Im Fokus: Ex-Neonazis

Politikwissenschaftler Daniel Köhler sprach mit Menschen, die sich über Jahre in rechtsextremistischen Milieus bewegten – und dann den Absprung wagten

Ein Skinhead mit Tattoos im Gesicht schaut aggressiv
Der Leistungsdruck in der rechtsextremen Szene ist sehr hoch. Wer Schwäche zeigt, wird schnell eiskalt abserviert. © picture alliance//©Everett Collection

Herr Köhler, Sie und Ihre Kolleginnen und Kollegen haben mit ehemaligen Neonazis gesprochen, die nach jahrelanger Zugehörigkeit zum Milieu ausgestiegen sind. Was hat Sie am meisten beeindruckt?

Die Reue und die Schuld. Manche zeigten ein riesiges Bedürfnis, ihre Schuld wiedergutzumachen. Einige der Befragten haben wie Kinder fast hilflos nach Vergebung gesucht. Es sind Menschen, die sich verändert haben. Sie haben gezeigt, dass das möglich ist.

Wer waren die Befragten?

Da die rechte Szene generell sehr…

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haben. Sie haben gezeigt, dass das möglich ist.

Wer waren die Befragten?

Da die rechte Szene generell sehr männlich ist, waren es zu mehr als 80 Prozent Männer, im Durchschnitt 35 Jahre alt. Die jüngste Person war 18, die älteste 62. Wir haben nur Interviews von Befragten ausgewertet, die mindestens fünf Jahre in der Szene gewesen waren, insgesamt haben wir mit 36 ehemaligen Neonazis gesprochen. Die Bildungsabschlüsse waren etwas höher als im Durchschnitt der Szene: Wenige hatten einen Hochschulabschluss, die meisten Realschulabschluss oder Abitur.

Viele waren in jungen Jahren dazugestoßen und im Schnitt zehn Jahre dabeigeblieben. Einige hatten aufgrund ihrer Bildung und Fähigkeiten führende Positionen, etwa als Anführer von Gruppen, als Autoren von Texten oder Administrator von Websites. Ein Teil von ihnen war mal in Haft. Allen war ihre Zeit in den rechten Gruppen damals wichtig gewesen. Sie hatten viel darüber nachgedacht und die Sache ernst genommen. Als Aussteiger sind sie nicht repräsentativ: Sie hatten die Szene verlassen, weil sie mit ihr nicht mehr einverstanden waren. Wer keine Probleme damit hat, bleibt.

Was hatte die Interviewten zum Einstieg in die Neonaziszene motiviert?

Die meisten wollten mehr aus ihrem Leben machen, etwas erreichen. Entscheidend war das Gefühl, von der Gesellschaft und der Politik „ungerecht“ behandelt zu werden und zu erleben, dass „Stolz“, „Ehre“ und „Kameradschaft“ keine Rolle spielten. Sie hatten zudem eine riesige Sehnsucht danach, wichtig zu sein und für ein höheres Ziel zu kämpfen. Es sollte mehr sein als das Gründen einer Familie und eine berufliche Laufbahn, mehr als das, was man normalerweise erreichen kann. Was die Gesellschaft anbietet, genügte ihnen nicht.

Natürlich gab es Erfahrungen des Mangels in der Vorgeschichte unserer Interviewpartner: Manche hatten in ihrer Kindheit häusliche Gewalt, Missbrauch und Vernachlässigung erlebt. Andere hatten zum Zeitpunkt des Einstiegs Probleme im Job oder waren arbeitslos, fühlten sich überfordert und abgehängt oder berichteten von Beziehungsproblemen. Das alles kam vor, aber es war nicht ausschlaggebend. Die politische Haltung der Eltern spielte ebenfalls keine große Rolle.

Was war an der rechten Ideologie so verlockend?

Die rechten Gruppen machten ihnen ein Angebot: gemeinsam für eine alternative Gesellschaft, für ein vermeintlich höheres Ziel zu kämpfen, das Bisherige „einzureißen“, die Gründe für die erlebte Ungerechtigkeit zu beseitigen. Die rechte Ideologie besagt: „Die Gesellschaft“ ist so, wie sie ist, nicht in Ordnung und man braucht eine neue. Einzelne Menschen mögen Probleme haben, aber sind daran nicht schuld, sondern es ist stets die unzureichende Gesellschaft. Die Ideologie weckt auf diese Weise Zweifel an den bestehenden Verhältnissen. Und sie bietet zugleich „Hilfe“ an, die von ihr selbst definierten Probleme gemeinsam zu lösen.

Teil des Ganzen ist dann noch die Vision einer besseren und gerechten Zukunft. Mit diesem Angebot werden vorhandene Gefühle von Ungerechtigkeit, Unsicherheit und Ohnmacht verstärkt, bei manchen auch erst erzeugt. Die Ideologie wirkt einerseits traumatisierend, denn sie verschärft Probleme oder redet sie einigen Interessierten erst ein. Andererseits wirkt sie therapeutisch, denn sie suggeriert, man könne diese Schwierigkeiten nur so lösen, wie es innerhalb der Szene praktiziert wird und wie die rechtsextreme Weltanschauung es vorgibt.

Wie kamen die Befragten konkret in die rechte Szene?

Der allererste Kontakt war hier extrem wichtig: Kaum war er hergestellt, wurden die Interessierten sofort und unmittelbar in die Gemeinschaft eingebunden. Ihnen wurde angeboten, gleich etwas zu tun, auf die nächste anstehende Demonstration mitzugehen, das nächste Konzert mitzuorganisieren, einen Blog zu betreiben, Geselligkeit zu erleben. Ihnen wurde das Gefühl vermittelt, gebraucht zu werden, einen Platz in der Gemeinschaft, eine Aufgabe zu haben.

Ob der erste Kontakt zufällig zustande gekommen war oder ob die Befragten bewusst danach gesucht und sich informiert hatten, war nicht entscheidend. Einer sagte uns: „Ich habe in meinem Viertel bloß die Rechten getroffen. Es hätte auch eine beliebige andere Gruppe sein können.“

Sie sagen, dass Narrative – also sinnstiftende Erzählungen – eine wichtige Rolle spielen. Um welche geht es?

Erst einmal muss die Erzählung, der Inhalt der Ideologie nicht intellektuell sein – sie ist im Gegenteil oft hochemo­tional. Zu wissen, wer der „Feind“ ist und wie man ihn vertreiben kann, reicht für viele völlig aus. Kaum jemand hat je ein Parteiprogramm gelesen. Inhaltlich sind es für viele eher Stichworte: Wir sind ein blutsverwandtes Volk, wir haben die germanische Tradition, wir sind eine „Wehrgemeinschaft“, die gefährdet ist und sich auflösen wird, wenn wir nichts tun.

Außerdem sind natürlich antisemitische Verschwörungs­mythen in der rechten Szene allgegenwärtig. In diesen Schilderungen wird eine Bedrohung beschrieben und somit das Problem definiert, gegen das gekämpft wird, nämlich eine „Macht“, die den Wunsch hat zu zerstören.

Wie ging es nach dem Einstieg für Ihre Befragten weiter?

Lange Zeit waren sie sehr gefordert, sehr aktiv, sehr beschäftigt. Ein großer Teil ihres Lebens spielte sich in der Szene ab, sie übernahmen die Aufgaben, die anstanden, und setzten sich für die Ziele der Gemeinschaft ein. Sie pflegten Freundschaften, es gab romantische Beziehungen innerhalb der rechtsextremen Szene. Lange Zeit ging es ihnen gut. Einige sagten sogar: „Ich habe mich danach nie wieder so gut gefühlt.“ Sie taten etwas gegen „das Böse“, sie kämpften für ein höheres Ziel, sie gehörten einer Gemeinschaft an, sie fühlten sich wichtig.

Trotzdem sind sie nach Jahren ausgestiegen.

Im Lauf der Zeit merkten sie zunehmend, dass die rechte Szene nicht die kompetenteste und außerdem sozial „dysfunktional“ ist, wie es in der Forschung genannt wird. Die späteren Aussteiger beobachteten Doppelmoral, wenn Kameraden heimlich doch Döner essen gingen, Kontakte zu politisch Andersdenkenden hatten. Oder sie erlebten Verrat, wenn Kameraden als „Strohmänner“ in Gerichtsprozessen vorgeschickt und dann während ihrer Haft im Stich gelassen wurden. Die von uns Befragten stellten fest, dass viele der Kameraden und Kameradinnen die Sache offenbar doch nicht so richtig ernst nahmen. Auch dass Alkohol eine enorme Rolle spielt, gefiel ihnen nicht.

Zudem ist der Leistungsdruck in der Szene sehr hoch. Die Zugehörigkeit beruht nicht auf Zuneigung, sondern ist sehr eng an die Aktivitäten für die Szene geknüpft. Es wird viel verlangt. Wer Schwäche zeigt, wird schnell eiskalt aussortiert. Gewalt spielt ebenfalls ständig in irgendeiner Form eine Rolle, auch innerhalb des Milieus, wenn es Konflikte gibt. Der Druck von innen ist folglich hoch, aber natürlich auch der von außen wegen der Ermittlungen zu rechten Straftaten.

Einige der von uns Befragten schufteten regelrecht, und das jahrelang, bis sie in einer Art Burnout in sich zusammenfielen. Sie konnten einfach nicht mehr, waren vollkommen erschöpft. Sie hatten das Gefühl, kein normales Leben mehr zu haben. Insgesamt kam es bei den Interviewten vermehrt zu Enttäuschungen und im Lauf der Zeit zu massiver Desillusionierung. Die Erwartungen, mit denen sie sich der rechten Gruppierung angeschlossen hatten, stimmten immer weniger mit der Realität überein.

Wie kam es zum Ausstieg?

Das war sehr unterschiedlich. Bei manchen zog sich der Entscheidungsprozess jahrelang hin, sie zweifelten und wogen ab, immer wieder. Andere betranken sich eines Samstags in der Nacht und entschieden plötzlich: „Es reicht, ich gehe.“ Manche entschieden nach einer Zeit der Inhaftierung, dass sie diese Erfahrung einfach nicht wiederholen wollten. Wieder andere erzählten von zufälligen kurzen Begegnungen mit einem alten Schulfreund. Plötzlich erkannten sie danach, was ihnen fehlte – ein normales Leben nämlich, Freundlichkeit und Interesse von anderen, Wertschätzung.

Wie erging es ihnen, nachdem sie die Szene verlassen hatten?

In der Zeit direkt nach dem Ausstieg erlebten alle dasselbe: Sie fielen unvermittelt in ein tiefes schwarzes Loch. Sie berichteten von innerer Leere, Depressionen, Suizidgedanken und von selbstzerstörerischen Neigungen. Erst einige Zeit später kam das Gefühl der Reue, der Schuld auf.

Meiner Meinung nach ist es notwendig, sich nach dem Ausstieg eine völlig neue Identität aufzubauen und die Zeit wirklich hinter sich zu lassen. Genau das taten unsere Interviewpartner: Einige studierten, andere fanden wieder Arbeit. Manche mussten den Wohnort wechseln, weil sie von Ex-Mitstreitern bedroht wurden. Es braucht enorm viel kritische Distanz, sie ist unabdingbar. Das funktioniert meines Erachtens nur, wenn man wirklich alle Brücken zur Vergangenheit abbricht.

In Deutschland gibt es eine Reihe von Programmen, die beim Ausstieg aus dem rechten Milieu helfen. Hatten die von Ihnen Befragten daran teilgenommen?

60 Prozent hatten es allein geschafft. Das ist definitiv möglich. Aber mit professioneller Unterstützung ist der Ausstieg sicherer und erfolgreicher. Zum einen kann man an einem gewissen Punkt der Selbstreflexion an Grenzen kommen und verfängt sich in Grübeleien. Einige Befragte berichteten beispielsweise von quälenden Trigger-Erlebnissen, die sie noch längere Zeit nach dem Ausstieg hatten: „Wenn ich jemanden mit dunkler Haut sehe, wird mir schlecht.“ Das ist wie eine Konditionierung.

Psychologische Unterstützung ist sehr wichtig, um damit umgehen zu lernen und es abzubauen. Und es geht zum anderen um praktische Dinge, sei es, dass rechtsextremistische Tattoos professionell entfernt werden müssen, sei es, dass Beraterinnen mit Arbeitgebern sprechen, die im Internet Bilder früherer rechtsextremistischer Aktivitäten der Person aufgestöbert haben und nun skeptisch geworden sind.

Die Befragten berichteten von ihrer ­großen Sehnsucht danach, bedeutsam und wichtig zu sein. Blieb der Wunsch nach dem Ausstieg bestehen?

In der Anfangszeit, in der sie ein seelisches Tief erlebten, waren sie damit beschäftigt, wieder auf die Beine zu kommen. Später spielte dieser Wunsch keine große Rolle mehr – wichtiger war es ihnen, einfach ein normales Leben zu führen.

Ihre Interviewpartnerinnen und -partner fanden das ideologische Versprechen der rechten Szene verlockend. Seit Beginn der Coronapandemie verzeichnet das rechte Milieu mehr Zulauf. Wie beurteilen Sie das?

Ich halte die Situation für problematisch, weil Rechte wie beschrieben seit jeher Unsicherheit, Ängste und Unwissenheit für sich zu nutzen wissen. Sie haben dies in den vergangenen zwei Jahren deutlich offensiver getan, noch stärker ihr biologistisch-rassistisches Programm kommuniziert, sogar eigene Lieder und Hymnen für die Querdenkerbewegung komponiert und bei Demonstrationen gesungen. Nicht nur die Ideologie, auch die Bedeutung rechter Musik und der Konzerte sollte man nicht unterschätzen.

In Deutschland waren es fast ausschließlich Rechte, die die Verschwörungsbotschaften von QAnon in den sozialen Medien gezielt und massiv gestreut haben. Eine soziologische Studie im Jahr 2020 zeigte: Auf den Demonstrationen gegen Coronamaßnahmen haben Rechte Zugriff auf Menschen bekommen, die sie vorher nie erreicht hätten: Althippies, Alternative und Grüne sowie Esoterikerinnen und Esoteriker, die alle eine „Querfront“ bildeten, deren gemeinsames Dach der Widerstand gegen den Staat ist.

Daniel Köhler studierte Politik- und Religionswissenschaft. Er ist Gründer und ­Direktor des German ­Institute on Radicalization and De-radicalization Studies (GIRDS)

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 11/2021: Egoisten