Ein Fahrgast redet mit einem ausländisch aussehenden Taxifahrer besonders langsam und deutlich, obwohl der die Landessprache fließend beherrscht. Ein Mathelehrer lobt eine Schülerin, für ein Mädchen könne sie gut rechnen. Eine Frau im Bus hält ihre Handtasche fester, als sich ein schwarzhäutiger Mann neben sie setzt. Ein lesbisches Paar wird auf einer Party „im Spaß“ gefragt, wer denn der Mann in der Beziehung sei. – Diese Begebenheiten scheinen auf den ersten Blick nicht viel gemein zu haben. Doch alle…
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scheinen auf den ersten Blick nicht viel gemein zu haben. Doch alle stellen das dar, was der Psychologe Derald Sue Mikroaggressionen nennt, eine subtile und deshalb besonders heimtückische Form von Diskriminierung. Dem „Täter“ sei oft gar nicht bewusst, betont der Wissenschaftler, dass er sein Gegenüber kränkt. Aber auch wenn sie unbeabsichtigt erfolgen, könnten die scheinbar harmlosen Botschaften beim Adressaten gravierende psychische und körperliche Effekte erzeugen.
Der Begriff microaggressions wurde in den 1970er Jahren von Chester Pierce geprägt, einem schwarzen Harvardprofessor. Er beschrieb damit alltägliche Erniedrigungen und Beleidigungen gegenüber Afro-amerikanern. Doch ins öffentliche und akademische Bewusstsein trat der Begriff erst durch die Arbeiten von Derald Sue. Der Amerikaner chinesischer Abstammung, der an der Columbia-Universität lehrt, veröffentlichte 2007 zusammen mit Kollegen einen Fachartikel, der ebenso wie ein 2010 erschienenes Buch viel Aufmerksamkeit auf sich zog, vor allem in den USA. Darin definierte er Mikroaggressionen als kurze, aber regelmäßig auftretende Demütigungen gegenüber Mitgliedern benachteiligter Gruppen, die in Form von negativen, herabsetzenden oder ablehnenden Bemerkungen oder Handlungen zugefügt werden.
Insbesondere bei vielen Studenten traf Sue einen Nerv. In zahlreichen Universitäten wurden Projekte ins Leben gerufen, um die tagtäglichen subtilen Spitzen gegen ethnische Minderheiten, Frauen, Homosexuelle oder Andersgläubige aufzuzeigen.
Aber auch in der Wissenschaft hat das Konzept Fuß gefasst. Vor allem zu rassistischen Mikroaggressionen sind in den letzten Jahren eine Vielzahl von Studien durchgeführt worden, weiß Gloria Wong von der Universität Kalifornien in Davis, die 2013 einen Überblick über relevante Untersuchungen veröffentlicht hat und selbst eine Promotion zum Thema schreibt. Sie hält Mikroaggressionen „für die häufigste Form von Diskriminierungen, die Menschen im Alltag erleben“.
Offene, krasse Diskriminierungen, da sind sich Wissenschaftler weitgehend einig, haben in Ländern wie Deutschland und den USA seit den 1960er Jahren deutlich abgenommen. Frauen werden heute beruflich nicht mehr nur als Sekretärin oder Lehrerin in Betracht gezogen; Homosexualität gilt nicht länger als Krankheit, und auch ein Schwarzer kann amerikanischer Präsident werden. Sexismus, Rassismus und Heterosexismus sind deshalb aber nicht verschwunden, sie äußern sich nur in verdeckter Form.
Aversiver statt offener Rassismus
Wie verdeckt, das zeigen die bemerkenswerten Studien zu weißem Rassismus, die der amerikanische Psychologe John Dovidio von der Yale-Universität zusammen mit Kollegen über einen Zeitraum von zwei Jahrzehnten durchgeführt hat. In einem angeblichen Experiment zu außersinnlichen Wahrnehmungen beispielsweise sollten weiße Versuchspersonen versuchen, telepathische Botschaften einer Frau namens Brenda aus einem anderen Raum zu empfangen. Manche Teilnehmer glaubten, Brenda sei weiß, während andere sie für dunkelhäutig hielten. In Wahrheit war Brenda nur eine Stimme auf einem Kassettenrekorder, die die Teilnehmer, die jeweils einzeln in einem Raum saßen, über eine Interkomanlage hören konnten. Ein inszenierter Notfall war der eigentliche Test: Während des Experiments hörten die Probanden über die Interkomanlage, wie ein umfallender Stapel von Stühlen die schreiende Brenda unter sich begrub. Wie verhielten sie sich? Glaubten sie, nur sie allein hörten die Schreie, riefen sie für eine schwarze Brenda nahezu gleich häufig Hilfe wie für eine weiße. Gingen sie dagegen davon aus, andere Teilnehmer würden ebenfalls Zeuge des Unfalls werden, ergab sich ein deutlicher „Hautfarbeneffekt“: Für die schwarze Brenda holten nur 37,5 Prozent der Teilnehmer Hilfe im Vergleich zu 75 Prozent für die weiße.
Diese Form der Diskriminierung nannte Dovidio aversiven Rassismus. Weitere Studien zeigten, dass er nicht nur in Notfällen, sondern auch bei der Auswahl von Jobbewerbern oder der Zulassung neuer Studenten eine Rolle spielt. Aversive Rassisten, so Dovidio, befürworten auf der bewussten Ebene eine Gleichbehandlung von Schwarz und Weiß. Aber unbewusst hegen sie negative Gefühle, die sie zwar leugnen, die aber dennoch zu Diskriminierungen führen, sobald sich für ihr Verhalten andere Gründe als die Hautfarbe (zum Beispiel die Gegenwart anderer Zeugen) heranziehen lassen.
Auch Frauen, sagen Forscher, sind heute zahlreichen Herabsetzungen ausgeliefert, die nicht unmittelbar sichtbar sind. Julia Becker, Professorin für Sozialpsychologie an der Universität Osnabrück, hat verschiedene Formen subtilen Sexismus untersucht. Beim wohlwollenden Sexismus beispielsweise stellt ein „männlicher Beschützer“ eine Frau als hilfsbedürftig oder inkompetent dar und bietet seinen Beistand an („Lass mich das mal machen. Du als Frau brauchst dich damit nicht herumschlagen“). Beim sogenannten modernen Sexismus bestreitet jemand (Mann, aber auch Frau), dass es eine Ungleichbehandlung zwischen den Geschlechtern gibt („Frauen haben heute im Berufsleben doch die gleichen Chancen wie Männer“) und suggeriert so, dass es an einer Frau selbst liegt, wenn sie nicht weiterkommt.
Das Konzept der Mikroaggression sei deshalb so bedeutsam, meint Becker, weil es zahlreiche Ansätze unter einem Oberbegriff zusammenfasst: „Es ist wichtig, einen einzigen konzeptionellen Begriff für unterschiedliche Formen subtiler Vorurteile gegenüber unterschiedlichen benachteiligten Gruppen zu haben.“ Wong hebt die Bedeutung des Ansatzes für Menschen hervor, die zur Zielscheibe von Angriffen werden. Wer mit Bemerkungen konfrontiert werde, die harmlos klingen, aber versteckte Herabsetzungen oder Respektlosigkeiten enthalten, habe häufig mit Selbstzweifeln und Unsicherheiten zu kämpfen. Auf ein Vokabular zurückgreifen zu können, das solchen Erfahrungen einen klaren Namen gibt, könne da sehr hilfreich sein, meint die Forscherin.
Erlebt nicht jeder im Alltag kleine Spitzen?
Kritiker allerdings sehen hier gerade die große Schwäche des Konzepts. Sie argumentieren, es blähe ganz normale Begebenheiten zu einem Problem auf. Unter der Überschrift „Multikultureller Makro-Nonsens“ fragt beispielsweise Kenneth Thomas, ein emeritierter Professor für Psychologie und Sozialpädagogik an der Universität Wisconsin: „Erlebt nicht jeder gelegentlich Demütigungen durch Worte, Taten oder organisatorische Gegebenheiten?“ Auch Amitai Etzioni, ein Soziologieprofessor an der George-Washington-Universität, betont, es gehöre zur menschlichen Natur, dass Mitglieder einer Gruppe über Mitglieder anderer Gruppen herziehen: „Wir können uns natürlich wünschen, dass Leute nur nette Dinge über einander sagen, aber bis wir das schaffen, sollten wir nicht an jeder negativen Bemerkung Anstoß nehmen.“
Mikroaggressionsforscher bestreiten nicht, dass jeder im Alltag kleine Spitzen erlebt. Doch ab und zu einmal blöd angemacht oder gekränkt zu werden sei etwas anderes als die systematischen Vorurteile und Kränkungen, mit denen Mitglieder benachteiligter Gruppen umgehen müssten. Wenn beispielsweise ein weißer Mann von einem unhöflichen Verkäufer beleidigt wird, erläutert Sue, dann sei das eine Situation, die bald zu Ende ist. Der Mann ärgere sich vielleicht, aber das gehe schnell vorbei. Für Farbige dagegen ende die Situation nie. Sie erlebten Mikroaggressionen von klein auf an, tagein und tagaus. Einzeln betrachtet würden die einzelnen Vorfälle vielleicht harmlos und trivial erscheinen. Aber sie träten kontinuierlich auf und addierten sich, und das sei es, was sie so schädlich mache, betont der Psychologe.
Die negativen Folgen von Mikroaggressionen sind mittlerweile gut belegt. In einer Collegestudie etwa zeigte sich ein klarer Zusammenhang zwischen subtilen Diskriminierungen und Wohlbefinden. Umso häufiger eine Person Herabsetzungen und Kränkungen erlebte, desto mehr plagten sie negative Gefühle sowie somatische Symptome wie Kopfschmerzen, Appetitlosigkeit oder Magenprobleme. Andere Studien zeigen Korrelationen mit Stressgefühlen, Ängsten, Depressionen und Alkoholexzessen. Eine Untersuchung der Psychologin Jennifer Wang von der Universität Washington und Kollegen belegt zudem, dass Mitglieder benachteiligter Gruppen unter alltäglichen Kränkungen – man wird auf einer Party von Unterhaltungen ausgeschlossen, der Vorgesetzte zieht Kollegen vor – mehr leiden als andere. Im Vergleich zu weißen Studenten reagierten Minderheitenstudenten auf die gleichen Situationen viel emotionaler.
Eine belgische Studie belegt Auswirkungen subtiler Diskriminierungen auch auf die mentale Leistungsfähigkeit. Im Rahmen eines angeblichen Jobtrainings erhielten 38 arbeitslose Frauen schriftliche Informationen über offene Stellen in einer Chemiefabrik. Bei manchen Teilnehmerinnen waren darin wohlwollend sexistische Anspielungen enthalten („Frauen sind nett, brauchen aber Hilfe von Männern“). In nachfolgenden kognitiven Tests schnitten diese Frauen deutlich schlechter ab als die Kontrollgruppe, die neutrale Informationen erhalten hatte. Mehr noch: Die ambivalente Botschaft „lieb, aber hilfsbedürftig“ stellte sich als schädlicher heraus als offener Sexismus („Frauen sind schwach, emotional und manipulativ“). Die Erklärung: Ist eine Herabsetzung subtil, fängt man an, darüber nachzudenken („Wie ist das jetzt gemeint? Bin ich zu empfindlich? Hat der andere vielleicht recht?“), und wird dadurch abgelenkt. Bei eindeutig diskriminierenden Botschaften treten solche Grübeleien weniger stark auf.
Derald Sue weist auf die gravierenden Folgen hin, die Mikroaggressionen nach sich ziehen können: „Nehmen Sie das Vorurteil, afroamerikanische Männer seien gefährlich. Wenn eine weiße Studentin fast automatisch ihre Tasche zu sich heranzieht, sobald sich ein schwarzer Student im Vorlesungssaal neben sie setzt, was sie bei einem weißen Kommilitonen nicht macht, so ist das vielleicht keine große Sache. Wenn aber afroamerikanische Männer von weißen Polizisten getötet werden, wie es in den letzten Monaten immer wieder passiert ist, dann ist das alles andere als trivial.“ Laborstudien belegen, dass Polizeibeamte, systematisch eher auf einen schwarzen Verdächtigen schießen als auf einen weißen. Die Polizisten seien davon überzeugt, betont Sue, dass sie sich verteidigen müssten und ihre Reaktion gerechtfertigt sei. „Aber wenn man unbewusst glaubt, dass schwarze Männer gewalttätig und kriminell sind, dann kann das eben zu Mikroaggressionen führen, die makromäßigen Schaden anrichten.“
Wie man am besten auf Mikroaggressionen reagiert
Als Betroffener: Wenn man eine subtile Herabsetzung oder Diskriminierung erlebt, ist es meist nicht hilfreich, aggressiv zu reagieren. Stattdessen kann man erst einmal fragen: „Wie meinst du das?“ So spielt man den Ball zurück und zwingt den anderen, sich zu erklären. Oder man spricht die eigenen Gefühle an: „Ich weiß, du hast es nicht so gemeint, aber deine Bemerkung/dein Verhalten hat mich verletzt.“ Auch Humor sei eine gute Strategie, meint Sexismusforscherin Julia Becker. Das sei nicht immer leicht, räumt sie ein, aber es lohne sich, damit zu experimentieren.
Als Beobachter: Wenn man eine kränkende Bemerkung oder Handlung mitbekommt, sollte man darauf reagieren. Steht beispielsweise eine Frau einer anderen bei, so Becker, kann das sehr wirkungsvoll sein, denn nicht direkt Beteiligten fällt eine patente oder ironische Antwort oft leichter. noch effizienter sei es allerdings, wenn ein Mann zu Hilfe kommt – möglichst ein Weißer, wenn es um rassistische Äußerungen geht: „Eine Person, die nicht selbst zur benachteiligten Gruppe gehört, wird einfach ernster genommen, weil sie nicht im Verdacht steht, parteiisch zu sein.“
Als Lehrer oder Vorgesetzter: Wird man im Klassenraum oder in der Teamsitzung Zeuge einer Mikroaggression, ist es sinnvoll, den Aggressor beiseite zu nehmen und ihn nicht vor der ganzen Gruppe zu konfrontieren. Oberstes Ziel sei, erläutert Sue, eine defensive reaktion zu minimieren und so erzieherisch einwirken zu können. Auch mit dem Empfänger der Mikroaggression sollte man reden und ihm seine Unterstützung zusichern. „Für den Betroffenen ist es sehr wichtig zu wissen“, betont der Psychologe, „dass seine Erfahrung ernst genommen wird.“
Literatur
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