Lasst uns einen Bananenbaum umarmen!

Wenn Psychotherapeuten Menschen aus anderen Gegenden der Welt helfen, brauchen sie viel Einfühlungsvermögen und kulturelle Kenntnis. Was für Einheimische ein hilfreicher Rat ist, kann andernorts brüskieren

Mehr als 30 Jahre Krieg, Millionen Menschen traumatisiert und eine der höchsten Suizidraten weltweit. Die Menschen in Afghanistan sind gezeichnet von der Geschichte ihres Landes. Aber wenn sie zum Arzt gehen, gibt es für ihr Leiden oft keinen Namen und im besten Fall Schlaftabletten oder Schmerzmittel. Dabei wüssten Psychologen und Psychotherapeuten Hilfe. Sie können Depressionen, Traumata und andere seelische Beschwerden wie Angsterkrankungen erfolgreich behandeln.

„Doch die Lehre von den psychischen…

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erfolgreich behandeln.

„Doch die Lehre von den psychischen Erkrankungen und auch die Verfahren der Psychotherapie sind im Westen entstanden“, sagt Winfried Rief, Psychologe der Universität Marburg. Alle Konzepte stellen das Individuum und dessen Autonomieentwicklung ganz in das Zentrum der Therapie.

Kann man damit überhaupt Menschen anderer Kulturen helfen, in denen das Befinden oft ein Befinden in der Familie, im Kollektiv ist, in denen man nicht fragt, wie geht es dir, sondern wie geht es euch? Kulturen, in denen die Meinung vielleicht nicht rundheraus geäußert wird und Gefühle anders ausgedrückt werden. Man kann helfen, sagen zumindest die Vertreter der transkulturellen Psychologie. Aber ohne Anpassungen und ohne Sensibilität für die jeweilige Kultur ist es nicht möglich.

Verfolgt vom unsichtbaren Hund

Das fängt schon beim Problemverständnis an. Ein Beispiel: Ein Mann aus dem Nahen Osten erzählt in dem psychosozialen Beratungs- und Behandlungszentrum für politisch Verfolgte der Organisation Xenion in Berlin unter anderem von einem Hund, der ihn vor seinem Wohnheim angefallen habe. Doch im Heim hat das Tier niemand gesehen. Der Mann will sich das Leben nehmen und leidet schwer.

Man könnte ihm Wahnvorstellungen und letztlich eine Psychose unterstellen. „Man muss genau zuhören, um überhaupt erst einmal das Problem zu verstehen. Das klingt so einfach, ist es aber nicht“, sagt Zorica Eterović, Psychotherapeutin bei Xenion. Sie erfuhr so, dass der Flüchtling aus dem Nahen Osten nicht nur sein Leben beenden wollte, sondern auch unter starken Herzschmerzen litt. Er war zudem vom Jesidentum zum Christentum übergetreten, weil er sich in dieser Religion mehr zu Hause fühlte und eine christliche Frau heiraten wollte. Deshalb wurde er jedoch in seinem Heimatdorf ausgegrenzt. Er ging nach Deutschland. Seine zukünftige Frau sollte ihm folgen, heiratete dann jedoch seinen besten Freund. „Das ist absolut tragisch für ihn. Er hat ein doppeltes Verlassenwerden erlebt. Seine Ehre als Mann war so tief verletzt, weil das Verlassenwerden von einer Frau in seinem Kulturkreis nicht vorkommen darf und er so vor der ganzen Gemeinde bloßsteht. Dem Schrecken dieser Erfahrung konnte er aber nur in Form der Pseudohalluzination eines angreifenden Hundes, Sinnbild des Bösen im Jesidentum, Ausdruck geben“, erklärt Eterović.

Psychologen und Therapeuten brauchen also ein tiefes kulturelles, mitunter religiöses Verständnis, um überhaupt die richtige Diagnose zu stellen. Was hierzulande einem krankhaften Zustand gleichkommt, kann in anderen Ländern ganz gewöhnlicher Gefühlsausdruck sein. Rief erlebte bei seinem letzten Besuch in Teheran, wie Menschen laut jammernd und klagend durch die Basare liefen. „Hier würden wir so etwas für verrückt halten. Dort ist es ein ganz normales Trauerritual, wenn jemand gestorben ist. Die Passanten drücken dem Wehklagenden gegenüber ihr Mitgefühl aus und unterstützen ihn.“

Psychisches Leid wird in anderen Ländern aber nicht nur anders ausgedrückt, sondern auch anders empfunden. Depressionen erleben Asiaten weniger in Form von Niedergeschlagenheit als vielmehr mit Bauchschmerzen und Erschöpfung. Manches Mal sprechen sie auch von einer „großen Leber“. Türkische Patienten berichten, sie würden am ganzen Körper gequetscht oder der Rücken schmerze ihnen sehr.

Striemen gegen den Nackenschmerz

Wie kulturspezifisch die Symptome mitunter sein können, zeigt Devon Hinton, Psychiater am Massachusetts General Hospital, besonders eindrucksvoll an kambodschanischen Flüchtlingen, die er zu Hunderten untersucht hat, weil er ihre Sprache beherrscht. Fast alle traumatisierten Kambodschaner, in einer Studie waren es 35 von 38, beschreiben einen steifen, schmerzenden Nacken und befürchten, dass ihre Gefäße in dieser Region platzen könnten. Das wird in Kambodscha sogar als eigenständiges Krankheitsbild, als Khyâl-Attacke bezeichnet. Aus Angst, daran zu sterben, wenden sie allerlei spezifische Praktiken an, um der Krankheit zu entrinnen. Etwa versetzen Kambodschaner ihrem Körper blutige Striemen, indem sie die Haut mit einer Münze aufkratzen.

Daneben fühlen sich die Betroffenen aber auch auffällig oft schwindelig – so schwindelig, dass sie mehrmals in der Woche stürzen.

Besonders häufig, so oft wie die Patienten keines anderen Kulturkreises, erleben sie auch eine sogenannte Schlaflähmung. In bestimmten Schlafphasen ist bei gesunden Menschen die Muskulatur des Körpers weitgehend gelähmt. So ist sichergestellt, dass die Bewegungen, die man im Traum ausführt, nicht auf den realen Körper übertragen werden und man etwa im Bett um sich schlägt. Bei der Schlaf­lähmung kann diese Starre jedoch auch nach dem Erwachen für einige Augenblicke andauern, und ­diese Bewegungsunfähigkeit bereitet den Betroffenen oft starke Angst.

Dass sich Traumata und Ängste mit solch spezifischen Beschwerden äußern, hat kulturhistorische Wurzeln, glaubt Hinton. So deuten schon Metaphern in der kambodschanischen Sprache auf den Ausdruck von Gefühlen in Form von Schwindel hin. Brüllt der Sohn etwa seine Eltern an, so pflegen ­diese zu sagen: „Mein Sohn schüttelt mich wie eine Tablette in der Flasche.“

Auch die Angst vor Khyâl-Attacken und damit die Sorge um die Verletzlichkeit des Nackens ist in Kambodscha weit verbreitet. Zur Zeit der Roten Khmer mussten viele Menschen als Zwangsarbeiter beim Bau von Staudämmen helfen, wobei sie schwere Lasten auf den Schultern trugen, die zu Nackenproblemen führten. Tausenden Landsleuten brachen die Rebellen überdies durch Schläge in den Nacken das Genick. Das könnte, so Hinton, die besondere Empfindsamkeit der Körperpartie erklären. „Auch wenn man selbst solche Gräueltaten nicht ­erlebt hat, bricht sich offenbar jede Form von Stress in dieser Körperregion Bahn. Es gibt wohl so etwas wie ein Kulturgedächtnis der psychischen Erkrankungen“, leitet Hinton daraus ab.

Viele der Patienten waren jedoch irrtümlich gegen Migräne oder präventiv gegen eine Khyâl-Attacke mit Blutdruckmedikamenten behandelt worden. Hinton plädiert aufgrund der häufigen Fehldiagnosen dafür, das internationale Diagnostikmanual DSM um Anhänge zu erweitern, in denen kulturspezifische Symptome beschrieben werden. Rief unterstützt diesen Vorstoß.

Wenn bewährter Rat fehl am Platz ist

Doch auch die therapeutische Hilfe selbst muss den kulturellen Kontext des Klienten berücksichtigen. Bei einer Depression zum Beispiel lautet in unseren westlichen Industrienationen der geläufige verhaltenstherapeutische Rat, mehr Aktivitäten zu entfalten, also etwa schwimmen zu gehen oder mit Freunden einen Kaffee zu trinken. Für eine Frau im Iran können solche Ratschläge je nach Lebensumfeld und Lebensweise völlig deplatziert sein. „Wenn ich sie damit in die soziale Isolation treibe, weil das gesamte Umfeld solche Praktiken missbilligt, wäre das völlig verantwortungslos“, kommentiert Rief. Zugleich aber hätten Frauen im Iran sehr wohl andere, uns fremde Handlungsmöglichkeiten, die es in Erfahrung zu bringen und zu stärken gilt.

Dass eine auf die Kultur zugeschnittene Therapie durchaus wirkungsvoll sein kann, verdeutlicht die Arbeit der Konstanzer Psychoanalytikerin Inge Missmahl. Zusammen mit ihrem Team hat sie in den vergangenen zehn Jahren in Afghanistan den gesamten psychosozialen Dienst und ein dazugehöriges Ausbildungssystem aufgebaut. Zuvor gab es für die 31 Millionen Menschen nicht einmal ein Dutzend Psychologen und Psychiater. Seelische Probleme durch häusliche Gewalt, Armut und Schreckenserfahrungen wurden oft nicht angemessen, wenn überhaupt behandelt. Entsprechend hoch war die Suizidrate, und besonders häufig waren Depressionen.

Missmahl hat hierzulande eine Ausbildung in der Psychoanalyse nach Carl Gustav Jung absolviert. „Wir machen natürlich in Afghanistan keine jungsche Psychoanalyse“, erklärt Missmahl. Das würde mehr Zeit benötigen und steht dem Ziel entgegen, den oft traumatisierten Menschen rasch zu helfen.

„Unser Ansatz beruht deshalb auf zwei Prinzipien. Zunächst geht es darum, die Situation genau zu verstehen, einen Zusammenhang zwischen den Symptomen und psychosozialen Stressoren oder Lebensereignissen herzustellen – etwa bei einem Familienvater, der sich selbst nicht wiedererkennt, weil er plötzlich seiner Frau misstraut und seine Kinder schlägt, nachdem er einen Anschlag miterlebt hat“, erläutert Missmahl. Im zweiten Schritt geht es darum, das gegenwärtig drängendste Problem, das die Alltagsbewältigung am meisten einschränkt, anzugehen. Dazu werden auch jene Aktivitäten gestärkt, die dem Patienten wichtig sind und Lebensmut geben. Das kann beispielsweise das Musizieren, die Familie, die Spiritualität oder die Natur sein.

Mittlerweile haben Missmahl und ihre afghanischen Mitarbeiter rund 300 psychosoziale Berater ausgebildet. Diese haben allein im vergangenen Jahr 50 00 Sitzungen durchgeführt. Für Frauen gibt es jeweils weibliche Beraterinnen und für Männer einen männlichen Berater, ein Ansatz, der in einer von der Geschlechtertrennung geprägten Kultur unabdingbar ist, wie die Therapeutin bald erkannte. Dass schon fünf bis acht Sitzungen gegen Symptome von Depression und Angst wirken können, zeigte Missmahl mit ihrer Kollegin, der Psychologin Sarah Ayoughi in einer Studie. Die Symptome besserten sich, und die Patientinnen berichteten, dass sie nach der Beratung besser mit Stress umgehen konnten.

Manchmal mögen die Lösungen aus den Therapien auf den ersten Blick fremd erscheinen. Einst traf Missmahl eine junge Frau, die sich das Leben nehmen wollte, weil sie mit einem Mann verheiratet worden war, der, wie sie herausfand, eine geistige Behinderung hatte. Sie bekam einen Sohn von ihm und war doch zutiefst unglücklich. „In unserem Kulturkreis würde man sagen, dann muss sie sich eben scheiden lassen“, sagt Missmahl. Doch in Afghanistan sei es für eine Frau unmöglich, allein zurande zu kommen. Monate später traf die Therapeutin die junge Frau wieder, blühend und zufrieden. Was hatte ihr zu dieser Ausgeglichenheit verholfen?

Missmahl hatte die Afghanin seinerzeit nach ihrem wichtigsten Lebensziel gefragt. Sie betonte, wie wichtig ihr die Familie sei und dass sie eine Schule besuchen wollte. In den Sitzungen habe die Frau erkannt, dass sie mit ihrem Kind und dem Mann im Grunde bereits eine Familie habe und dass ihre Aufgabe wohl darin bestehe, das Beste daraus zu machen. Ihre Schwiegermutter erklärte sich bereit, ihr Kind zu betreuen, während sie erstmals eine Schule besuchte. Der Mann begann trotz seiner Einschränkung im Basar zu arbeiten. „Man kann das in diesem Rahmen ein gelingendes Leben nennen“, so Missmahl.

Ein Totenritual wird entschärft

Im Austausch mit ihren Klienten aus anderen Kulturen müssen hiesige Therapeuten bisweilen bereit sein, eigene Wertvorstellungen ein Stück zur Seite zu schieben. Wie fern uns die in den Therapien gefundenen Lösungen sein können, haben Psychologen auch in Sierra Leone erfahren. Viele Europäer waren geschockt, als sie 2014 in Fernsehberichten sahen, wie Menschen an Ebola Verstorbene umarmten und küssten, anscheinend bar jeder Furcht vor der todbringenden Erkrankung. Die Einheimischen reagierten teils sogar aggressiv, als westliche Helfer die Infizierten in Quarantäne nahmen und dazu aufforderten, die Leichen zu verbrennen.

Aber eine kleine Gruppe von Psychologen um Beate Ebert aus Aschaffenburg und Hannah Bockarie aus dem westafrikanischen Land wunderte das nicht. Sie wussten, wie die Geschehnisse auf die Einheimischen wirkten: Da tauchen plötzlich Fremde in monströsen Schutzanzügen auf, das Gesicht hinter einem kleinen Kunststofffenster verborgen. Sie sprechen eine fremde Sprache, die nur wenige verstehen – Englisch. Und sie nehmen angeblich Kranke mit, die dann nie wieder zurückkehren. Sie erzählen etwas von einem Virus und dass man die Toten nicht anrühren dürfe. Aber die Menschen haben das Wort „Virus“ noch nie gehört. Der Schrecken, den die fremden Helfer verbreiten, geht weit über den Schrecken durch Ebola hinaus, erläutert Ebert.

Die Sierra-Leoner fühlen sich zutiefst traurig und schuldig, wenn sie von der Ehrung der Toten abrücken, aber sie wollen auch nicht ihre Familie durch die Krankheit gefährden. Ein klassischer Konflikt zweier Werte. Dieser aber lässt sich in einer spezifischen Verhaltenstherapie auflösen, glaubt Ebert, die seit Januar 2014 ein psychosoziales Zentrum in Bo, der zweitgrößten Stadt des westafrikanischen Landes, unterstützt. Das Zentrum bietet Beratungen und Workshops auf Basis der sogenannten Akzeptanz- und Commitmenttherapie an. Diese Therapie lässt die Patienten selbst Lösungen entwickeln, ohne diese vorzugeben. Betroffene mit ein- und demselben Problem treffen sich dazu. Zunächst werden Gefühle und Gedanken bewusstgemacht, die sie verdrängen, weil sie ihnen unangenehm sind: etwa die Angst vor Tod und Krankheit. Im nächsten Schritt werden Werte und Ziele benannt, die allen wichtig sind. In den Gemeinschaften in Sierra Leone ist das oft das Wohlergehen des Dorfes und der Familie, aber beispielsweise auch das Ehren der Toten. Danach ­werden Lösungen diskutiert, die helfen, die Werte zu beherzigen, ohne die unangenehmen Empfin­dungen zu meiden.

Im Prozess eines Workshops taucht die Idee auf, das Totenritual stellvertretend an einem Bananenbaum zu zelebrieren, um so die Verstorbenen zu verabschieden, ohne die Angehörigen zu gefährden. „Das haben die Menschen dort selbst entwickelt. Auf solch eine Idee kann man von außen gar nicht kommen“, sagt Ebert, die im März und April 2015 selbst nach Sierra Leone gereist ist.

Das neue Ritual hat sich in dem Distrikt herumgesprochen. Die Zahl der Neuinfektionen sank deutlich im Vergleich zu anderen Distrikten.

Oft jedenfalls ist der Weg zu Veränderungen lang und beschwerlich. Dem Mann aus dem Nahen Osten, der sich von einem Hund verfolgt fühlte, konnte Zorica Eterović in vielen Dutzend Sitzungen ein Stück weit helfen. „Wir haben darüber gesprochen, was es bedeutet, verlassen zu werden, ob das erlaubt ist oder nicht. Wir haben über den Umgang mit Wut – dieser Flamme, die in ihm brennt, wie er sagt – gesprochen, und ich habe ihm Möglichkeiten gezeigt, seine Wut abzureagieren. Wir haben über Verzeihung und Nächstenliebe gesprochen.“ Der Mann kommt noch immer jede Woche, immer die drohende Abschiebung im Nacken. Aber Eterović hat sich beschenkt gefühlt, als er ihr sagte, er habe der Frau, die er einst heiraten wollte, und seinem Freund, der sie heiratete, verziehen. Nur sich selbst zu verzeihen, das sei viel schwerer.

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 11/2015: Den Alltag managen