„Die Kernfrage ist: Was für ein Mensch willst du sein?“

Die Romane von David Safier sind heiter, ja witzig. Es begann mit Mieses Karma, es folgten, um nur zwei zu nennen, Jesus liebt mich und Muh!. Bücher mit einem bemerkenswerten Sinn für gehobenen Blödsinn, die sich viereinhalb Millionen Mal im deutschsprachigen Raum verkauften und in über 20 Sprachen übersetzt wurden. Dann gab es eine Zäsur. David Safier schrieb einen ernsten, spannenden Roman. Dieser spielt 1943 im jüdischen Ghetto von Warschau, als junge polnische Juden den Aufstand gegen die Deutschen wagten. 28 Tage lang, so der Titel, ist aus der Perspektive der 16-jährigen Mira geschrieben. Sie schmuggelt Lebensmittel, um im Ghetto zu überleben. Als sie erfährt, dass die gesamte Ghettobevölkerung umgebracht werden soll, schließt sich Mira dem Widerstand an. Der kann der übermächtigen SS länger trotzen, als vermutet. Ganze 28 Tage.

David Safier, nach so vielen lustigen Büchern ein ganz anderes, ernstes Buch zu schreiben, war das sehr schwierig?

Es war überraschend einfach. In dem Augenblick, in dem ich Mira, die Hauptfigur, gefunden hatte, hat sie mir die Geschichte erzählt. Bis dahin war es allerdings ein sehr langer und schwieriger Weg. Ich habe 20 Jahre lang um diese Geschichte herum gekreist, bis ich den Mut fand, sie zu schreiben.

Warum wollten Sie ausgerechnet über den Aufstand im Warschauer Ghetto schreiben?

Ich habe immer nach…

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Warum wollten Sie ausgerechnet über den Aufstand im Warschauer Ghetto schreiben?

Ich habe immer nach einer Geschichte gesucht, in der Juden nicht nur Opfer sind, sondern sich wehren. 1993, zum 50. Jahrestag des Ghettoaufstands, habe ich im Bremer Dom eine Rede gehalten. Da habe ich mich zum ersten Mal sehr intensiv damit beschäftigt. Im Ghetto gab es alles, von größter Niedertracht bis zum größten Heldentum. Die Kernfrage meines Buches ist: Was für ein Mensch willst du sein? Es gab dort Menschen, die haben andere geopfert, damit sie selbst länger leben konnten. In der Hoffnung, dass die Nationalsozialisten sie nicht in die Züge bringen, haben sie als Judenpolizisten gearbeitet, als Hilfskräfte der SS …

Der Bruder Ihrer Protagonistin ist bei dieser jüdischen Polizei.

Ganz genau. Auf der anderen Seite gab es Menschen, die haben sich für andere aufgeopfert. Ein Beispiel ist Janusz Korczak, der Leiter des jüdischen Waisenhauses im Warschauer Ghetto. Er hätte sein Leben retten können, er hätte fliehen können aus dem Ghetto, blieb aber bei seinen 200 Waisenkindern und ging mit ihnen in den Tod.

Wie wichtig war es Ihnen, mit dem Roman nah an der historischen Wahrheit zu sein?

Ich habe Mira, meine Heldin, erfunden – und ihre Familie auch. Aber diese Protagonisten erleben alles, was man im Ghetto hat erleben können. Ghettobewohner haben damals aufgeschrieben, was vor sich ging, und diese Aufzeichnungen vergraben, das sogenannte Ringelblum-Archiv. Dadurch kann man vieles rekonstruieren. Und es gibt die Erinnerungen der wenigen Überlebenden. Ein Beispiel ist Marcel Reich-Ranicki, der auch seine Erinnerungen an die Zeit im Warschauer Ghetto aufgeschrieben hat. In einem Roman, noch dazu aus der Perspektive eines Mädchens, konnte ich diese Geschehnisse emotionaler erzählen, als ich es in einem Sachbuch hätte machen können. Ich wollte einfach, dass Menschen, die normalerweise stöhnen: „Oh Gott, schon wieder der Holocaust“, dazu greifen und sagen: „Dieses Buch ist so spannend und so emotional, ganz anders, als ich das Thema sonst vorgesetzt bekommen habe, zum Beispiel in der Schule.“

Sie haben aber auch einen familiären Bezug zu dem Thema.

Richtig. Mein Vater war Jude, Jahrgang 1915, er wuchs in Wien auf. 1938, beim sogenannten Anschluss von Österreich, war er 23. Als Student beobachtete er, wie jüdische Kommilitonen aus dem Fenster der Universität geworfen wurden. Er konnte fliehen, wurde aber verhaftet. Nur durch Glück hat er überlebt. Er erzählte mir, dass seine Zelle von einem der wenigen Polizisten bewacht wurde, die noch keine Hakenkreuzbinde trugen. Der hat einfach ein paar Juden laufen lassen, weil er meinte, die Zelle sei zu voll. Mein Vater kam raus. Hätte mein Vater weiter hinten in der Zelle gestanden, wäre er vermutlich gestorben, wie sein eigener Vater, also mein Großvater, der 1940 in Buchenwald umgebracht wurde. Und meine Großmutter ist 1942 im Ghetto von Lodz verstorben.

Hat Ihr Vater Ihnen das alles erzählt?

Ja, das ist einer der wenigen Momente, über die er gesprochen hat. Sonst hat er fast nichts erzählt, wie alle, die den Krieg oder den Holocaust erlebt haben. Egal ob sie Verfolgte oder Täter waren, die Menschen sprachen nicht über diese schlimme Zeit. Und viel gefragt habe ich auch nicht. Ich war 30 oder 31, als mein Vater starb. Die ganzen Fragen, die ich jetzt habe und jetzt auch stellen würde, die habe ich damals nicht gestellt. Da war dieses Gefühl, dass man nicht danach fragen durfte. Ich empfand so etwas wie Ehrfurcht.

Ich stelle mir das sehr einschneidend vor, wenn man als Kind oder als Jugendlicher hört: Die Großeltern sind ermordet worden, und Vater sollte eigentlich auch ermordet werden – und zwar von den Menschen, die um Sie herum leben, von den Deutschen. Wie gingen Sie damit um? Welche Auswirkungen hatte dieses Wissen?

Das läuft ja alles eher unterbewusst ab. Ich hatte schon immer ein Gefühl des Nicht-ganz-Dazugehörens. Heute verstehe ich auch, warum ich so wenigen Menschen vertraue. Ich vertraue nur ganz wenigen Auserwählten. Vor allem misstraue ich Gruppen, Vereinen, wo Regeln festgelegt werden, wo gesagt wird, so und so hat es zu sein. Das kommt schon alles von meiner Familiengeschichte.

Auf der anderen Seite hat mein Vater mich nicht erzogen nach dem Motto: Hab Angst vor den Deutschen, er hat ja selbst eine Deutsche geheiratet. Er hat auch nicht gesagt: Das sind alles Nazis. Er hat hier in Bremen gut gelebt und viele Freunde gehabt. Aber er und meine Mutter, die haben immer gesagt: „99 Prozent der Menschen sind schlecht.“ Damit bin ich aufgewachsen, mit einem Grundmisstrauen gegenüber Menschen.

Das war auch das Gefühl Ihrer Mutter?

Ja. Sie war eine deutsche Nichtjüdin, Jahrgang 1936, im Bombenhagel aufgewachsen und dadurch schwer traumatisiert. Sie hat lange in Armut gelebt – das Wirtschaftswunder ist an ihrer Familie völlig vorbeigegangen –, sie lebte bis Ende der 1950er Jahre in einem Eisenbahnwaggon.

Ihr Vater floh nach seiner glücklichen Freilassung nach Palästina, kämpfte im Untergrund und war Soldat im israelischen Unabhängigkeitskrieg. Wie kam er nach Bremen?

Das war in den 1960er Jahren. Er war bis 1951 in der israelischen Armee und hätte da eine große Karriere machen können. Doch er wollte kein Kämpfer sein. Er ist dann zur See gefahren und kam Anfang der 1960er Jahre nach Deutschland und lernte dort meine Mutter kennen.

Es war in der Zeit nicht selbstverständlich, dass ein vom Holocaust geprägter Jude eine deutsche Nichtjüdin heiratet. Die jüdische Gemeinschaft in Deutschland lebte abgeschottet, und den Deutschen war es peinlich, an den Holocaust erinnert zu werden. Wie haben Ihre Eltern diesen Abgrund überbrücken können?

Zwischen Vater und Mutter war das kein Thema. Mein Vater hat sich entschieden, in Deutschland zu leben, weil er diese Frau so sehr liebte. Er konnte mit ihr nicht nach Israel gehen, das war klar. In den 1960er Jahren, also so frisch nach dem Holocaust, als Deutsche in Israel, das wollte er ihr nicht antun.

Was den Holocaust anging, waren meine Eltern einer Meinung. Und auch darüber, dass es nach dem Krieg noch viele Nazis in der Gesellschaft gab. Meine Mutter war als junge Frau in der KPD. Sie war 20, als die KPD 1956 verboten wurde. Sie wurde auch verhaftet und kam ins Gefängnis, weil sie für diese verbotene Partei Flugblätter verteilt hatte. Später war sie eigentlich ein unpolitischer Mensch.

Ihr Vater hat Sie mit in die jüdische Gemeinde genommen, haben Sie dort etwas für sich gefunden?

In der jüdischen Gemeinde gab es damals außer mir zwei Kinder in meinem Alter. Der Gottesdienst war auf Hebräisch, ich habe kein Wort verstanden. Ich bin da hingegangen, weil ich wusste, dass es meinen Vater freut. Er wollte, dass ich die Bar Mitzwa mache und in die Synagoge gehe.

Bar Mitzwa ist so eine Art jüdische Konfirmation.

Genau. So wie viele Konfirmanden keinen Bezug zum Christentum haben, aber die Konfirmation mitmachen, den Eltern zuliebe oder weil man es so macht, so habe ich das eben auch gemacht mit der Bar Mitzwa. Als mein Vater gestorben war, gab es für mich keinen Grund mehr, hinzugehen, weil ich zur Religion keinen Bezug hatte.

Trotzdem spielt Religion in jedem Buch von Ihnen eine Rolle, ob es dabei um die Karma-Lehre geht oder um die Frage, ob es überhaupt einen Gott gibt. An was arbeiten Sie sich da ab?

Meine Bücher haben alle mit meinem Leben zu tun und mit dem Leben meiner Familie. Das passiert allerdings nicht immer bewusst, ich sitze nicht da und sage: Mir ist das und das passiert, und jetzt schreibe ich mal was darüber. Sondern ich schreibe etwas, und hinterher verstehe ich plötzlich, weshalb ich das geschrieben habe.

Jesus liebtmich, eine romantische Komödie mit Jesus als Hauptprotagonisten, hat zum Beispiel mit dem Krebstod meiner Schwester zu tun. Es geht darum, ob es einen Gott gibt und warum er den ganzen Wahnsinn zulässt.

In Ihrem Buch Muh!, das vor 28 Tage lang erschien, wollen Kühe nach Indien auswandern, weil sie nicht gegessen werden wollen. So witzig das Buch ist, ist es doch sehr dramatisch, wie diese Tiere verstehen, dass ihre Betreuer sie aufessen wollen. Sie fliehen um ihr Leben. Klingt da nicht auch die Familienerfahrung an?

Als ich in Muh! zum Beispiel die Szene geschrieben habe, in der Kühe in einen Güterzug verfrachtet werden, habe ich nicht an den Holocaust gedacht. Aber später wurde es mir klar. Und dann habe ich ’ne Pause gemacht und habe wieder alle Bücher über das Warschauer Ghetto gelesen und endlich beschlossen, dass das das Thema meines nächsten Romans wird.

War das eine Befreiung?

Befreiend war, mal nicht lustig zu schreiben, das ist ja auch wahnsinnig anstrengend, immer witzig zu sein. Und inhaltlich: Als junger Mensch hat mich dieser befreiende Kampf fasziniert. Inzwischen sage ich nicht mehr, dass es die Lösung ist, zur Waffe zu greifen. Ich halte das im Buch sehr offen. Es gibt viele verschiedene Formen von Heldentum.

Thomas Mann hat mal gesagt, ein Autor müsse beim Schreiben eiskalt sein, um von seinem eigenen Gefühl nicht überwältigt zu werden.

Die Frage ist doch, was das Gefühl einem sagt. Es geht um emotionale Wahrheit. Nur dann hat die Handlung eine Chance, auch für den Leser wahr zu sein. In 28 Tage lang passieren Dinge, die mir unerträglich sind, aber sie sind leider wahr, also musste ich da durch.

Zum Beispiel, dass die Aufständischen ein Kind erschießen, das sie sonst denunzieren könnte.

Genau.

Sie haben gesagt, dass Ihre Protagonisten ein Eigenleben haben. Kann es sein, dass die etwas anderes wollen als Sie?

Ja. Bei Jesus liebt mich wollte ich gern ein Happy End haben. Aber die Figuren wollten nicht zusammenbleiben. Da sitzt man dann schon mal ein paar Tage und ringt mit den Figuren. Aber sie müssen gewinnen. Da sind wir wieder beim Thema emotionale Wahrheit.

Gehen Sie eigentlich in Klausur, wenn Sie schreiben?

Nein, ich schreibe immer zu Hause. Ich schreibe nachmittags neues Material, und vormittags überarbeite ich das, was ich am Tag zuvor geschrieben habe. Ich brauche es für meine seelische Gesundheit, dass ich mich nicht nur mit meiner Arbeit beschäftige, weil ich dabei ganz abtauche und in einer anderen Welt bin. Da ist es oft schwierig, wieder umzuschalten. Manchmal brauche ich eine halbe Stunde, bis ich wieder in die richtige Welt komme. Meine Söhne sind 14 und 18, die brauchen mich schon noch ab und zu.

Sie setzen sich auch mit dem Buddhismus auseinander. Sie haben eine Stiftung gegründet, die heißt Gutes-Karma-Stiftung.

Das ist natürlich auf meinen Roman Mieses Karma bezogen. Mit dieser Stiftung unterstützen wir derzeit Mädchen, die in Nepal aus der Sklaverei befreit werden. Diese Mädchen werden von ihren Eltern in die Sklaverei verkauft für ganz wenig Geld, für 50, 60 Euro. Sie müssen in den großen Städten als Haushaltskräfte arbeiten oder sie werden nach Indien in die Prostitution geschickt. Wenn sie aus den Bergen mit dem Bus nach Kathmandu kommen, probiert man, diese Mädchen zu befreien. Und dann können sie natürlich nicht zurück zu ihren Familien, die sie gerade verkauft haben. Wir finanzieren Unterkünfte und Bildung, sodass sie zur Schule gehen können. Vielleicht sammelt man ja wirklich gutes Karma, wenn man das unterstützt.

David Safier, 1966 geboren, zählt zu den erfolgreichsten deutschsprachigen Autoren der letzten Jahre. Seine Romane Mieses Karma, Jesus liebt mich und Plötzlich Shakespeare erreichten Millionenauflagen. Auch im Ausland sind seine Bücher Bestseller. David Safier lebt in Bremen, ist verhei­ratet, hat zwei Kinder und einen Hund.

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 3/2015: Vorwärts Leben