„Radikalisierung ist auch ein Bildungsprozess“

Was motiviert junge Menschen, sich einer islamistischen Terrorgruppe anzuschließen? Ein Gespräch mit dem Konflikt- und Gewaltforscher Andreas Zick.

Herr Professor Zick, der „Islamische Staat“ sorgt weltweit nicht nur für Angst und Schrecken, die Organisation übt auf manche junge Menschen eine nicht leicht zu verstehende Faszination aus. Wie groß ist diese Gruppe der Sympathisanten?

In Deutschland sind es einige Tausend Jugendliche, in Europa ein Vielfaches davon, die mit den radikalen Ideen des IS sympathisieren. Mehr als 500 Jugendliche oder junge Heranwachsende bekennen sich in Deutschland bereits zum IS, und die Zahl wächst. Einige mehr stehen unter…

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Heranwachsende bekennen sich in Deutschland bereits zum IS, und die Zahl wächst. Einige mehr stehen unter Beobachtung des Staats- und Verfassungsschutzes. Und dann gibt es noch einmal um die 300 bis 400 Personen, die schon für den IS im Ausland kämpfen. Die Zahlen schwanken enorm, der Staat kann ja nicht jeden Jugendlichen durchleuchten. In Österreich ist die Zahl ähnlich hoch, und auch in Holland gibt es wohl etwa 2000 junge Männer, die sich als Vertreter des IS in ihrem Land verstehen. Wenn man alle europäischen Länder zusammenzählte, käme man auf eine beachtliche Zahl an gewaltbereiten IS-Sympathisanten. Die Lage ist also sehr angespannt, das heißt, die Gefahr, dass hier im Namen des IS Gewalt ausgeübt wird, steigt. Zumal zu solchen Taten immer wieder von außen oder im Land selbst aufgerufen wird und einige terrorbereite Männer nicht mehr ausreisen können oder dürfen.

Was macht eine radikale islamistische Bewegung für deutsche Jugendliche attraktiv?

Es ist nicht primär der Islam als Religion, es geht um den überbordenden Selbstwert, der mit der Religion zusammen versprochen wird. Das ist wie ein Ballon, den man aufblasen kann. Der Islam ist sehr heterogen, und die übergroße Mehrheit will weder den IS noch ein Kalifat. Das Kalifat ist lediglich ein Symbol, das in bestimmten Kreisen gerade äußerst attraktiv ist, ähnlich wie bei den Rechtsextremen die Idee eines national einheitlichen Staates, in dem die deutsche Rasse an erster Stelle steht.

Die Frage ist nun, warum die Radikalität attraktiv ist. Hier scheint eine Dynamik aus einer Überhöhung der Gruppe und einem Populismus der Minderwertigkeit zu wirken. Wir beobachten in Studien, dass sich in Europa junge Muslime mit dem Land, in dem sie leben, durchaus identifizieren, aber zugleich immer wieder erfahren, dass der Islam hier so eine Art B-Kultur ist. Die A-Kultur ist jüdisch-christlich-abendländisch, der Islam wird verdächtigt. Dazu machen die Jugendlichen die Erfahrung, dass sie für alles Negative, was über den Islam berichtet wird, mitverantwortlich gemacht werden. Das öffnet die Tore für die Propaganda jener, die die Jugendlichen mit dem Versprechen eines besseren Lebens ködern möchten.

Wie kann das funktionieren?

Das ist ein ganz komplexer Prozess. Meiner Meinung nach läuft er so ab: Die Propagandamaschinerie des IS spricht junge Muslime an und versorgt sie mit Informationen, die ihnen zeigen sollen, dass sie als minderwertig behandelt werden: „Für die bist du, ist der Islam der letzte Dreck.“ Man gibt ihnen den Opferstatus, sagt ihnen, sie seien ohnmächtig, ein Nichts. Dann zeigt man ihnen die Schuldigen: der Westen, dein Land, die anderen Jugendlichen, die Ungläubigen. Auf der nächsten Stufe heißt es dann: Wir bieten dir einen Ausweg, eine Hoffnung. Und nicht nur das, wir bieten dir Stärke, Macht, eine Gemeinschaft. Und wenn du die haben willst, das wäre die letzte Stufe, musst du alles hinter dir lassen und zu uns kommen. Das ist bei allen extremistischen Gruppen so, bei Rockergangs wie bei der Mafia: Zuerst drückt man das Selbstwertgefühl, dann bläst man es über die Maßen auf. Und dann kommen noch attraktive kulturelle Aufladungen dazu, wie etwa durch Musik.

Musik im radikalen Islam?

Sie spielt eine Riesenrolle, die ganze Propaganda läuft mit Musik ab. Jeder Selbstmordattentäter, den wir in den Akten haben, hat, bevor er losgezogen ist, seine individuelle Musik bekommen, sein Lied. Manche haben es auf dem MP3-Player gehört, als sie sich in die Luft gesprengt haben.

Was sind das für Jugendliche, die sich dem IS anschließen?

Auch wenn wir dazu noch mehr Forschung benötigen, zeichnet sich doch ab: Man muss die, die wirklich losziehen und töten, von denen unterscheiden, die sich dem Ganzen „nur“ ideologisch anschließen. Einige sind auf Terror und Mord aus, die haben oft, wenn sie in Europa aufgewachsen sind, Spuren von psychischen Störungen oder auch Beziehungsprobleme. Die meisten Sympathisanten haben hingegen eine relativ normale Biografie, viele haben jedoch individuelle Kränkungen erlebt. Das kann der Bruch einer Beziehung sein, Eltern, die sich trennen. Andere haben Leistungsdefizite in der Schule und fangen an, diese komisch zu interpretieren. Eine Vier im Zeugnis ist ja kein Grund, sich von der Gesellschaft ausgestoßen zu fühlen, hinter so einer Interpretation stehen immer noch andere Missachtungserlebnisse. Sich isoliert fühlen und scheitern, das ist eine ungute Mischung. Wer sich selbst immer als Opfer sieht, andere aber total verachtet, ist anfällig für radikale Communitys und radikale soziale Identitäten. Zur tatsächlichen Radikalisierung kommt es aber erst, wenn terroraffine Menschen ihre Identität zu einer radikalen Identität verändern und sich in den Dienst von Gruppen stellen, die diese Identität prägen.

Spielen dabei Werte und Normen keine Rolle?

Die Anomietheorie sagt: Aus einem massiven Verlust an Werten und Normen resultiert eine Orientierungslosigkeit. Und in der Orientierungslosigkeit fallen die Menschen auf so etwas Rückwärtsgewandtes wie das Kalifat zurück. Ich denke, die Theorie hat etwas für sich, aber es muss noch etwas dazukommen: das Gefühl, in die gesellschaftlichen Institutionen nicht richtig eingebunden zu sein. Das erzeugt die Anfälligkeit für menschenfeindliche Bilder, für Extremismen. Das müssen wir uns als Gesellschaft klarmachen: Wenn wir zu Gewalt neigende Jugendliche haben, die sich aus der Normgesellschaft einer extremistischen Gruppe zuwenden, dann stimmt etwas in der Gesellschaft nicht, dann hatte die Gesellschaft für diese Jugendlichen offenbar kein Angebot. Es liegt nicht daran, dass das alles Soziopathen sind. Wir müssen die Bindefähigkeit unserer Institutionen im Blick haben.

Also etwa der Schulen?

Ja, ich glaube, dass wir in Nordrhein-Westfalen mit dem Islamunterricht einen ganz großen Sprung gemacht haben, der dringend nötig war.

Fehlt den Jugendlichen religiöse Bildung?

Ja, zumeist wissen sie fast nichts über ihre Religion und haben der radikalen Propaganda nichts entgegenzusetzen. Es klingt vielleicht seltsam, aber wir müssen sehen, dass Radikalisierung auch ein Bildungsprozess ist. Da setzt man sich viel mit Kultur und Politik auseinander. Man kann sagen, dass hochradikalisierte Jugendliche eine Bildung durchmachen, die sie woanders nicht bekommen. Sie interessieren sich für Religion, den Sinn des Lebens, die Bedeutung von Werten und Normen, sie sind auf der Suche nach einer sozialen Identität, die sie einbindet. Von den radikalen Gruppen bekommen sie Antworten – in Form einer gut organisierten Propaganda.

Es wäre schön, wenn jene muslimischen Jugendlichen, die in Moscheen gehen, da mal genau hinhörten und dort ihre Bildung erfahren würden, ganz zu schweigen von denen, die gar nicht hingehen. Ich meine natürlich gemäßigte Moscheen, wie sie in der Mehrzahl sind. Wir haben große Übereinstimmung in den meisten religiösen Gemeinschaften, dass Gewalt keine Lösung ist, dass demokratische Aushandlung wichtig ist. Eigentlich sollten die Religionsgemeinschaften der Puffer sein, der Radikalisierungsbewegungen abfedert. Das Problem sind die fundamentalistischen Moscheevereine und die neuen „Gemeinden“ im Internet. Dort ist es schwierig, an die Jugendlichen heranzukommen. Es gibt in unserer Gesellschaft immer mehr fragmentierte Parallelgemeinschaften, die überhaupt nicht mehr erreichbar sind und die auch mit Demokratie nichts mehr am Hut haben. Das wird in Zukunft ein großes Problem.

Heißt das, die Gesellschaft macht den Jugendlichen keine überzeugenden Sinnangebote?

Jugendliche stellen Sinnfragen, und die Gesellschaft muss ihnen Identitätsangebote machen. Angebote, keine Vorschriften. Heute löst sich die Phase der Jugend immer stärker auf. Und das ist uns als Gesellschaft egal, weil wir, wenn wir ehrlich sind, gar keine Jugend mehr wollen. Am besten sollen die Kinder mit 12, 13 Jahren schon vollkommen autonom zurechtkommen. Mit 16 sollen sie wählen, mit 17 sitzen sie in der Universität oder schließen ihre Bildung ab. Das Allerwichtigste, was ein Kind in unserem Land tun soll, ist, sich im Bildungswettbewerb durchzusetzen. Jeden Morgen aufstehen nach dem Motto: Mach deinen Weg und mach ihn allein. Und wir reden über Jugend, als sei sie vor allem ein Problem. Viele Jugendliche nehmen sich als überflüssig wahr, weil es für sie keine Arbeit gibt. In ihrer Lebenswirklichkeit öffnen sich keine Freiräume. Denken Sie nur an die massiven Proteste gegen Polizei und Staat in Spanien, Portugal und Griechenland. Das ist ein globales Jugendproblem, für das wir keine Antworten haben. Und das macht extreme Gruppen interessant, die es schaffen, drei zentrale Identitätssphären anzubieten: deine Gruppe, deine Religion, deine begrenzte Welt. In solchen Konstellationen wachsen Extremisten heran.

Was lockt die Jugendlichen ohne Migrationshintergrund?

Das wissen wir nicht genau, weil wir noch klären müssen, was „Migrationshintergrund“ eigentlich ist. Aber es gibt offenbar einen Geschlechterunterschied: Für junge Frauen ist das sehr konservative Familienbild attraktiv, sie sehen im radikalen Islam eine Möglichkeit, Familienorientierung zu realisieren. Wir wissen von den beiden Mädchen aus Österreich, die kürzlich nach Syrien gezogen sind, dass sie sich, ohne dass jemand das mitbekommen hätte, viel mit anderen jungen Frauen ausgetauscht haben, die ihnen vorgeschwärmt haben, wie schön das Leben in Syrien sei, dass sie dort als Frau geachtet würden. Was passiert, wenn man einmal im Land ist und seinen Pass nicht mehr hat, daran haben sie nicht gedacht. Bei den Männern geht es um Dominanzideologien. Männer haben dort eine klare Rolle, das ist für manche sehr attraktiv. Wir haben uns die Biografien von jungen Männern angesehen, die wirklich losgezogen sind, um zu töten, wir wollten verstehen, was da geschieht. Und da spielte ein überbordendes, starkes Männerbild eine sehr große Rolle.

Lockt manche auch das große Abenteuer?

Einige stellen sich das als Abenteuer oder Sensation vor, damit kann man Sorgen und Ängste bekämpfen. Das ist aber nur ein Puzzlestück. Was den Extremismus so attraktiv macht, ist, dass er eigentlich alles bietet. Er ist wie eine große Kiste, aus der ich immer wieder neue Teile herausziehen kann, die meinem Leben Sinn, Identität verschaffen und die Gewalt legitimieren. Dass er völlig variabel ist, macht den Extremismus auch so gefährlich. Wir denken, Extremismus sei ein konsistentes Weltbild, das trifft aber nicht zu. Da kämpfen Diebe, Verbrecher, Menschen, die massiv gegen islamisches Recht verstoßen, für den IS. Das sind zum Teil Psychopathen, die gegen jede Form von Zivilisation und Regeln angehen. Das ist aber gar kein Problem, solange sie für die gerechte Sache kämpfen. Alles ist legitim, solange es konform ist. Und es geht natürlich um Land und um Geld. Terrorbewegungen haben auch ein ökonomisches Motiv. Da bereichern sich Menschen und nehmen dafür das Töten in Kauf.

Man kann sich kaum vorstellen, dass europäische Jugendliche gute Wüstenkrieger abgeben. Wozu werden sie gebraucht?

Die europäischen Kämpfer sind nicht als Soldaten wichtig, sondern für die Propagandamaschine, weil sie andere nachziehen und weil sie europäische Sprachen beherrschen, daher werden sie auch eher geschont. Sie sind oft viel stärker ideologisiert als die einheimischen Kämpfer. Viele bekommen auch die Anweisung, in ihrem Land zu bleiben. Die sollen hier für Unruhe sorgen.

Was berichten die Rückkehrer?

An die kommen wir als Forscher nicht leicht heran, für die interessiert sich zuerst der Staats- und Verfassungsschutz, und das ist auch richtig so. Es gibt Rückkehrer, die haben den Auftrag mitbekommen, hier weiterzumachen und eine Gemeinschaft zu bilden. Dann haben wir die, die aussteigen wollen, die brauchen eine komplett neue Identität. Und bald wird es Rückkehrer geben, die stark traumatisiert aus dem Krieg kommen. Das wird eine große Herausforderung. Man muss sie hier in Institutionen einbinden, die Gewalt nicht akzeptieren, da sind unsere muslimischen Gemeinden sehr wichtig. Auch die Jugendlichen in den Schulen spielen eine große Rolle, man muss sehen, wo die Seismografen, die Beziehungspartner sind. Strafverfolgung allein schützt nicht vor Gewalt. Was uns am sichersten von Gewalttaten abhält, sind positive, sichere Beziehungen zu Menschen, die nicht gewaltbereit sind.

Welche Rolle spielt die religiöse Dimension?

Natürlich macht eine göttliche Legitimation den Fundamentalismus zusätzlich attraktiv. Das gilt nicht nur für den Islam, das sehen wir von den Kreuzzügen bis Anders Breivik. Religion wird fundamentalistisch überhöht und zur Rechtfertigung von Gewalt gegen ihre Feinde heranzogen. Die interessante Frage ist jetzt, wie stark sie den Frieden legitimiert und moralisch wie dogmatisch einfordert. Ziel der Extremisten ist, den Dialog zu zerstören, das Bild einer friedliebenden, friedensfähigen Religion. Dass hier ein Angriff auf die Friedensfähigkeit stattfindet, verbindet uns alle, Nichtkonfessionelle, Christen, Juden, Muslime. Da darf man sich nicht hineinziehen lassen. In meinen Seminaren muss kein muslimischer Studierender den anderen erklären, ob der Islam gewalttätig ist oder nicht. Und mit der Idee der Umma, der Gemeinschaft, in der man Konflikte löst, ohne Gewalt auszuüben, war der Islam philosophisch sehr weit vorn.

Für viele junge Menschen ist die Frage, ob es eine fundamentale Idee gibt, die alle Menschen verbindet, sehr attraktiv, und es ist sehr unbefriedigend zu sehen, dass es die nicht gibt. Aber wo es nur eine Idee für alle geben soll, wird es gefährlich. Ich hoffe sehr, dass man die Idee nicht aufgibt, dass die Menschen voneinander lernen können. Die Religiösen voneinander, aber auch die Religiösen von den Nichtkonfessionellen. In allen unseren Studien zeigten sich die Konfessionslosen viel friedfertiger als alle anderen. Vielleicht liegt das an der säkularen Idee, zu achten, dass es da einen Freiraum gibt, in dem man religiös oder Sportler oder was auch immer sein kann, und wenn das für andere anders ist, ist das auch in Ordnung.

Der Sozialpsychologe Andreas Zick ist Direktor des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld und Professor für Sozialisation und Konfliktforschung an der dortigen Fakultät für Erziehungswissenschaft. Er befasst sich vor allem mit Gruppenkonflikten, Vorurteilen und Diskriminierung, mit den Problemen der Akkulturation, mit Extremismus und Radikalisierung.

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Die Angst vor Nähe: Psychologie Heute 2/2015