„Analog steht für Lebensqualität“

Der Politikwissenschaftler Andre Wilkens sieht unsere Abhängigkeit von digitalen Geräten mit Sorge und plädiert für eine menschlichere Gesellschaft.

Herr Wilkens, im Silicon Valley boomen die Waldorfschulen. Die Elite der Digitalbranche lässt ihre Kinder dort ohne Computerbildschirme, dafür mit viel zwischenmenschlichem Austausch und handwerklichem Arbeiten unterrichten. Wie ist das zu erklären?

Viele Angestellte der Hightechfirmen lassen sich die Waldorfpädagogik einiges kosten, immerhin gut 24 00 Dollar im Jahr. Das hat offenbar Tradition. Schon bei Steve Jobs waren iPads daheim verboten. Auch andere Spitzenmanager sprechen davon, dass sie ihre Kinder…

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bei Steve Jobs waren iPads daheim verboten. Auch andere Spitzenmanager sprechen davon, dass sie ihre Kinder vor den Gefahren dieser Technik bewahren wollen. Diese Leute fragen sich, wie man denn die Kreativität entfaltet, um immer neue Ideen und vielleicht auch digitale Produkte zu entwickeln. Entsteht Kreativität, wenn ein Kind schon mit zehn Monaten am iPad sitzt? Oder doch eher dadurch, dass es mit ganz einfachen Mitteln Probleme löst und aus Bauklötzchen Schlösser baut? Im Silicon Valley scheinen die Eltern der Meinung zu sein: Wenn man lernt, mit einfachen Dingen umzugehen, kann man später auch komplizierte Aufgaben lösen.

Weil die Handarbeit unser kreatives Potenzial fördert? Es gibt ja Evolutionsforscher, die einen engen Zusammenhang zwischen der Zunahme unserer Fingerfertigkeiten und dem Anwachsen unseres Gehirnvolumens postulieren.

Darauf weist auch der US-Soziologe Richard Sennett in seinem Buch Handwerk hin. Im Umgang unserer fünf Sinne mit den Materialien dieser Welt bringen wir handwerkliche Intelligenz hervor. Dazu gehören Aufmerksamkeit, Fantasie, Improvisationsfähigkeit, Kombinationsgabe und kausales Denken. Sennett behauptet sogar, dass dort, wo die Verbindung zwischen Hand und Hirn nicht mehr funktioniert, das Hirn verlieren wird.

Wir verblöden ohne Handarbeit?

Wenn wir das Material nicht mehr sinnlich erfahren und nicht mehr wissen, wie Dinge gemacht werden, sind Menschen als Bürger und Konsumenten nicht mehr urteilsfähig. Wir erleben uns dann nicht mehr als schöpferische Wesen. Und das beschädigt Charaktereigenschaften wie Stolz, Bindungsfähigkeit, soziales Engagement und Loyalität.

Über das Material spüren wir die Welt. Wir spüren zugleich auch unsere Sinne. Und diese Wechselwirkung erleben wir als eine Art Sinnstiftung, weil wir uns unmittelbar eingefügt sehen in die Welt.

Wir sind eben mehr als Mathematik. Bei uns Menschen spielt Haptik eine Rolle, Emotionalität und Einfühlung. Und das ist gut so. Doch leider reduzieren wir uns immer mehr in einer mechanisch-digitalen Art des Denkens und der Kommunikation, des Miteinanderseins. Da frage ich mich: Warum? Was haben wir damit gewonnen? Wir sind ja keine Maschinen. Wir müssen nicht mit Maschinen konkurrieren.

Stattdessen empfehlen Sie uns, das Tagträumen wiederzuentdecken. Was ist der Unterschied zu den künstlichen Träumen, mit denen uns die elektronischen Medien versorgen?

Zum Tagträumen brauchen wir ja nicht viel. Eine Hängematte vielleicht oder ein Sofa. Man setzt sich hin, schließt die Augen, und los geht’s. Man braucht keine Datenschnittstelle, keinen Strom, man ist unabhängig. Auge in Auge mit dem Unterbewussten sozusagen. Bei diesen virtuellen Sachen hingegen ist schon alles vorgegeben. Irgendeiner hat mal einen Code, einen Algorithmus entwickelt. Selbst wenn man noch viel selbst bestimmen kann, sind die Parameter doch vorgegeben. Insofern ist das immer auch eine Einschränkung. Deshalb bleiben der Reiz, die Erlebnisse und die Inspirationen, die uns Tagträume bereiten, unersetzlich.

Ist das Irrationale so wichtig für uns?

Ich denke schon. Denn was das Digitale nicht kann, sind Fehler. Aber Menschen machen Fehler. Sie verhalten sich nicht linear und nicht rein kausal, sie handeln eben auch irrational. Und aus Irrationalität und Fehlern entstehen neue Wege, die man vorher nicht hätte erdenken können. Mitunter führen sie zu Dingen, die vielleicht der nächste große Durchbruch sind. Dieses schöpferische Neuland verschließt man sich durch Dinge, die im Digitalen angelegt sind. Im Imperfekten werden wir Menschen wahrscheinlich immer besser als Maschinen sein.

Was genau unterscheidet das digitale vom analogen Denken?

Digitales Denken ist gut in allem, was Masse, also riesige Datenmengen angeht. Digital kann einem vorgegebenen Muster folgen und richtet sich nach Ähnlichkeiten. Analoges Denken hingegen ist ein Denken in Verhältnissen, im Kontext. Analog steht für Sinnerfahrung, für selbstbestimmte Lebensqualität und Lebenskultur. Womöglich steht es sogar für Glück. Sinnerfahrungen machen bekanntlich glücklich, und Sinn erfahren wir durch das Knüpfen von Zusammenhängen. Einer der großen Vorzüge des Menschen ist eben dieses Denken im Kontext.

Sie sprechen von einem „Grenznutzen“ in der Entwicklung digitaler Medien, einem Punkt, von dem an sie unserem Wohlbefinden mehr schaden als nutzen. Wie macht sich das bemerkbar?

Es ist doch längst Alltag geworden, dass in den Familien daheim jeder auf einen eigenen Bildschirm schaut. Wir interagieren mit der ganzen Welt über soziale Medien, aber zu Hause sprechen wir immer weniger miteinander. Das ist verrückt! Oder sehen Sie sich die Leute auf der Straße an oder im Zug – jeder schaut gebannt auf sein kleines Gerät. Das hat schon beinahe religiöse Formen angenommen. Sie merken das daran, wenn man mal sein Smartphone vergisst, es irgendwo liegenlässt oder gerade keinen Empfang hat. Die Leute werden unruhig, als drohte ein Weltuntergang.

Ironischerweise findet sich im Korintherbrief ein Satz, der Ihr Thema zu illustrieren scheint: „Wir sehen in einen dunklen Spiegel in einem dunklen Wort; dann aber von Angesicht zu Angesicht.“ Als ob der heilige Paulus einst den digitalen Irrweg vorausgesehen und für ein analoges Miteinander plädiert hätte.

(Lacht.) Das klingt wie Schützenhilfe von höchster Stelle.

Im Ernst: Unser Verhältnis zur digitalen Welt ist doch zwiespältig. Wir wissen die Annehmlichkeiten zu schätzen, googeln gern schnell mal irgendwas, simsen mit Freunden, buchen uns Fahrkarten und Hotelzimmer online – und spüren dennoch ein gewisses Unbehagen.

Weil wir oft das Gefühl haben, dass die Geräte uns dirigieren und nicht wir diese Geräte. Nicht nur die GPS-Navigatoren sagen uns während der Autofahrt, wo es langgeht. Eigentlich erhalten wir dauernd digitale Signale, die unser Leben lenken und unsere Zeit fressen. E-Mails takten unseren Arbeitsalltag. Viele haben sich daran gewöhnt, alle fünf Minuten unterbrochen zu werden. Dieser sogenannte E-Mail-Reflex beeinträchtigt ganz gravierend unsere Produktivität. Statt große Projekte voranzutreiben, beantworten wir lieber E-Mails. Das ist eine bequeme Art, uns vor schwierigen Aufgaben zu drücken. Vor allem Menschen, die es als wichtig empfinden, eigene Entscheidungen zu treffen, fühlen sich von der digitalen Technik zunehmend fremdbestimmt.

Sie haben dieses Lebensgefühl an der Beobachtung festgemacht, dass wir „in gebückter Haltung durchs Leben gehen“. Ist dies der körpersprachliche Ausdruck einer Sklavenhaltung gegenüber der digitalen Technik?

Als Sklaven würde ich uns nicht bezeichnen. Eher als Abhängige, die das Digitale wie eine Droge benutzen. Unsere Bildschirmgesellschaft zeigt durchaus suchtartige Züge. Das fing mit dem Fernsehen an, dann kamen Computer, Spielkonsolen und Gameboys – und jetzt hat eigentlich alles einen Bildschirm. Der durchschnittliche Deutsche starrt jeden Tag sechseinhalb Stunden auf einen Bildschirm. In Indonesien sind es sogar an die neun Stunden.

Was sind die Folgen?

Ich behaupte, nach sechs bis neun Stunden täglicher Bildschirmbestrahlung denken wir anders. Unser Gehirn passt sich in einer Weise an die Bildschirmkultur an, die wir noch gar nicht abschätzen können. Wir bewegen uns auch immer weniger. Zwei Drittel der Deutschen kommen auf weniger als eine Stunde Bewegung am Tag. Unsere aktivsten Körperteile sind unsere Finger. Kein Wunder, dass inzwischen weltweit jeder dritte Mensch übergewichtig ist. Wir arbeiten am Bildschirm, shoppen am Bildschirm, manche Leute haben sogar Sex am Bildschirm.

Als Ausweg schlagen Sie eine Analogisierung unseres Lebensstils vor. Sie vergleichen diese Offensive mit der Biokultur und nennen Ihr Buch Analog ist das neue Bio. Wie ist das gemeint?

Bio ist ja so etwas wie eine Konterrevolution gegen die industrielle Landwirtschaft. Dabei schafft Bio das System keineswegs ab, sondern verändert es von innen. Bio hat eine Nische geschaffen, die den Mainstream der Landwirtschaft dauerhaft herausfordert, dabei alte Lebensqualität erhält und neue hinzutut. Zwei Prozent der deutschen Bevölkerung essen ausschließlich Bio, drei Viertel eine Kombination aus konventionell erzeugten und Bionahrungsmitteln – und nur ein Viertel isst gar kein Bio. So ähnlich stelle ich es mir bei Analog vor. Möglicherweise nähern sich die Relationen zwischen Digital und Analog eines Tages diesen Zahlen.

Wie soll das gehen?

Zunächst ist das analoge Selbstverständnis entscheidend. Analog muss sich seine coolen Begriffe zurückerobern. Wenn es das meiste Digitale auch schon analog gibt – warum brauchen wir dann für alles eine Digitalversion?

Heute wird andersherum argumentiert: Warum braucht die Digitalkopie überhaupt noch eine analoge Originalversion? Manche prophezeien schon die Ablösung des physischen Menschen durch sein digitales Abbild im Cyberspace.

Daran sehen Sie die irrwitzigen Auswüchse dieser Digitalideologie. Ich bin sehr dafür, dass wir beim analogen Menschen als Grundeinstellung bleiben. Bei Analog geht es um Unabhängigkeit und Selbstbestimmung. Inzwischen gilt man schon als Nostalgiker, wenn man lieber mit Menschen kommuniziert als mit Maschinen. Ja sogar schon, wenn man lieber telefoniert, als E-Mails schreibt. Wenn man lieber Fehler macht, als perfektionistisch durch Algorithmen durchs Leben gelenkt zu werden. Okay, dann bin ich eben ein Analognostalgiker. Ich will keine immer effizientere Maschine werden. Allerdings plädiere ich auch nicht für eine Abschaffung von Digital. Sondern für eine menschliche Gesellschaft, die digital und analog ist.

Sie wollen eine Digital-Analog-Bewegung in Gang setzen.

Ja, eine schlagkräftige Bewegung, die Hacker ebenso einschließt wie Bauern, Hipster, Künstler und politische Aktivisten. Eine Bewegung für das 21. Jahrhundert, eine Netzwerkorganisation ganz neuer Art: ein bisschen Amnesty, Wikipedia, Betterplace und Gezipark …

… jene Grünanlage in Istanbul, die 2013 Ausgangspunkt für Proteste gegen Umweltzerstörung wurde.

Genau. Diese Bewegung muss ihren Marsch durch die Gesellschaft antreten. Das Digital-Analoge muss sämtliche Lebensbereiche erfassen. Ein gutes Beispiel ist die Wirtschaft. Durch Digital werden immer mehr Tätigkeiten von Menschen auf Maschinen und Algorithmen übertragen, weil diese effizienter, schneller, weniger fehleranfällig und vor allem billiger sind. Dennoch wird die menschliche Arbeit weiterhin hoch besteuert, während Maschinen dort arbeiten können, wo es am billigsten ist, demnächst womöglich auf künstlichen Inseln, die steuerfrei sind. Das darf so nicht bleiben. Menschliche Arbeit muss niedriger besteuert werden als Maschinenarbeit. Ferner sollten Firmen nach der Quantität der von ihnen genutzten Daten besteuert werden. Damit würden wir Daten einen echten Wert verleihen und Datenmonopolisten wie Google und Facebook an der Quelle ihrer Monopolstellung besteuern. Mit den Steuereinnahmen können wir dann den Ausbau von gesellschaftlichen Gemeingütern finanzieren. Außerdem wäre eine Datenbesteuerung ein Anreiz, mit Daten sorgsam umzugehen, also so viel zu nutzen wie nötig und nicht so viel wie möglich.

Dagegen dürfte sich die Lobby der Internetgiganten mit aller Macht wehren.

Nicht zuletzt deshalb sollten wir darüber nachdenken, ob Google und Facebook nicht besser in Non-Profit-Strukturen oder als öffentlich-rechtliche Dienstleister funktionieren sollten. Die Regierungen müssen die digitalen Monopole und Datenmonopole brechen, solange sie es noch können.

Ihnen schwebt eine Stiftung vor?

Ja, eine Stiftung für eine menschliche digitale Welt, am besten gleich finanziert von jenen Internetmilliardären, die besorgt darüber sind, wohin eine ungezähmte digitale Entwicklung führen kann – und die sich etwas von ihrem Weltverbesserungsidealismus bewahrt haben.

Sie werfen einen anachronistisch wirkenden Begriff in die Arena: Weltverbesserung.

Das ist der Kern von Analog: die bewusste Verbesserung unserer Welt und nicht nur das rechnerische Ausmerzen von Risikofaktoren, insbesondere der menschlichen. Weltverbesserung macht Spaß, hält uns lebendig, setzt Kreativität frei und gibt uns Sinn. Anstatt den Energieverbrauch immer smarter zu designen, können wir auf erneuerbare Energien umsteigen, um das Klimaproblem zu lösen. Anstatt immer vollständiger die Kriminalitätsmöglichkeiten zu eliminieren, sollten wir die Gründe für Verbrechen und Terrorismus beseitigen, etwa die wachsenden sozialen Ungerechtigkeiten. Anstatt unsere Körper wie Maschinen digital zu überwachen, sollten wir eine wirksame Gesundheitsvorsorge für alle einführen.

Hören Sie mitunter den Vorwurf, Ihre Vorstellungen seien rückwärtsgewandt?

Manche mögen das meinen. Aber bei Analog geht es nicht um reaktionäres Moralisieren. Vielmehr geht es um ein proaktives neues Denken, das vorrangig im Humanen und nicht im Technischen wurzelt. Ich gehe von den Bedürfnissen des Menschen aus, nicht von den technischen Möglichkeiten. Nehmen wir meine Liebe zu Steinen, den Steinen am Strand, in den Bergen, in den Bauwerken, auf den Plätzen. Steine schaffen analoge Orte für Menschen. Digital versucht diese zu kopieren – auf Fotos, Filmen, in Spielen. Aber an Stein reicht Digital nicht heran. Wenn alles digital verfügbar ist, werden steinerne Orte wieder zu etwas Besonderem. Zu Treffpunkten, Unterkünften, Arbeitsplätzen, Zufluchtsorten, kurzum zu Stätten der Geborgenheit. Ähnlich ist das mit Büchern. Ich liebe Bücher. Analoge Bücher. Und die brauchen ein Zuhause. Allein schon um Bibliotheken zu erhalten, sollten wir weiter analoge Bücher herstellen und lesen. Und Buchläden. Hier geht es um das Erleben von Büchern, nicht nur ums Kaufen. Buchhandlungen entwickeln sich zu Begegnungsorten, Lesehallen und Veranstaltungsstätten. Ich kann einen digitalen Katalog nutzen, um in meiner Buchhandlung Bücher zu bestellen, die ich dort bei einem Kaffee abhole, anstatt sie an die Haustür geliefert zu bekommen. Dies wäre eine Variante, wie wir Digital und Analog auf humane Weise organisch zusammenwachsen lassen können.

Andre Wilkens, Jahrgang 1963 ist Politikwissenschaftler. Er arbeitete für die EU, für verschiedene Stiftungen und die UN. Derzeit lebt er als Autor in Berlin.

Andre Wilkens Buch Analog ist das neue Bio. Eine Navigationshilfe durch unsere digitale Welt ist im Berliner Verlag Metrolit erschienen.

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 12/2015: Zum Glück allein