„Ihr könnt nach Hause fahrn!“

Es wird wieder gegrölt in den Fankurven der Fußball-EM in Frankreich. Fangesänge sind komplexer als gedacht, so Musikpsychologe Reinhard Kopiez.

Zur Europameisterschaft reisen jetzt viele Fans nach Frankreich, um ihre Teams zu unterstützen. Aber bei Länderspielen wird erfahrungsgemäß weniger gesungen als in den nationalen Ligen. Warum eigentlich?

Das stimmt schon, es wird weniger gesungen. So gesehen sind Länderspiele eine Enttäuschung. Es fehlen die Identifikationspunkte, die auf der nationalen Ebene in den Ligen viel stärker ausgeprägt sind. Und die Fans sind bei Länderspielen mehr oder weniger zusammengewürfelt. Der Fangesang funktioniert so…

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Und die Fans sind bei Länderspielen mehr oder weniger zusammengewürfelt. Der Fangesang funktioniert so ähnlich wie die Messe in der katholischen Kirche. Man muss schon regelmäßig gemeinsam hingehen, damit man in der Materie drinbleibt. Die Leute müssen die Gesänge üben, erweitern und pflegen.

Bei welchen Spielen der EM können wir die lautstärksten Gesänge erwarten?

Vermutlich bei denen mit britischen Mannschaften. Die Bewohner der britischen Inseln sind ungeschlagen, was die Bereitschaft zu singen angeht. Das kann man auch hören. Die singen teilweise 10 bis 15 Minuten lang ihre Standards durch. Flapsig gesprochen, haben die Briten schon gesungen, als wir noch auf den Bäumen saßen. Sie haben daher einen Vorsprung, der auch noch Jahrzehnte später trägt. Das haben wir hier in Deutschland nie erreicht. Das muss man neidlos anerkennen.

Seit wann gibt es Fangesänge überhaupt?

Der Fangesang ist in den 1960er Jahren in Europa entstanden, erst in England und dann ungefähr ab Mitte der siebziger Jahre in Deutschland. In alten Filmen haben wir einen frühen Vorläufer aus dem Jahre 1953 gefunden. Meist wurden damals bei der Eröffnungszeremonie in England Erbauungshymnen gesungen, zum Beispiel Abide with Me. Das ist ein ähnliches Lied wie Herr, bleib bei uns, denn es will Abend werden.

Und wie fing die Forschung über Fanlieder an?

Erst im Nachhinein habe ich entdeckt, dass der englische Verhaltensforscher Desmond Morris bereits 1981 ein Buch geschrieben hatte mit dem Titel The Soccer Tribe. Zum größten Teil geht es darin jedoch um Kleidung und um Rituale. Ganz am Ende kommt er auch auf die Gesänge des Fußballstamms zu sprechen. Stammesgesänge, tribal chants, hat er das genannt, songs of praise and hymns of hate, Lobpreisungen des eigenen Teams und Hassgesänge auf den Gegner. Da hat man eigentlich schon alles drin.

Wie sind Sie auf dieses für einen Professor der Musikpsychologie untypische Thema ­gestoßen?

Wie so oft in der Wissenschaft war es eine Mischung aus Zufall und systematischer Beobachtung bestimmter Situationen. Bei mir war der Auslöser die Weltmeisterschaft von 1990. Ich habe schnell festgestellt, dass das viel mehr ist als Gegröle. Es schien ein System, Regeln und ein Repertoire zu geben. Ich habe dann die Spiele aufgenommen, damals noch auf Video, um sie später in Ruhe zu systematisieren und zu transkribieren: Also, wo kommen die Lieder her, welche werden gesungen, wann werden sie gesungen, und wie viel wird gesungen?

Und wie entstehen jetzt Lieder wie zum Beispiel Ihr könnt nach Hause fahrn?

Die Fans bedienen sich im Wesentlichen aus den Quellen Oper, Pop und Karneval. Manchmal ist ein bisschen Volkslied dabei, viel genutzt wird zum Beispiel Guantanamera. Oder man nimmt ein Spiritual. Die Melodien haben schon eine gewisse Bekanntheit und werden dann textiert.

Das sind aber immer die gleichen Melodien.

Das macht nichts. Neu ist das Lied, wenn es einen neuen Text hat. Der Text transportiert die originale Botschaft und die Abgrenzung zu anderen Vereinen.

Kann man die Gesänge genauer differenzieren?

Es gibt Klatschrhythmen, Kurzgesänge, rhythmisches Singen und Wechselgesänge. Es gibt Kommentare, die wie ein griechischer Chor das aktuelle Geschehen kommentieren, also zum Beispiel ein Tor feiern. In manchen Phasen unterhalten sich die Fans aber auch selbst mit ihrem Gesang, dann ist kein Bezug zum Spiel vorhanden. In anderen Phasen fordern sie mehr Aktivität von den Spielern, wenn zum Beispiel der bekannte Ruf Scheißmillionäre gesungen wird.

Singen auch Frauen mit?

Sie singen mit, sind aber nicht stimmgewaltig genug, weil sie die kritische Masse nicht erreichen. Soweit wir beobachtet haben, ist Singen eine männliche Angelegenheit.

Gibt es denn ein Lied, das Ihnen besonders gut gefällt?

Die Frage finde ich gut. Ich muss darüber nachdenken … Es gibt eines, das mich erstaunt hat, weil es zeigt, dass Fans auch einen guten Geschmack haben. Das ist die Melodie aus dem Mittelteil des Marsches Land of Hope and Glory aus Pomp and Circumstance von Edward Elgar. Ich habe sie von den Fans von Bayern München gehört, die ja sehr kreativ sind. Auf diese Melodie haben sie dann „FC Bayern München, FC Bayern München“ gesungen. (Reinhard Kopiez summt die Anfangstakte des Marsches.)

Das ist gar nicht einfach zu singen.

Überhaupt nicht, weil die Melodie rauf- und runtergeht. Der Text ist natürlich anspruchslos, aber die Melodie muss man erst einmal erlernen. Das heißt jede Woche üben, weil die Fans ja quasi ein Gesangsverein ohne Notenbuch sind. Durchschnittlich haben die Vereine etwa 70 bis 100 Gesänge, die gepflegt werden müssen. Das ist eine respektable Leistung für eine mündliche Kulturform.

Sind Fangesänge die neuen Volkslieder?

Ich würde sagen: „jein“. Sie könnten vielleicht mal auch wie ein Volkslied gesungen werden. Aber in der Regel sind sie im Gegensatz zu den alten Volksliedern an einen Ort gebunden. Was aus der populären Musik in die Stadien einsickert, durchläuft sorgfältige Auswahlprozesse, die nicht transparent sind. Es wird etwas ausprobiert, was man gehört hat, und auf der langen Bus- oder Bahnfahrt zum Stadion werden die Texte geübt.

Wer darf denn ausprobieren?

Bestimmte Personen dürfen das, solche, die spontane Ideen für neue Texte haben. Entweder werden sie sofort angenommen oder gleich verworfen. Die Texter haben einen bestimmten Status innerhalb der Gruppe, sind besonders treue Fans oder haben eine lautstarke Stimme. Aber bisher ist nicht ganz durchschaubar, nach welchen Regeln die Suche verläuft.

Die singenden Fans sind während des gesamten Spiels gefordert, nicht wahr?

Sie müssen höllisch aufpassen, weil ständig etwas Neues passiert. Wir haben ausgerechnet, dass alle neunzig Sekunden irgendeine neue Aktion auf dem Feld startet. Wenn eine Singaktion vierzig Sekunden dauert, hat man bis zum nächsten Einsatz nur eine kurze Pause zum Luftholen. Der richtige Fan geht nicht zur Erholung ins Stadion, er ist immer gefordert und muss ständig etwas beitragen. Das führt dazu, dass die Stimmführer, die chant leader, die die Chöre koordinieren, spätestens bis zur Halbzeit ausgetauscht werden. Häufig müssen sie sogar zweimal während eines Spiels wechseln, weil sie sich völlig verausgabt haben.

Welche Rolle spielen die Trommler, die manchmal die Mannschaft unterstützen?

Wer Instrumente mitbringen darf, ist privilegiert. Wer zum Beispiel einen Trompeter hat, spielt auch musikalisch in der ersten Liga. Das ist meines Wissens bei Bayern der Fall, und das war lange bei Schalke 04 so. Dieser Mensch muss natürlich das Repertoire kennen, und er muss halbwegs brauchbar Trompete spielen. Mit solchen Leuten hat man ein Zugpferd, da machen sofort alle mit. Die zweite Gruppe sind die Trommler, die Schlagzeuger, die für eine permanente Aktivierung sorgen. Da haben wir natürlich Parallelen in der Musikgeschichte: Mit Pauken und Trompeten war ein Fürst ausgestattet, wenn er genug Geld hatte. Man zog in den Krieg mit Pauken und Trompeten. Das ist die musikalische Königsklasse. Und das Fußvolk muss singen.

Ehrlich gesagt, das ganze Umfeld eines Fußballspiels mit Trommeln, Fahnen und bemalten Gesichtern mutet doch recht eigentümlich an.

Alle Phänomene, die über einen langen Zeitraum eine so hohe Resonanz erzielen, müssen etwas haben, was sehr archaische Instinkte in uns anregt. Sonst wären sie schnell wieder verschwunden. Einen Erklärungsversuch bietet der Bezug zum Ritual. Die Anthropologie würde sagen, ein Ritual ist alles, was nicht alltäglich ist und wiederholt wird. Das Nichtalltägliche ist schon der Ort, den man aufsuchen muss. Der ist außerhalb, da muss man hinfahren, das kostet Geld und Zeit. Wir treten aus dem Alltag heraus in eine besondere Situation. Und die richtigen Fans, nicht die in den Sitzschalen, sondern die auf den Stehplätzen, haben eine nicht alltägliche Kleidung, die Kutte. Eine nicht alltägliche Bewegung, das ist das Tanzen, Singen und Klatschen. Und das zugehörige Getränk, das Narkotikum, ist das Bier. Mit diesen drei Komponenten, Narkotikum, Tanz und Maske, sind wir schon ziemlich dicht an dem dran, was man in vielen Kulturen beobachten kann, wenn Menschen Entgrenzungserfahrungen aufsuchen. Es gibt eine Sehnsucht nach Deindividualisierung, also danach, in der großen Masse aufzugehen. Das weiß man, wenn man einmal in Dortmund in der Kurve gestanden hat. Gustave Le Bon hat ja in der Psychologie der Massen beschrieben, wie das funktioniert (siehe auch „Im Fokus“, Heft 6/2016). Menschen verspüren eine gewisse Lust an der Deindividualisierung oder, pointiert ausgedrückt, am Kontrollverlust.

Der auch nicht ungefährlich ist?

Stimmt. Ich glaube, da setzt Faszination immer an, nämlich bei widersprüchlichen Momenten. Sie üben einen Sog aus und haben gleichzeitig etwas Bedrohliches. Ich verliere und ich gewinne auch etwas. Sich diesem Strom, dem Kollektiven hinzugeben und gleichzeitig zu wissen, dass es nicht ungefährlich ist, weil die Situation nicht mehr ganz beherrschbar ist.

Wie kommen Menschen dazu, so merkwürdige Lieder zu singen wie „Allez ho ho, ich geb mein Herz für dich, ich lass dich nicht im Stich“?

O ja. Die Fans, die richtigen Fans wohlgemerkt, identifizieren sich so stark mit dem Verein, dass sie unbegrenzt Zeit, Geld und Leben einsetzen. Fahren nach XY, nehmen drei Tage Urlaub, schlafen kaum und zahlen 800 Euro, um irgendwo in Osteuropa ein Spiel zu sehen. Es gibt noch drei weitere Motive für so eine Anteilnahme, die die Sozialpsychologie neben der Identifikation aufgespürt hat. Das ist einmal die Selbstdarstellung, unser Bedürfnis nach Selbstinszenierung. Dann haben wir einen Anspruch auf Stimmungsregulation, wir wollen gute Stimmung erhalten und schlechte vermeiden. Und der letzte Punkt ist die Idee von Kontrolle. Man glaubt, durch sein Verhalten, durch sein Singen das Spiel beeinflussen zu können. Mit diesem Viererpaket lässt sich ziemlich erschöpfend die Sozialpsychologie der Motive erklären, die Leute bewegen, in ein Fußballstadion zu gehen und sich so komisch zu verhalten.

Apropos Kontrolle: Kann Singen der eigenen Mannschaft den Sieg bringen?

Die Befunde sind hier widersprüchlich. Nicht alle Fans möchten das vielleicht hören. Es gibt eine Studie eines Sportwissenschaftlers aus Münster, Bernd Strauß, allerdings für den American Football. Er hat festgestellt, dass viel Fanaktivität sich negativ auf die Leistung auswirken kann. Das wird auch in der sportwissenschaftlichen Forschung so bestätigt. Denn wir haben beim Fußball eine Konditionskomponente, da geht es um Ausdauer. Aber auch eine anspruchsvolle koordinative Komponente, da geht es um Kombinationen und um die umsichtige Vorausschau. Die Kondition profitiert von Anfeuerungen durch das Publikum. Aber die koordinative Komponente wird mitunter negativ beeinflusst. Strauß hat das provokativ so formuliert: Wenn Fans ihre Mannschaft zur Niederlage klatschen. Ein schönes Bonmot.

Was sagt die Forschung zu den Schmähgesängen auf die Gegner? Gibt es Nachweise, dass Beschimpfungen zu tätlicher Gewalt führen?

Nein, die gibt es nicht. Ursache und Wirkung lassen sich hier nicht sauber auseinanderhalten. Schmähgesänge sind Drohgebärden, wie wir sie auch aus dem Tierreich kennen. Da wird sich aufgeplustert, da werden die Federn hochgestellt, und die Nackenhaare sträuben sich. Bevor wirklich zugebissen wird, muss schon viel passieren. Die Gesänge sind eine Art von Markierungen im Kampf um das Revier, vielleicht so etwas wie akustische Duftmarken, die abgesetzt werden. Wir sprechen ja auch von der Final- oder der Pokalschlacht. Von dieser Ebene aus gesehen, dürfen Lieder nie zu freundlich sein. Sie müssen unter die Gürtellinie zielen, um den Gegner psychologisch zu verunsichern. Das ist halt keine Kuschelecke und auch politisch oft nicht korrekt. Die Beschimpfungen, die Diffamierungen sind als ritualisierte Formen zu verstehen, ähnlich wie die übersteigerten männlichen Verhaltensweisen in der Rapmusik.

Hat sich in den vergangenen Jahren bei den Fangesängen etwas geändert?

Bei den Gesängen kaum. Was hinzugekommen ist, sind die multisensorischen Erlebnisse, wie man es wissenschaftlich ausdrücken würde. Besonders die Choreografien, die Farbtafeln, die großen Fahnen, die Bewegungen der Fangruppen, die vor den Spielen mit viel Fantasie und tollen Ideen große Inszenierungen machen. Die Ultra-Fans verwenden viel Zeit und Geld für die Vorbereitung. Ich finde das bewundernswert.

Eine Auswahl von Fangesängen aus der Bundesliga, hübsch geordnet nach Verein, finden Sie hier: https://www.youtube.com/watch?v=ugmV_sufjck

Reinhard Kopiez ist Professor für Musikpsychologie an der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover. 1998 schrieb er ­zusammen mit Guido Brink das Buch­ Fußball-Fangesänge. Eine Fanomenologie.

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 7/2016: Mut zur Unsicherheit