„Gabriele, geh auf deine Matte!“

Die Welt um uns herum wird populistischer, hasserfüllter, bedrohter. Und was machen wir? Yoga!

Die Illustration zeigt eine junge Frau, die auf einer Matte in einer großen Seifenblase Yoga macht und dabei sorglos weitere Seifenblasen macht
Leben in der Blase, zentrale Frage: Bin ich bei mir? © Eva Revolver / Sepia

Meine lieben Yoga­schwestern (wo sind eigentlich die -brüder?), immer wieder bewegen mich Gedanken darüber, wie wir sanftmütigen Wanderer auf dem inneren Weg mit den eskalierenden Bedrohungen unserer Demokratie umgehen. So viel Spaltung und Konfrontation gab es lange nicht mehr bei uns. Die rohe, brutale Sprache, Aufmärsche und Kampfrhetorik vergiften die Öffentlichkeit. Viele von uns scheuen sich, politische Nachrichten überhaupt noch zur Kenntnis zu nehmen. Wer spirituell gestimmt ist, geht durch harte…

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zu nehmen. Wer spirituell gestimmt ist, geht durch harte Zeiten. Immer mehr Menschen fühlen sich nicht mehr an die Standards einer demokratischen Streitkultur gebunden und ziehen es vor, ihre Unzufriedenheit und Aggressivität nur noch in vereinfachenden Parolen brüllend zu artikulieren. 

Wie verarbeiten wir, die wir uns für sensible Zeitgenoss*innen halten, diese Zuspitzungen, ohne bloß in die diversen Innenräume zu flüchten, die inzwischen zur spirituellen Selbstoptimierung gehören?

Wenn ich Gespräche mit Yoginis suche, löse ich meistens Schweigen aus und verlegenes Stammeln. „Ich weiß auch nicht …“, „Ich lese gar keine Zeitungen mehr …“, „Ich gucke keine Nachrichten …“ – diese Antworten sind häufig. Es scheint, als ob es im spirituellen Milieu tatsächlich eine Parallelwelt gibt, die sich gegen die politische Sphäre abzuschotten versucht. Die abfälligen Erwiderungen eines Yogafreundes, als ich von einem Artikel in der Süddeutschen erzählte, zogen mir die Schuhe aus: „Ach Zeitungen – da steht doch überall das Gleiche drin!“ Und das sagt er mir, die ich als Journalistin aus meiner Zeit bei einer Rundfunkanstalt weiß, wie sehr in den Konferenzen gestritten wird, damit Themen sachgerecht präsentiert werden! Das polemische Gerede von den fake news scheint tief eingedrungen zu sein in das Denken einiger Eingeweihter. Der praktische Nutzen ist offenkundig: Man gewinnt eine bequeme Rechtfertigung dafür, die Mühen kritischer Meinungsbildung aufzugeben.

Unser Katechismus

Mir geht dieser Geist in unserer Community herzlich gegen den Strich. Es gibt offensichtlich heimliche Gebote bei uns, und wenn ich sie in Worte fassen würde, lauten sie:

  • Du sollst nicht von dir selbst ablenken. Lass also keine unnützen Informationen in deinen Kopf.
  • Wichtig ist der energetische Flow. Lass dir nicht die Stimmung versauen. Halte dich fern von negativen vibrations.
  • Nimm alles, was geschieht, nur als Aufforderung, dich weiterzuentwickeln.
  • Die Welt ist in Aufruhr – bleibe ruhig und geerdet. Die göttliche Vernunft ist größer, als wir meinen.

Dieser Katechismus hilft dabei, sich in der Gruppe und auch mit sich selbst auf eine Insel zu retten, die scheinbar unerschüttert der tosenden See der Sensationen und Spektakel standhält. Demokratie, öffentlicher Diskurs, Demonstrationen – alles eine Kulisse, die nichts mit dem Wesentlichen zu tun hat: der Wandlung der Menschheit auf eine höhere Stufe der Evolution.

Wer will noch in politische Auseinandersetzungen einsteigen, vielleicht sogar Einsatz in Parteien oder Bürgerinitiativen zeigen? Alles falsche Schauplätze im Kampf um Erleuchtung und Transformation. Anteilnehmen an parlamentarischen Debatten oder am Ringen um politische Haltungen? Zu anstrengend und belastend für die Seele und die innere Balance.

Aber ich frage mich inzwischen immer öfter: Schonen wir uns nicht zu sehr? Können wir wirklich ausblenden, dass in unserer Demokratie viele Grundfesten erschüttert sind? Dass auch unser Leben sich dadurch verändern könnte? Sind wir nicht auch noch Bürger einer sozialen Ordnung – oder doch nur kosmische Seelen auf der Durchreise? Viele Fragen, keine Antworten.

Ein selbstbezogener Fundamentalismus

Selbstverwirklichung – darf das ein Abseits sein? Welche Seelenlandschaften kultivieren wir, wenn sie ohne Bodenhaftung bleiben? Wir leben nicht auf einer Wolke, auch wenn wir eine Ahnung davon gefunden haben, wie weit der Himmel darüber sein könnte.

Böse gesprochen: Es herrscht geradezu ein selbstbezogener Fundamentalismus in der Yogaszene, gepaart mit Reinlichkeitswahn und Kontrollzwang. Zentral dabei sind alle Themen rund um die Ernährung – vegan, ­makrobiotisch, ayurvedisch, Fasten ja oder nein, wie lange, oder reicht Intervallfasten? Da gibt es Sätze wie diese: „Ich habe heute ein Stück Friesentorte gegessen – wie kann ich mich denn jetzt entgiften?“ Gift in der Torte? Aus welcher verfeinerten Übersinnlichkeit ist das denn entstanden? Wie stoßfest sind wir noch, wenn wir schon ein Stück Torte, genussvoll verspeist, als Vergiftung einordnen?

Auch das modische Outfit, mit dem wir uns zum aufschauenden Hund, zum Pranayama und unserem Om sammeln, macht mich missmutig. Die Yogamatte kommt nicht etwa von Karstadt, sondern aus dem Internet über Amazon. Naturkautschuk muss es sein. Warenkunde gehört zum rechten Yogaweg. Alles neu, alles stilvoll – mein Schlabber-T-Shirt ist nicht schön, aber schon aus Trotz gegen versteckte Diktate behalte ich es an.

Auch die Reisetätigkeit in unserer Yogagruppe irritiert mich. „Hier und Jetzt“ ist das Ziel unserer Aufmerksamkeit. Einatmen, ausatmen, den Geist wach halten, wertungsfrei lauschen, der Kopf ist ein Bienenkorb, in dem die Gedanken kommen und gehen. Warum also nach Sri Lanka fliegen zur Ayurvedabehandlung? Warum nach Brasilien? Die wahren Abenteuer sind im Kopf – und wenn sie dort nicht sind, dann sind sie nirgendwo, hat schon André Heller gesungen. Und doch äußern wir kein kritisches Wort über unsere Kerosinsucht. Stattdessen berichten wir unbefangen von Sonnenstunden am südlichen Strand, die wir angeblich dringend brauchen, um durch unseren spirituell herausfordernden Alltag zu kommen. Dann doch lieber der Sonnengruß auf der Matte.

Die Finger weisen in die Welt

Das Anjali-Mudra, die Gebetshaltung, die wir bei Begrüßung und Verabschiedung und während des Om-Singens einnehmen, gibt eigentlich den Weg vor: Der Daumen zeigt zum Herzen. Alle anderen Finger weisen in die Welt. Und so soll es sein: in der Welt unterwegs, tätig, eingreifend. Dazu gehört auch die politische und soziale Realität.

Gut, diese Realität ist häufig eine schmerzliche Zumutung, sobald wir die Matte verlassen. Meine Entscheidung, mich in die Mitgliederversammlung der Grünen zu setzen, bezahle ich mit Rückenschmerzen. Warum ist es auch in diesen politischen Kreisen nicht angekommen, dass ein schlaffer Körper die Gedanken erlahmen lässt? Genau hier fehlen der Hund, der Krieger, von mir aus auch einfach ein Kanon, damit „die Energie“ steigt. Vielleicht eine echte Aufgabe für uns Yoginis, eine neue Alltagspraxis bis in die Gremien und Zirkel zu tragen!

Ich frage Euch und mich: Bewegen wir uns nicht in einer Blase der Selbstbewahrung, die mit alltäglichen Strapazen und Gefährdungen rein gar nichts mehr zu tun hat – haben will?

Nur der Kosmos als Bezugspunkt? Und wie ist es mit dem alltäglichen Klein-Klein in der direkten Umgebung? Julia Friedrichs schrieb in der Zeit: „Manchmal habe ich den Eindruck, als wollten wir am liebsten vom Kinderzimmer direkt in den Ruhestand hinüberwechseln: Yoga, Achtsamkeit, Natur und Ruhe, Basteln, Häkeln, Stricken. Nichts, was ein Rentner nicht auch schaffen würde!“ Auweia – da trifft sie einen Punkt.

Als Trost für uns alle: Die meisten kritischen Köpfe finden Kommunalpolitik zu anstrengend. Sogar Leute wie der Dramaturg Bernd Stegemann, ein Vertreter der neuen Initiative „aufstehen“, finden im politischen Feld keinen Kick mehr. Er mag es abstrakter, sagt die Süddeutsche: „Für eine Partei fand er sich zu solitär. Er hatte keine Lust, bei Treffen mit 25 Leuten im Hinterzimmer über Parkuhren zu diskutieren.“ Parteizirkel mögen ja wirklich nicht besonders erquicklich sein, wenn man im ganz Großen denken und handeln will. Aber wer bleibt dann sitzen in diesen Hinterzimmern? Wer macht die Arbeit?

Debatten über Haltungen im politischen Alltag finde ich in meinem spirituellen Umfeld eher nicht. Aber sie fehlen mir. Wie denkt Ihr zum Beispiel über den Umgang mit den vielen Geflüchteten aus spiritueller Sicht? Kommen lassen? Grenzen dicht machen? Verantwortungsethik statt Gesinnungsethik? Wie erlebt Ihr die schleichende Auszehrung vieler demokratischer Basisinstitutionen – Parteien, Gewerkschaften, Vereine –, auch weil sich die spirituell ambitionierten Mitmenschen darum nicht mehr kümmern?

Die scheinbare Toleranz

Wenn ich dieses Thema anspreche, ist nicht selten die Antwort aus dem Mund von Oberyoginis: „Ach, Gabriele, geh auf deine Matte! Da findest du die Antworten. Und spür mal, wo du grad in deinem Ego agierst.“ So ist es also, das Leben in einer Blase. Sie gibt uns Heimatgefühle in unwirtlichen Zeiten. „Bin ich bei mir?“ Das ist die zentrale Frage.Aber wer ist dieses Ich, das sich da beäugt? Kann es sich nur im Blick nach innen erkennen? Welche Facetten bleiben unerkannt, wenn wir uns ständig in engen Kreisen bewegen, ohne soziale und politische Auseinandersetzung?

Frieden nur als Folge einer wohltemperierten Gemütslage? Mit ständigem Blick nach innen? Damit ersparen wir uns natürlich manchen Streit. Aber ist es nicht auch eine Ermunterung zum Wegschauen? Damit wir entspannt bleiben?

Ja, gleichzeitig kommt mit dem gemütlichen Leben in der Blase offenbar auch die Hybris mit in die Welt. So diagnostiziert Peter Sloterdijk die Ideologie, die sich in unserer speziellen Yogablase finden lässt. Die scheinbare Abgeklärtheit und Toleranz von sanften Kriegern und esoterisch Verbündeten ist ihm verdächtig: „Sie sind wieder unter uns, die Schwarmgeister aus dem Volk Gottes, wie sie im Mittelalter auftauchten. Am liebsten möchten sie selbst das ganz andere sein, dessen Kommen sie ankündigen.“

Wir brauchen Zugewandtheit

„Wir sind die, auf die wir gewartet haben.“ Diesen Satz von Katchie Ananda, Yogalehrerin in Kalifornien, liebe ich. Er tröstet und gibt mir Geduld. Um dieses Gefühl von Auserwähltheit habe ich mich seit vierzig Jahren intensiv bemüht. Bis nach Indien hat mich der Weg geführt. Vipassana, Kundalini, Nadabrahma – keine Methode war zu abwegig, um das fette Ego zur Diät zu zwingen. Die private Qual auf der Matte, all das Dehnen, Beugen, Atmen, Meditieren muss doch belohnt werden. Aber der Satz atmet auch die erhebende Gewissheit der Eingeweihten. Einen Größenwahn, der schaudern macht. Oder? In Euren Gesichtern sehe ich keinen Zweifel, wenn Katchie Ananda zitiert wird. Ja, wir sind die Hoffnung des Planeten! Frieden beginnt im Herzen jedes Einzelnen. Doch verarmen wir nicht zugleich in unserer Welterfahrung?

Wir brauchen eine Seelengruppe, in der es uns gutgeht. Die warme Zugewandtheit, die Umarmungen, die Einladung zur Herz­öffnung in meiner Yogagruppe – wo sonst findet man das? Und ich schätze die Beweglichkeit, das Lauschen in die inneren Räume, mit dem ich dank Yoga in die hoffentlich noch kommenden Jahrzehnte gehen werde. Auch habe ich ein heimliches Misstrauen gegen jeden, der nicht – symbolisch gesprochen – eine Matte hat, auf die er oder sie sich zurückzieht. Wir brauchen alle eine Fokussierung, einen gut gepflegten Seelenraum, um gegen die Entropie der Welt standzuhalten. Wenn der Historiker Yuval Noah Harari sagt, dass er zwei Stunden am Tag meditiert, damit er seine Bücher schreiben kann, ist er mir ein Vorbild an Selbstfürsorge, gepaart mit der Bereitschaft zum aktiven Eingreifen in den Lauf der Welt. Und Christine Lagarde, die Lichtgestalt in der Wirtschaftswelt, berichtet, dass sie jeden Morgen eine Stunde Yoga macht und meditiert. Ja, so kann er aussehen – der Spagat zwischen einem stabilen inneren Koordinatensystem und den Kampflinien in der Welt.

Aber es bleiben all die Fragen zur Zeit, in der wir leben, und zu unserer Rolle in diesem Spiel – und sie werden drängender. Ich gebe sie an Euch weiter. Vielleicht reden wir doch mal darüber? Auch wenn das die Stille stört. Und vielleicht auch unsere Sicherheiten.

Namasté …!

Gabriele Heise ist Journalistin und hat viele Jahre für den Norddeutschen Rundfunk gearbeitet. Dort moderierte sie die Sendungen Redezeit und Der Talk auf NDR Info und führte lange Interviews mit Psychologen wie Horst-Eberhard Richter, Verena Kast, Wolfgang Schmidbauer, Arno Gruen oder Friedemann Schulz von Thun.

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 5/2019: Bin ich gut genug?