Der jüdische US-Satiriker Bill Maher meinte nach dem Pariser Attentat: „Wenn der Islam so viele faule Äpfel hervorbringt, dann muss auch etwas mit den Apfelbäumen nicht in Ordnung sein.“ Was ist faul am Islam, ist er wirklich mehr als andere Religionen dem Terror zugeneigt?
Die politischen Krisen in der islamischen Welt sind derzeit größer als anderswo. Es gibt riesige Unterschiede bei der Verteilung des Reichtums. Der sehr arme Jemen grenzt an die superreichen Golfstaaten und Saudi-Arabien. Die…
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zu einem Burggraben geworden. Bedenken Sie, dass Algerien bis 1962 ein Teil des französischen Staates war, nicht nur eine Kolonie. Und heute können die Nordafrikaner nur noch unter größten Schwierigkeiten – und die meisten gar nicht – nach Europa einreisen. In den 1970er Jahren wurde derselbe Terror, den wir heute dem Islam zuschreiben, unter den Vorzeichen des Sozialismus verübt. Und wie heute sind auch die Terroristen damals in den Nahen Osten gereist, um sich ausbilden zu lassen. Denken wir an Carlos oder an die RAF-Terroristen in palästinensischen Camps – was sie damals verband, waren die kommunistische Ideologie und die Idee des politischen Kampfes. Heute wird derselbe Kampf islamisch begründet. Aber der Baum, der diese Äpfel abwirft, sind nach wie vor die politischen Probleme, die wirtschaftliche Ungleichheit und die Chancenungleichheit. Wenn wir diese nicht bekämpfen, werden wir immer Krieg und Terror haben, gleich unter welchen Vorzeichen.Ideologie und die Idee des politischen Kampfes. Heute wird derselbe Kampf islamisch begründet. Aber der Baum, der diese Äpfel abwirft, sind nach wie vor die politischen Probleme, die wirtschaftliche Ungleichheit und die Chancenungleichheit. Wenn wir diese nicht bekämpfen, werden wir immer Krieg und Terror haben, gleich unter welchen Vorzeichen.
Islamwissenschaftler meinen, man könne den Koran sowohl als friedliebend als auch als gewalttätig interpretieren. Kann also jeder aus dem Koran herauslesen, was er möchte? Gibt es Passagen, die Gewalt legitimieren?
Es gibt beides, ja. Die meisten Nichtmuslime wissen nicht, dass der Koran die verschiedenen Lebenssituationen der muslimischen Gemeinde zu Lebzeiten Mohammeds widerspiegelt. Am Anfang in Mekka waren sie eine verfolgte Minderheit. Gewalt konnten sie sich nicht leisten, weil sie hoffnungslos unterlegen gewesen wären. Als die Gläubigen dann 622 nach Medina ins Exil gingen, gelang es ihnen, dort ein eigenes Gemeinwesen – manchmal übertrieben „Staat“ genannt – zu begründen. Von dort aus haben sie dann nach einigen gescheiterten Anläufen Mekka zurückerobert. Aus jener späteren Zeit stammen die Verse, mit denen sich Gewalt oder ein militärischer Dschihad – es gibt auch einen spirituellen – rechtfertigen lässt. So gesehen ist der Koran widersprüchlich, aber jeder weiß, dass sich auch aus der Bibel keine widerspruchsfreie Weltanschauung herauslesen lässt, ohne dem Text Gewalt anzutun. Alle diese Texte haben ihre Geschichte in sich, spiegeln sie. Das macht sie interessant, reizvoll, aber für ein modernes Bewusstsein, das Klarheit und Eindeutigkeit gewohnt ist, auch provokant. Wer einen alten religiösen Text allerdings wie die Gebrauchsanweisung für eine Spülmaschine oder einen Ratgeber liest, dem ist nicht zu helfen. Leider tun dies islamische Extremisten und Islamfeinde gleichermaßen. Ich würde einen spirituellen oder rituellen Umgang mit dem Text empfehlen, zum Beispiel die Rezitation im Gebet. Das tun die meisten Muslime, aber nicht alle. Entsprechend unterschiedlich sind die Ergebnisse der Koranlektüre.
Die Attentäter von Paris beriefen sich für ihre mörderischen Taten auf den Islam.
Ich glaube, dass der Terrorismus in der islamischen Welt wie überall vor allem soziale, politische und wirtschaftliche Ursachen hat. Wenn diese Ursachen mit einer bestimmten Ideologie erklärt, gedeutet und bekämpft werden, erscheint für manche Menschen der Terrorismus gerechtfertigt. Wenn dann noch die Ausgrenzung dazukommt – als Fremder, als Muslim, als ungebildet –, kann es gefährlich werden. Das gilt übrigens nicht weniger für Frauen, siehe, so kurios uns das scheint, die sogenannten „Dschihadbräute“. Als Ideologie ist der Islamismus das Ergebnis der weltanschaulichen Entwurzelung in der Moderne. Traditionell sozialisierte Muslime sind wenig anfällig dafür.
Die politische Rechte in Europa schürt die Angst vor dem Islam mit der Behauptung, dass „der“ Islam die Andersgläubigen bekämpfen und die nichtislamische Welt unter die Herrschaft des Islam bringen möchte.
Im Grunde projiziert die Rechte in Europa auf den Islam die Angstfantasien, die sie in Bezug auf den Sozialismus hatte, der ja tatsächlich einen Welteroberungsanspruch hatte. Oder die Wunschfantasien, die die sogenannte westliche Zivilisation und zuvor das missionarische Christentum lange hegte und oft noch hegt: die Welt nach den eigenen Vorstellungen zu beherrschen und zu formen, wie es der Kolonialismus in bis dahin ungekanntem Ausmaß geschafft hat, was allein schon an der weltweiten Verbreitung von Englisch, Französisch und Spanisch zu erkennen ist. Wenn der Islam heute eine Bedrohung für uns darstellt, dann nicht in Gestalt des Terrorismus, sondern dort, wo wir ihn selbst dazu ermächtigen, vor allem auf dem Gebiet der Wirtschaft und symbolisch im Sport. Wenn Golfstaaten, die insgesamt eine radikale Ideologie verbreiten und den Terror mehr oder weniger direkt mitfinanzieren, aufgrund der Korruption unserer Funktionäre Sportereignisse wie die Fußball-WM ausrichten und große Aktienpakete in unseren Unternehmen halten dürfen, ist das tatsächlich eine Art von Unterwanderung. Aber das hat nichts mit den Muslimen bei uns zu tun, höchstens mit den unsinnig reichen Golfarabern, die im Sommer in München shoppen gehen oder sich in unseren Krankenhäusern für viel Geld behandeln lassen – also denen, die hier gern gesehen werden.
Gregor Gysi, Fraktionsvorsitzender der Linksfraktion im Bundestag, ist der Meinung, dass der Zulauf der älteren Generation zu Pegida in Ostdeutschland auch mit der ostdeutschen Situation zusammenhängt. Viele fühlten sich durch die veränderte Situation seit dem Mauerfall überfordert. Wer sich überfordert fühlt, will sich schützen. Hat die Islamophobie auch damit zu tun?
Der Gedanke liegt natürlich nah. Wir können uns positiv definieren durch das, was wir erreicht haben, oder negativ durch Abgrenzung zu anderen. Und natürlich auch beides. Wir müssen uns aber klarmachen, dass die Verlierer der Globalisierung nicht in Deutschland sitzen, auch nicht in Ostdeutschland. Vielleicht nicht einmal wirklich in Griechenland oder Spanien, wo die Probleme enorm sind, die Gesellschaft sich aber als stabil und kohärent erweist. Sondern im südlichen Mittelmeerraum, in der arabischen und islamischen Welt, von ein paar Ausnahmen wie den Golfstaaten abgesehen. Sich gegenüber bürgerkriegsgeplagten Menschen wie diesen abzugrenzen und sich dadurch als etwas Besseres zu sehen spricht nicht für ein gesundes Selbstbewusstsein. Das wiederum dürfte nicht materielle Gründe haben – gerade das mit allen Schikanen renovierte Dresden zeigt das –, sondern an einem Mangel an Sinnangeboten in unserer Gesellschaft liegen. Dass der Mensch nicht vom Brot und von Fußballübertragungen allein lebt, gilt immer noch.
Das bedeutet: Der Westen lenkt mit der Islamfeindlichkeit von seinen eigenen Problemen ab?
Viele unserer Probleme scheinen nicht lösbar und sind es oft wirklich nicht: Umweltprobleme wie die Klimaerwärmung, die Finanzkrise, die Ungleichverteilung des Wohlstandes. Selbst wenn sie lösbar sind, sind sie es nicht in unserer Lebenszeit. Sie überragen uns. Der Mensch will aber etwas tun, etwas Sinnvolles. Und wenn die genannten Bereiche keine baldigen befriedigenden Lösungen versprechen, wird man seine Aufmerksamkeit auf einen Bereich richten, wo man glaubt, noch etwas machen zu können. Dafür bietet sich der Islam an, denn er ist ein weicher Faktor: Das Problem, denkt man, liegt nicht in Naturgegebenheiten oder einer auch für Experten undurchschaubaren Ökonomie, sondern im Bereich des Glaubens, der Meinungen und Einstellungen. Diese, glaubt man, könne man leicht ändern, und man projiziert daher den in den anderen Feldern scheiternden Änderungswunsch auf dieses vermeintlich weichere, menschliche Feld. Zur Not, denkt man, kann man die Änderung der Meinungen mit Gewalt und durch andere Zwänge bewirken. Das ist für mich eine Form von Projektion.
Dabei übersieht man aber, dass auch die anderen Probleme solche der geistigen Einstellung sind. Wenn wir nur durch Konsum glücklich werden können, sind Umweltprobleme oder solche der Finanzkrise und Ungleichheit vorprogrammiert. Und wir vergessen, dass der Islam es anders als jede Weltanschauung bei uns geschafft hat, auch Armen ihre Würde zu lassen. Das gilt zwar nicht mehr für den postmodernen, von westlichen Konsumvorstellungen infizierten Golfstaaten-Islam. Aber es gilt immer noch für viele einfache muslimische Gläubige überall in der islamischen Welt. Wir haben keine Weltanschauung mehr, die materielle Armut und Würde vereint. Der Sozialismus hatte das noch versucht, früher auch die katholische Kirche, aber beide haben abgewirtschaftet. Mit anderen Worten: Dass wir ausgerechnet oft zuerst beim Islam ansetzen, wenn wir unser Unbehagen äußern, verrät indirekt, dass wir untergründig spüren, auch wir müssten eigentlich unsere Einstellungen ändern und eine Form von Spiritualität oder nichtmaterieller Sinnstiftung wiedergewinnen. Wir projizieren also nicht nur unser allgemeines Unbehagen auf den Islam, wir verdrängen mit seiner Hilfe auch die Kehrtwende, die wir selbst vollziehen müssten.
Aber gibt es nicht auch berechtigten Grund zur Sorge? Der türkische Staatspräsident Erdoğan hat sich kürzlich dazu geäußert, wie „seine“ Religion die Rolle der Frau sehe: Frauen seien für die Mutterschaft bestimmt. Das verheißt nichts Gutes– wenn schon ein halbwegs modernes Land wie die Türkei sich zurückentwickelt.
Nicht nur Erdoğan hat so etwas gesagt, auch der französische Autor Michel Houellebecq in seinem satirischen Roman Unterwerfung über die Islamisierung Frankreichs. Die Franzosen islamisieren sich dort, weil sie eingesehen haben, dass die westliche Moderne nur unglücklich macht, die alten Konzepte besser sind. Das ist nicht meine Meinung, aber warum soll es solche Meinungen nicht geben dürfen? Ich finde, wir sollten uns auf diesen Wettstreit der Lebenskonzepte einlassen, nicht Angst davor haben oder so tun, als sei alles andere als das, was wir denken, gleich schon unmöglich oder verwerflich. Das zeugt nicht von Selbstbewusstsein.
Ich bin zum Beispiel überzeugt davon, dass Erdoğans Überzeugung schon deshalb auf lange Sicht die schlechtere Wahl ist, weil wir in einer Informations- und Wissensgesellschaft leben. Wir brauchen Brainpower. Früher zählten die Muskeln – auf dem Feld, auf dem Bau, im Krieg. Da wären die Männer leicht im Vorteil. Aber dort, wo es auf Intelligenz und Bildung ankommt wie heute, wo die Kriege am Bildschirm geführt werden und die großen Leistungen technische sind, können wir nicht die Hälfte unserer Intelligenz ins Haus verbannen und nur kleine Kinder erziehen lassen. Die Gesellschaftsform, die ihre Potenziale nicht nutzt, wird unterliegen. Aber das alles ist kein Problem, solange wir sagen: Wer es so will wie wir hier, der mag herkommen. Wem es anders lieber ist – vielen unserer Rechten übrigens –, kann ja dann in die Türkei gehen. Das machen übrigens schon viele, wenngleich vorerst nur Rentner.
Was können die friedlichen Muslime tun – außer sich zu distanzieren?
Ich bin entschieden gegen diese Distanzierungsrituale und gegen die Aufforderung dazu. Dies ist nichts anderes als ein Aufruf zur Selbstdemütigung und bedeutet eine implizite Beschuldigung: Irgendwie habt ihr Muslime oder das, was ihr glaubt, doch ursächlich damit zu tun, ist der Tenor. Das würde ich als Muslim entschieden ablehnen – warum soll ich mich mit Mördern identifizieren oder identifizieren lassen? Wo liegt die Gemeinsamkeit? Wenn es die Religion ist, dann müsste man ja als Katholik ständig Abbitte für Kindesmissbrauch, Hexenverbrennungen, vatikanische Finanzskandale leisten. Als bekennender Abendländer für was nicht alles? Wer das von Muslimen verlangt, manifestiert damit nur seine Diskursmacht: Wir können das von den Muslimen verlangen, weil wir ihnen überlegen sind, weil wir glauben, sie seien hier immer noch irgendwie nur zu Gast und geduldet, und so weiter. Aber nie würden wir es akzeptieren, wenn die Muslime von uns verlangen würden, uns für jeden Kollateralschaden bei Bombardierungen zu entschuldigen. Die NSU-Morde und der Dresdner Gerichtssaalmord an Marwa El-Sherbini haben zwar, wenn auch spät und zögerlich, für einen Aufschrei unserer Zivilgesellschaft gesorgt. Aber wer hat sich schon bei seinem türkischen Arbeitskollegen oder Mitschüler, beim sprichwörtlichen Gemüsehändler oder bei sonst wem ausdrücklich dafür entschuldigt? Und jetzt stellen Sie sich vor, man würde Ihnen unterstellen, Sie hegten Sympathien dafür, weil Sie sich nicht entschuldigen! Sie würden denken: Die Muslime übertreiben. Und genau das denken die meisten Muslime zu Recht von uns. Komplett unstatthaft und ahistorisch ist dabei auch der beliebte Vergleich mit der deutschen Vergangenheitsbewältigung. Aber das wäre ein eigenes Thema. Und was den Bildungsaspekt betrifft: Ja, man sollte die meisten Schulbücher in der islamischen Welt neu schreiben – aber das hat weniger mit dem Islam als mit den autokratischen Regimen zu tun, die die Bevölkerung nicht aufklären wollen. Und Bildungspolitik ist immer noch Sache der einzelnen Staaten.
Als Reaktion auf die Pariser Morde gab es gemeinsame Kundgebungen von Christen, Juden, Muslimen und Atheisten gegen den Terror. War das nur eine Momentaufnahme, oder könnte etwas Verbindendes daraus entstehen?
Für Frankreich war das meines Erachtens ein sehr wichtiger Moment. Es hat sich daran nämlich gezeigt, dass die meisten Franzosen eine solche Verständigung wünschen und dass sie dazu auch in der Lage sind. Das war vorher nicht klar. Es hängt jetzt von der Politik ab, diesen Wunsch in konkrete Maßnahmen umzumünzen. Vor allem muss es gelingen, eine höhere gesellschaftliche Durchlässigkeit zu erreichen, den Einwanderern in Vorstadtgettos die Möglichkeit zu geben, in der teils sehr elitären französischen Gesellschaft anzukommen. Das ist eine Herkulesaufgabe für Generationen, aber sie muss versucht werden, sonst wird es wirklich kommen wie im Roman von Houellebecq: Um einen Präsidenten des rechten Front National zu verhindern, tun sich die bürgerlichen Parteien zusammen, um einen Muslim zu wählen. Eine Parodie, aber nicht unmöglich. Ich glaube aber, dass diese Solidarität, obwohl die Welt sie geteilt hat, letztlich ein französisches Phänomen war. Wir dürfen zum Glück sagen, dass wir trotz mancher Problemviertel in unseren Städten deutlich weniger Probleme haben als die Franzosen. Vielleicht gelingt es uns sogar, ein Vorbild zu sein.
Stefan Weidner studierte Islamwissenschaft, Germanistik und Philosophie an den Universitäten Göttingen, Damaskus, Berkeley und Bonn. Er arbeitet als Autor, Übersetzer, Literaturkritiker und seit 2001 als Chefredakteur der Zeitschrift Fikrun wa Fann, die vom Goethe-Institut herausgegeben wird und zum Dialog zwischen westlicher und islamisch geprägter Kultur beitragen soll.
Soeben ist Stefan Weidners Streitschrift Anti-Pegida bei Amazon Kindle Singles erschienen (E-Book € 1,49; Taschenbuch € 5,49).