„Wir sehen Männer nur negativ.“

Die Erwartung, dass Männer ihre Privilegien freiwillig abgeben, reiche nicht aus, um Gleichstellung zu erreichen, findet Psychologe Markus Theunert.

Die Illustration zeigt den Psychologen Markus Theunert, den stört, dass man Männer nur negativ sieht.
Markus Theunert ist Psychologe. Ihn stört, dass man Männer nur negativ sieht. © Jan Rieckhoff für Psychologie Heute

Gleichstellung ist nicht bloß Frau­ensache, sondern geht alle an. Das ist unbestritten. Aber was heißt das für Männer? Sie sind ja Vertreter des privilegierten Geschlechts, nicht? Also muss Gleichstellung für sie vor allem darin bestehen, Privilegien abzugeben und ansonsten einfach mal die Klappe zu halten?

Diese Erwartung ist weit verbreitet – gerade auch in den progressiv-feministischen Milieus. Und die Haltung ist durchaus berechtigt. Denn wer eine geschlechterpolitische Zeitdiagnose vornimmt, muss bei der Feststellung landen: Männer sind bis heute die Profiteure des kapitalistisch-patriarchalen Systems. Sie verdienen um die 20 Prozent mehr und übernehmen nur in einem Viertel aller Familien ihre Hälfte der Verantwortung für die Haus- und Familienarbeit.

Wie erreichen wir Gleichstellung?

Das Problem ist aber: Weshalb sollen Privilegierte freiwillig auf ihre Privilegien verzichten? Klar, Anstand, Verantwortungsgefühl und Gerechtigkeitssinn wären noble Gründe. Dass sie in der Praxis nicht ausreichen, um Gleichstellung zu erreichen, ist aber leider offenkundig. Bleibt also nur der Zwang?

Nein, eben gerade nicht! Damit wir Gleichstellung verwirklichen, müssen wir unseren „Mindset“ so ändern, dass wir herauskommen aus dem Teufelskreis von Fairnessappell, Widerstand, Enttäuschung und Wut. Dafür gibt es zwei Wege:

Die erste Möglichkeit ist, den Nutzen aufzuzeigen, den Gleichstellung auch für Männer hat. Erklären, wie sie selbst unter Geschlechtsrollenkorsetten leiden. Aufzeigen, wie zerstörerisch der Wunsch wirkt, ein „echter Kerl“ zu sein. Deutlich machen, wie viel Leid und Kosten durch „typisch männliches“ Risikoverhalten entstehen. Dafür braucht es die Bereitschaft, Männer nicht nur als Profiteure und Täter zu sehen – und Frauen nicht nur als Benachteiligte und Opfer. Das ist für viele schon zu viel verlangt.

Männer als Gefangene sehen

Die zweite Möglichkeit ist eleganter und noch mutiger. Denn sie unterstellt Männern eine Sehnsucht nach Gleichstellung, einen tiefverwurzelten Wunsch nach einem Leben jenseits des „Mann-sein-Müssens“, einen Hunger nach Beziehungen ohne Hierarchie und Gewalt – auch sich selbst gegenüber. Wenn wir daran glauben, dass diese Sehnsucht besteht, weil auch Männer Menschen waren, bevor sie sich zu Männern machen ließen, verändert sich die Dynamik.

Denn nun stehen wir nicht mehr konfrontativ einem bockigen Profiteur gegenüber und versuchen, ihn auf unsere Seite zu ziehen. Sondern wir stehen auf seiner Seite und versuchen mit ihm zusammen, Schritte ins Offene zu gehen – wir verbünden uns mit seiner Sehnsucht und kämpfen gemeinsam mit ihr gegen jenen fatalen Reflex, den die Männer so verinnerlicht haben, dass sie es meist selbst gar nicht mehr merken: den Reflex, in ihrem Innern alles auszublenden und abzuspalten, was bedürftig ist.

Männer heute sind Gefängniswärter und Gefangene in Personalunion. Solange wir sie als Gefängniswärter ansprechen, verhärten sie weiter. Begegnen wir ihnen aber (auch) als Gefangene, ist der erste Schritt zur Flucht aus dem Gefängnis bereits gemacht.

Markus Theunert ist Psychologe und leitet den Dachverband progressiver Schweizer Männer- und Väterorganisationen männer.ch. Er lebt mit seiner Familie in Zürich und teilt sich mit seiner Partnerin die Familien- und Hausarbeit.

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 10/2021: Zeit finden
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