schon immer da war: die Neugier, die Selbstbeobachtung. Aber ich glaube nicht, dass das Narzissmus oder Egozentrik ist. Lifelogging ist so dermaßen durchschlagend, weil es auf diese Verunsicherung reagiert.
Dabei ist ja bisher nur das Fitness-Tracking die prägende Lifelogging-Form. Lifelogging soll aber auch und vor allem unsere Erinnerung, ja unsere persönliche Lebensgeschichte revolutionieren.
Das ist für mich der spannendste Aspekt.
Obwohl sich diese Art des Lifelogging noch im experimentellen Stadium befindet und noch relativ weit weg ist?
Ja, es gibt erst ein paar Leute, die sich eine Kamera um den Hals hängen, die mit einem Weitwinkelobjektiv ständig die Umgebung eines Menschen abbildet und die Fotos speichert. Bei der Verbildlichung des eigenen Lebens mit tragbaren Kameras besteht die Hoffnung darin, später in den gespeicherten Daten Muster zu erkennen. Damit soll sich das Leben ordnen und analysieren lassen.
Klingt irgendwie nach der Realisierung eines alten Menschheitstraums!
Das wohl, ja. Doch auch wenn wir von einem populären Einsatz dieser Art des Lifelogging noch viele Jahre entfernt sind, müssen wir uns klarmachen, was das bedeuten wird. Erinnerung ist eine anthropologische Universalie. Schon bei meinen Studien im analogen Leben habe ich festgestellt, dass Menschen sehr „kreativ“ sind im Umgang mit ihren Erinnerungen und ihren Gedächtnis-Assoziationen.
Klar, wir bauen uns aus unseren Erinnerungen unsere eigene Geschichte, das ist doch ein bekanntes Phänomen.
Und dabei spielen die Erinnerungslücken eine große Rolle. Wir schaffen uns eine Version von uns auf der Basis ausgewählter Erinnerungsspuren – bestimmter Objekte, Möbelstücke etwa. Oder bestimmter Lieder. Und natürlich bestimmter Fotos. Und jetzt kommen Lifelogging und dessen Gurus, die sagen: Man muss alles aufnehmen, damit wir immer wieder zurückgehen können zu bestimmten Punkten unseres Lebens. Damit ja nichts verlorengeht.
Was bedeutet das für uns und unsere Erinnerung?
Unsere Erinnerung ist niemals vollständig. Gerade diese Unvollständigkeit macht aber das Menschliche aus. Unsere Kultur beeinflusst, welche Erinnerungsspuren besonders herausgehoben sind. Die bekommen dadurch so was wie eine Aura. In analogen Erinnerungskulturen, zum Beispiel der Ära der Knipserfotografie, stand die subjektive Bewertung und Würdigung einer Situation am Ausgang des Erinnerungsprozesses. Fotografiert wird halt nur zu bestimmten wichtigen persönlichen Anlässen – Anlässen, die die Kultur als wichtig vorgibt. Die komplette Lückenlosigkeit des eigenen Lebens beim Lifelogging lässt aber keinen Freiraum mehr für diese kreative Umdeutungsarbeit zu. Für diese wunderbare Erzählform des Lebens. Für das Auslassen dunkler Stellen in unserer Biografie. Phasen, in denen wir uns vielleicht nicht so benommen haben, wie es den Normen entspricht, und so weiter. Eine digitale Welt, in der wir aus allen möglichen Perspektiven kompletten Zugang hätten zu allem, am besten noch mit Kontextdaten, würde uns keinen Interpretationsspielraum mehr lassen. Damit ginge eine sinnliche Dimension verloren. Denn Erinnerung ist etwas so zutiefst Sinnliches und Schönes und Menschliches, braucht aber gerade die Lücken. Wenn keine Lücken mehr da sind, was soll dann die Erinnerung sein? Dann ist es Dokumentation! Erinnerung wird dann industrialisiert!
Verändert sich dadurch auch unser Menschenbild?
Sicher. Vor dem Hintergrund von Lifelogging sollten wir diskutieren, welche Idee vom Menschen wir überhaupt haben. Was ist ein Mensch? Jetzt kann man die These wagen: Lifelogging setzt sich in den kommenden zehn bis 20 Jahren immer weiter durch – mit immer mehr Datenspuren aus immer mehr Lebensbereichen und so weiter. Dann wird sich auch die Idee des Selbst verändern. Wir hatten seit der Aufklärung die Idee eines autonomen Selbst. Also eines Selbst, das irgendwo einen Kernbereich hat, der geschützt ist, der nicht geknackt werden kann. Der so was wie eine Ich-Identität erzeugt oder zumindest eine Suggestion davon. Wenn wir aber umgeben sind von einer kompletten lückenlosen digitalen Aura, dann brauchen wir ein anderes Selbstkonzept. Dann sind wir ein Wesen, das mehr und mehr zu einem Objekt und einem Projekt wird.
Wir entscheiden dann als Subjekt gar nicht mehr, was wichtig ist?
Lifelogging bedeutet, dass der Akteur verschwindet, der bewusste Entscheidungen darüber trifft, welche Daten für später konserviert werden sollen. Eine subjektive Bewertung durch einen handelnden Menschen erfolgt nicht mehr. Kritisch gewendet lässt sich darin eine Form der Entfremdung und Entmündigung sehen: Der Mensch wird zum Datenlieferanten degradiert.
Auch Krankenkassen und Versicherungen könnten sich für solche Lifelogging-Daten interessieren – für die Erinnerungsdaten, wenn jemand öfter mal über die Stränge schlägt. Und auch für die Fitnessdaten. Müssen wir uns fürchten?
Wir sollten auf der Hut sein. Mittlerweile denken erste Versicherungen darüber nach, Daten zu Fitness, Ernährung und Lebensstil zu sammeln. Denkbar ist, dass damit in naher Zukunft diese Daten auch zur Erhöhung beziehungsweise Senkung von Beitragssätzen hinzugezogen werden, je nachdem ob die Aktivitätsspuren auf normkonformes gesundes oder unvernünftiges abweichendes Verhalten schließen lassen. Spätestens dann kommen konkrete ökonomische Nutzenerwartungen ins Spiel. Und Lifelogging passt sich in den allgemeinen Trend der Ökonomisierung des Sozialen ein. Die Ökonomisierung von Lebensdaten macht Menschen zur Ware. Aus einem Konsumenten wird selbst eine Ware. Das passiert schleichend. Und es wird zu Verwerfungen führen in unserer Gesellschaft. Ich weiß, das klingt utopisch und negativ, aber ich denke da in längeren Zeiträumen. Lifelogging hat die Kraft, die menschliche Existenz zu verändern.
Stefan Selke ist Soziologe und Professor für gesellschaftlichen Wandel an der Hochschule Furtwangen im Schwarzwald. Über seine Forschung informiert er unter www.stefan-selke.de.
Im nächsten Heft Teil 3 der Serie: Frank Luerweg beleuchtet die positiven Auswirkungen der Digitalisierung.