Da lachte der Pharao

Solange es Menschen gibt, beeinflussen ihre Gefühle, was sie tun und wie sie sich entscheiden. Doch haben unsere Vorgänger – von der Antike bis zur Aufklärung – tatsächlich auf die gleiche Weise gefühlt wie wir Heutigen? Historiker haben begonnen, die emotionalen Zeugnisse vergangener Epochen genauer zu studieren

Prinz Childerich war ein großer Abenteurer. Er war der schönste Mann seines Königreiches. Er war mutig und geistreich. Mit einem gefühlvollen Herzen geboren, überließ er sich zu sehr der Liebe: das war der Grund für sein Verderben.“ Es darf gespottet werden, kommentiert der Historiker Lucien Febvre dieses Stück Geschichtsschreibung aus dem 18. Jahrhundert.

Emotionen haben in der Geschichtsschreibung schon immer eine große Rolle gespielt. Napoleons Verzweiflung angesichts des gescheiterten Russlandfeldzugs.…

Sie wollen den ganzen Artikel downloaden? Mit der PH+-Flatrate haben Sie unbegrenzten Zugriff auf über 2.000 Artikel. Jetzt bestellen

immer eine große Rolle gespielt. Napoleons Verzweiflung angesichts des gescheiterten Russlandfeldzugs. Das Grauen Marie Antoinettes, als sie das Schafott betritt. „Gefühle sind eine wichtige Dimension des Menschseins in der Vergangenheit. Wenn uns die Vergangenheit interessiert, muss uns auch diese Dimension interessieren“, sagt Jan Plamper, Professor für Geschichte am Goldsmiths College der University of London. „In der Vergangenheit geschah das aber leider weitgehend unreflektiert, das heißt, die Historiker haben ihren Akteuren die Emotionen der heutigen Zeit übergestülpt. Man hat gedacht, dass die historischen Akteure so fühlten, wie wir fühlen.“ Plamper befasst sich mit einer relativ neuen historischen Disziplin, der Emotionsgeschichte.

Also: Haben die Menschen in früheren Zeiten so gefühlt wie wir? Oder hatten sie ganz andere Emotionen? Evolutionsforscher haben immer wieder gezeigt, dass zumindest die sogenannten Basisemotionen Freude, Wut, Ekel, Überraschung, Verachtung und Traurigkeit überall auf der Welt ganz ähnlich zum Ausdruck gebracht und diese Ausdrücke auch überall verstanden werden. Zugleich haben Ethnologen eindrucksvoll nachgewiesen, wie verschieden die Rolle der Emotionen in den Kulturen der Welt ist, wie unterschiedlich Kinder im Umgang mit Emotionen erzogen werden und wie anders emotionsgeladene Situationen bewertet und empfunden werden.

„Wenn es eine Wissenschaft gibt, von der Emotionshistoriker lernen können, ist das die Ethnologie“, so Plamper. „Wenn man ethnologische Studien liest, fällt es einem wie Schuppen von den Augen: Wenn selbst in der heutigen Welt so unterschiedlich gefühlt wird, dann ist es doch zumindest möglich, dass in der Geschichte auch sehr unterschiedlich empfunden wurde.“

Hat die Menschheit eine Kindheit durchlaufen?

Andererseits: Hätten die Menschen in der Vergangenheit völlig anders getickt als wir, wäre uns jedes Verständnis der Vergangenheit verwehrt. Doch an der menschlichen „Hardware“, den physiologischen Voraussetzungen für das Empfinden und Hervorbringen von Emotionen, hat sich in den vielleicht 12 00 Jahren, für die verwertbare Zeugnisse der Geschichte vorliegen, nicht viel verändert. Unstrittig ist aber auch die komplexe Natur der Emotionen: Sie werden eben nicht nur von der physiologischen Basis bestimmt, die alle Menschen teilen, sondern ebenso von der Kultur, in der wir leben und aufwachsen.

Überholt ist hingegen die Idee, die Menschheit habe im Laufe der Geschichte eine Art Kindheit durchlaufen, die von ungebremst ausgelebten Emotionen geprägt war, wie es etwa der Mittelalterhistoriker Johan Huizinga zu Beginn des 20. Jahrhunderts behauptet hatte. Noch der Soziologe Norbert Elias beschrieb in seinem in den 1930er Jahren entstandenen Werk Über den Prozess der Zivilisation die Entwicklung von einem natürlich-naiv-kindlichen zu einem modernen zivilisierten Menschen. Lucien Febvre war der Erste, der in den 1940er Jahren eine reflektierte Emotionsgeschichte einforderte. Das sei zwar eine „unendlich schwierige“ Aufgabe, doch der Historiker habe „kein Recht, zu desertieren“: Solange es keine Geschichte der Liebe, des Todes, der Barmherzigkeit, der Grausamkeit und der Freude gebe, „wird es Geschichte im empathischen Sinne nicht geben“.

Seither – und sicher nicht ganz unabhängig vom Boom der Emotionsforschung in Psychologie und Neurowissenschaften –, haben immer mehr Historiker diese Herausforderung angenommen und sind fast überall fündig geworden. Die emotionalen Folgen der Reformation, die sich in den verschiedenen Konfessionen ganz unterschiedlich manifestierten, sind heute ebenso ein seriöses Forschungsthema wie die Veränderungen in der emotionalen Kommunikation von Herrschern und Beherrschten im Absolutismus.

Ein ergiebiger Gegenstand ist auch die Wert- und Geringschätzung bestimmter Emotionen im Wandel der Zeiten. Trägheit (acedia) zum Beispiel war zwar schon im frühen Mittelalter im Kanon der sieben Todsünden aufgeführt, allerdings im Sinne einer Abgestumpftheit des Gemüts; erst mit der industriellen Revolution wurde die Faulheit als Arbeitsverweigerung moralisch verdammt. Und Heimweh, so die amerikanische Historikerin Susan Matt, war bis ins 19. Jahrhundert eine legitime und achtbare Emotion und wurde erst im 20. Jahrhundert zu einem Zeichen kindlicher Unreife. Einem steten Wandel unterliegt auch die emotionale Bewertung von Ereignissen: Die Hinrichtung etwa wandelte sich erst im Zuge der Aufklärung von einer Volksbelustigung, zu der man auch die Kinder mitnahm, zu einem entsetzlichen Geschehen.

Gefühlshistoriker ermitteln anhand von Indizien

Die Arbeit von Ethnologen ist aufreibend und fehleranfällig, doch gegenüber Historikern haben sie einen entscheidenden Vorteil: Sie können hingehen, die Menschen beobachten, mit ihnen sprechen, sie um Erklärungen bitten. Gefühlshistoriker hingegen sind auf Indizien angewiesen. Sie stützen sich bei ihrer Arbeit zumeist auf Quellen, die zuvor zwar nicht unbekannt waren, aber als eher nebensächlich betrachtet wurden.

„Wir haben gelernt, dass man das Zentrum oft vom Rand aus besser verstehen kann“, sagt der Archäologe Ludwig Morenz von der Universität Bonn, der sich mit dem Humor der alten Ägypter befasst. „Uns erscheint die altägyptische Kultur vor allem als ernst und durch den Totenkult geprägt, tatsächlich wurde dort auch viel gelacht“, so Morenz. Und ganz wie heute wurde nicht nur mit jemandem, sondern gerne auch über jemanden gelacht, hat Morenz festgestellt, und zwar in der sozialen Hierarchie von oben nach unten: Männer lachten über Frauen, Erwachsene über Kinder, Ägypter über Fremde. Auf Papyri und in Reliefs fand Morenz Darstellungen von Nubiern, die vor Katz und Maus um Gnade flehen, und von schlafenden Türhütern.

Eine Kostprobe aus dem Bereich Schwarze Pädagogik? Schüler tragen ihre Ohren auf dem Rücken. Erst wenn man sie schlägt, hören sie. „Das ist leicht zu verstehen, aber definitiv nicht mein Lieblingswitz“, sagt Morenz. Ihm gefällt der altägyptische Humor besser, wenn die Ägypter über sich selbst lachen: „Da gibt es etwa eine Tonscherbe, auf der ist eine ägyptische Prozession mit Götterbild dargestellt, allerdings sind die Priester Mäuse, und das Götterbild ist auch ein Mäusebild. Die Darstellung scheint keine Religionskritik zu sein, sondern wirkt eher, wie wenn heute ein Priester Kirchenwitze macht.“

Schon um das Jahr 2000 vor Christus gibt es auch Texte, die darlegen, welche Emotionen in welchen Situationen angemessen sind und welche nicht. „Was da zu lesen ist, ist uns nicht fremd“, erklärt der Archäologe Morenz: „Männer haben weniger zu weinen als Frauen, und je höher man in der hierarchischen altägyptischen Gesellschaft steht, desto weniger zeigt man seine Emotionen in der Öffentlichkeit.“ Hatten die alten Ägypter also den gleichen Humor wie wir? „Klares Ja und klares Nein“, sagt Morenz. Er geht davon aus, dass der Humor damals dieselbe Funktion hatte wie heute: als gesellschaftlicher Kitt, der den harten Alltag etwas abpolstert und das Leben angenehmer macht. Dennoch bedürfe es oft einiger kultureller Übersetzungsarbeit, um den altägyptischen Humor zu verstehen.

Je näher die Emotionshistoriker an die Gegenwart kommen, desto vielfältiger werden die Quellen, aus denen sie schöpfen können. Viel einfacher wird ihre Aufgabe trotzdem nicht. Denn selbst wenn in Inschriften, Texten oder Bildern Emotionen aufscheinen, müssen sie sich fragen: Sind das authentische Gefühle? Zeigt eine Grabinschrift die Emotionen der Hinterbliebenen oder erfüllt sie lediglich gesellschaftliche Erwartungen daran, wie Grabinschriften auszusehen haben?

Weder das Lächeln der klugen noch das Weinen der törichten Jungfrauen, deren Skulpturen an der Paradiespforte des Magdeburger Doms zu sehen sind, drückt eine Seelenregung der dargestellten Personen aus, so Elina Gertsman von der Case Western Reserve University in Ohio. Das Lächeln der um 1240 entstandenen Steinfiguren symbolisiere vielmehr die himmlische Freude der Erwählten, das Weinen den Status der Zuspätgekommenen. Nur dreißig Jahre später, am Straßburger Münster, hat sich die Bedeutung der Gesichtsausdrücke verschoben: Hier lächeln die törichten Jungfrauen, die sich gerade vom Satan verführen lassen, bei den klugen hingegen herrscht heiliger Ernst. Am Bamberger Dom schließlich grinsen die Erwählten ebenso übertrieben wie die Verworfenen. Das gotische Lächeln ist eine der vieldeutigsten Gesten der mittelalterlichen visuellen Sprache, schließt die Autorin. Authentische Emotionen sucht man hier so vergeblich wie etwa in der streng formalisierten Bildsprache der Porträtmalerei des 15. Jahrhunderts.

Barbara Rosenwein, Historikerin an der Loyola Unversity in Chicago, orientiert sich statt an Bildern an Wörtern, um mittelalterliche Emotionen dingfest zu machen. Sie verfolgt zum Beispiel deren Umfeld und Bedeutungswandel. So taucht etwa der Begriff „Wohlwollen“, der heute eher neutral verwendet wird, im 10. Jahrhundert durchgängig zusammen mit „Liebe“ auf. Daraus schließt Rosenwein, dass „Wohlwollen“ im 10. Jahrhundert auch emotionale Kraft besaß. Im nächsten Schritt gilt es herauszufinden, wie oft und in welchem Kontext die Emotionswörter verwendet werden und ob ihr Gebrauch nach Geschlecht, Stand oder Klasse variiert. Wenn man dann noch darauf schaut, welche Emotionen zu fehlen scheinen, werden die Konturen einer „emotionalen Gemeinschaft“ sichtbar, so Rosenwein.

Gefühle als Götterfunke

Seit den alten Ägyptern wurde nicht nur gefühlt, sondern auch über Gefühle nachgedacht. In den komplexen Emotionstheorien der Antike und des Mittelalters geht es nicht nur darum, wie mit Emotionen umzugehen ist, sondern auch darum, zu verstehen, was es mit ihnen auf sich hat. Sind es körperliche oder geistige Phänomene? Gehört Trauer eher in eine Kategorie mit Schmerz oder in eine Kategorie mit Freude?

Der Historiker Andreas Bähr von der Freien Universität Berlin hat sich mit der Geschichte von Furcht und Angst befasst. Er konstatiert, dass die für uns selbstverständliche Vorstellung, Emotionen seien etwas, das in einem Individuum ablaufe, recht jungen Datums ist. 1623 reiste der Jesuit Athanasius Kircher allein durch eine von „Ketzern“ bewohnte Gegend. Prompt wurde er überfallen, ausgeraubt und zu einem Baum geführt, an dem er aufgehängt werden sollte. Er reagiert – jedenfalls gemäß seiner Autobiografie – aus heutiger Sicht ein wenig überraschend: Er bricht in Tränen aus und: „Ich dankte der göttlichen Güte, dass sie mich würdig gemacht hatte, für die Ehre ihres heiligsten Namens zu sterben.“ Die Reaktion seiner Peiniger auf diesen Ausdruck von Gottvertrauen war nicht weniger erstaunlich: „Wie von panischem Schrecken befallen, zogen sie sich in das Innere des Waldes zurück und ließen mich mit meinen Kleidern und den Schriften, die sie mir genommen hatten, allein.“

Hier handelten weder die Furchtlosen noch die Furchtsamen, so Bähr, hier handelte die „göttliche Güte“. Furcht und Mut hatten ihren Ursprung nicht im Menschen, sondern in der Macht Gottes. Die handelnden Personen verstanden sich nicht im modernen Sinne als abgeschlossene Individuen, sondern als Austragungsorte von Auseinandersetzungen im göttlichen Kosmos. Erst im 18. Jahrhundert wurden Furcht und Mut als Gefühle gefasst, die dem Inneren des Menschen entsprangen. „Wer sich im 17. Jahrhundert mit Furcht und Angst auseinandersetzte, betrieb keine Individualpsychologie, sondern erörterte Kernprobleme der Theologie, der Moralphilosophie sowie der politischen und militärischen Theorie“, so Bähr.

Ute Frevert, Direktorin des Arbeitsbereichs „Geschichte der Gefühle“ am Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, konstatiert, dass bestimmte Emotionen in bestimmten Zeitaltern Konjunktur haben, in anderen hingegen eine Nebenrolle spielen oder völlig in Vergessenheit geraten. So gab es Anfang des 20. Jahrhunderts eine regelrechte Epidemie der Angst davor, lebendig begraben zu werden. Komplizierte Vorrichtungen wurden entwickelt, die es dem Unglücklichen im Zweifelsfall erlauben sollten, aus dem Sarg auf sich aufmerksam zu machen. Mit Beginn des Ersten Weltkriegs war diese Angst schlagartig verschwunden.

Jan Plamper erhofft sich von der Emotionsgeschichte Erkenntnisse über das Verhalten von Menschen bei Massenereignissen, etwa bei den Reichsparteitagen der Nationalsozialisten. Und er forscht über soldatische Angst. „Die Frage, wie Zustände extremer Angst funktionieren und was sie anrichten, beschäftigt heute wieder ganze Gesellschaften“, so Plamper. „Denken Sie etwa an die Afghanistansoldaten mit posttraumatischer Belastungsstörung.“

Er hat aber auch Bedenken, sollten sich die Gefühle zu sehr in der Vordergrund der Geschichtsforschung schieben: „Ich befürchte, dass sich mit der Emotionsgeschichte ein Hintertürchen für sehr grobe Verallgemeinerungen wie den Nationalcharakter öffnen könnte. Dass wir die ganzen Differenzierungen, die wir gelernt haben – nach sozialer Zugehörigkeit, nach Geschlecht, nach Ethnizität – unter den Tisch fallenlassen und stehenbleibt dann so etwas wie: ‚Die ganze westliche Welt lebt seit 9/11 in einem Zeitalter der Angst.‘ Das ist definitiv zu wenig.“

Literatur

  • Andreas Bähr: Furcht und Furchtlosigkeit. Göttliche Gewalt und Selbstkonstitution im 17. Jahrhundert. Göttingen 2013

  • Ute Frevert: Vergängliche Gefühle. Göttingen 2013

  • Ludwig Morenz: Kleine Archäologie des ägyptischen Humors. Ein kulturgeschichtlicher Testschnitt. Berlin 2014 (2. Auflage)

  • Dominik Perler: Transformationen der Gefühle. Philosophische Emotionstheorien 1270–1670. Frankfurt a. . 2011

  • Jan Plamper: Geschichte und Gefühl. Grundlagen der Emotionsgeschichte. München 2012

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Die Angst vor Nähe: Psychologie Heute 2/2015