Im Fokus: Wer beteiligt sich an einem Genozid?

Der französische Psychiater Dr. Richard Rechtman erforscht seit Jahrzehnten die Psyche von Massenmördern und kommt zu makaberen Erkenntnissen.

Eine Steintafel mit Namen der getöteten Tutsis in der Gedenkstätte in Ruanda, die an den Massenmord erinnert
Eine Steintafel erinnert an den Massenmord in Ruanda. An den Massakern dort waren viele Frauen beteiligt. © akg-images/Guenay Ulutuncok

Herr Rechtman, was sind das für Leute, die bei Genoziden unzählige Menschen ermorden?
Schon Hannah Arendt, die große politische Theoretikerin, hat ja dargelegt, dass es ganz gewöhnliche Menschen sind, die solche Taten begehen. Diese Einschätzung stand seinerzeit unter dem Eindruck des Holocaust, bei dem sehr viele am Massenmord beteiligt waren. Man muss mithin kein Monster sein, um solche Taten zu begehen.

Menschen, die den ganzen Tag töten, sind keine Psychopathen. Sie sind nicht blut­rünstig. Sie sind nicht…

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Menschen, die den ganzen Tag töten, sind keine Psychopathen. Sie sind nicht blut­rünstig. Sie sind nicht krank. Eine psychotische Persönlichkeit eignet sich sogar am wenigsten für das Leben als Massenmörder mit all seinen Regeln, weil Menschen mit psychotischer Persönlichkeit feste Regeln nicht sonderlich mögen. Massenmörder sind meist auch nicht darauf aus, eine bestimmte „Rasse“ oder einen bestimmten Glauben auszulöschen. Sie müssen sich den anderen meist auch nicht überlegen fühlen. Es ist auch nicht so, dass sie es kaum erwarten können, wieder zu töten. Sie freuen sich über einen freien Tag.

Woher wissen Sie das alles?
Aus meiner Feldforschung und den Erfahrungen aus meiner therapeutischen Praxis: In den 1980er Jahren wurden kambodschanische Geflüchtete nach Frankreich umgesiedelt, die in Wirklichkeit Rote Khmer waren. Sie kamen wegen gewöhnlicher Probleme in die Therapie, nicht wegen ihrer Taten. Über Letztere sprachen sie zwanglos, ohne Angst vor Verurteilung oder Konsequenzen für ihre Sicherheit. So konnte ich ihre Sichtweise kennenlernen. Zudem befasse ich mich mit Zeugenaussagen und natürlich mit der einschlägigen wissenschaftlichen Literatur.

Sind es nur Mörder oder auch Mörderinnen?
Unterschiedlich. An den Massakern in Ruanda zum Beispiel waren viele Frauen beteiligt, in Kambodscha nur wenige. Das Geschlechterverhältnis der Täter in Genoziden ist aber leider nicht genau untersucht.

Unterscheiden sich diese Menschen von anderen Kriminellen?
Ja, wir sollten da sehr klar unterscheiden, denn die Kontexte dieser Taten sind grundverschieden: Wer an einem Massenmord beteiligt ist, muss in der Regel nicht um sein eigenes Leben fürchten – jedenfalls nicht im Augenblick. Die Leute morden also ohne hohes Risiko. Und der Akt des Tötens wird recht schnell so repetitiv, dass selbst eine Lust am Bösen bald einer Ermüdung oder einem Überdruss an der Routine weicht.

Aber haben diese Menschen bestimmte psychische Merkmale, die ahnen lassen, dass sie sich an Genoziden beteiligen könnten, und zwar als genau jene, die die Morde tatsächlich ausführen?
Sicher lassen sich sadistische Persönlichkeiten oder Menschen, die schon gemordet haben, leichter dafür gewinnen. Aber andere Leute eben auch. Und natürlich haben alle ein psychisches Muster, das erklären kann, warum diese Person und nicht ihre Nachbarin so handelt.

Aber jedes dieser Muster ist hochindividuell und erlaubt keine Vorhersagen, ob ein anderer Mensch mit einem ähnlichen Muster es tun würde oder nicht. Und selbst für zuvor Krimi­nelle ist nicht vorhersehbar, ob sie sich für einen Massenmord hergeben: Einige von ihnen hassen es, als Untergebene Befehle zu bekommen. Andere lassen die Finger vom Massenmord, weil sie andere Geschäfte profitabler finden. So spielen viele Gründe und Interessen eine größere Rolle als eine rein psychisch begründete Neigung zum Bösen.

Sind die Menschen, die es werden, einfach Opfer der Umstände? 
Das können wir so nicht sagen: Sie sind Täter und Täterinnen, nicht Opfer. Ich habe den Begriff der „Verfügbarkeit“ eingeführt. Das bedeutet, dass es viele Gründe geben kann, warum sie sich beteiligen: Manche – eher selten vorkommend – wollen das eigene Leben retten. Andere wollen die Anerkennung eines Chefs oder irgendeiner Art von Kollegin oder Kollegen gewinnen. Wieder andere sind arbeitslos oder mögen ihr bisheriges Leben nicht.

Aber all diese Kriterien können auch zum Gegenteil führen: sich dem Massenmord zu verweigern. Der einzige wichtige Punkt ist, dass Massenmörder und -mörderinnen in allen Fällen gleichgültig gegenüber dem Leben und dem Tod der anderen sind. Wer an diesem Punkt nicht gleichgültig ist, wird es höchstwahrscheinlich nicht machen.

Viele Leute nehmen noch immer an, dass es dem Menschen unmöglich sein sollte, massenhaft andere Menschen zu töten. Ist das naiv? 
Diese Annahme mag verständlich sein, ist aber nicht zielführend. Wir sollten uns stattdessen fragen, warum wir immer noch annehmen, dass es unmöglich sein sollte, so viele wehrlose Leute umzubringen – auch und gerade vor dem Hintergrund, dass es seit Jahrtausenden Massenmorde gibt. Trotzdem gehen viele philosophische Ansätze noch immer der Frage nach, warum das dem Menschen möglich ist. So, als ob in einem jeden „normalen Menschen“ eine innere Grenze existieren müsste, die das unmöglich oder unerträglich macht.

Ich gehe nicht davon aus, dass solch ­eine Grenze existiert. Ich denke, dass ­diese ganze Angelegenheit kein philosophisches Thema ist. Denn man sollte ganz genau unterscheiden, was unmöglich ist und was sozial verboten oder inakzeptabel ist. Einfaches Beispiel: Es ist sinnlos, Menschen zu verbieten, mithilfe ihrer Arme und Beine zu fliegen, weil das schlicht unmöglich ist. Was die Gesellschaft verbietet, ist qua Definition grundsätzlich möglich. Zu töten ist möglich – deshalb wird es verboten.

Aber was passiert, wenn eine Gesellschaft es erlaubt und möglich macht und akzeptiert und gar empfiehlt? Das ist die Frage, die mich seit mehr als 30 Jahren umtreibt. Wie sich das Individuum dann verhält. Unter diesen Umständen bekommt das Wort „möglich“ eine Art technische Bedeutung: Wie ist es mir aus technischer oder organisatorischer Sicht möglich, täglich so viele Menschen wie möglich zu töten? Wie etwa in den wenigen Wochen des Genozids in Ruanda in den 1990er Jahren oder in den vier Jahren des Khmer-Regimes in Kambodscha in der 1970er Jahren. Das Thema des Möglichen hat dann keinen philosophischen Charakter mehr, es geht nur noch um Methodik.

Sind es, wie oft behauptet, Ideologien, die Menschen dazu bringen, viele andere zu töten?
Natürlich kommen Massenmorde oft in Zusammenhängen vor, in denen Ideo­logien Diskriminierung, Hass, Gewalt und Grausamkeit hervorbringen. Aber Ideologien können nicht erklären, was die einzelnen Menschen bei einem Genozid tun. Denn viele der Mörder wissen gar nicht viel über die Ideologie, der sie dienen. Sie scheren sich nicht wirklich darum. In meinen Forschungen erinnern sich zum Beispiel frühere Soldaten der Roten Khmer in Kambodscha an lange Lektionen der Indok­trination, die sie sich tagtäglich anhören mussten.

Lächelnd sagen sie dann: „Wissen Sie, da haben wir nur ein paar Minuten zugehört, und wenn wir etwas wiederholen sollten, haben wir das getan, ohne darüber nachzudenken.“ Niemand konnte mir die Prinzipien der Khmer-Ideologie erklären. Ähnliches sehen wir bei den jungen Dschihadisten von heute: Die wiederholen ein paar Propagandaschlagworte, aber sie haben keine Ahnung vom Islam. Trotzdem zünden sie eine Bombe.

Was passiert in den Köpfen der Menschen, wenn sie in Massen morden? 
Nichts, was ihr eigenes Handeln betrifft. Deshalb finden die meisten nach dem Massenmord auch wieder einen Platz im „normalen Leben“. Sie denken nicht einmal, dass sie mal Killer waren.

Aber werden sie durch ihre Vergangenheit nicht psychisch krank? 
Sehr selten. Meist beklagen sie sich nicht mal über Albträume, bekommen auch kein posttraumatisches Belastungssyndrom – im Gegensatz zu Soldatinnen und Soldaten, die um ihr Leben fürchten mussten. Jeden Tag hunderte oder tausende Menschen umzubringen bei einem Genozid ist dagegen gefahrlose Routine ohne große psychische Spannung.

Aber worum kreisen die Gedanken dieser Menschen in ihrem Alltag? 

Der Akt des Mordens selbst dauert nicht sehr lange – den Abzug drücken, die Machete schwingen, mit dem Messer zustechen… Das nimmt nicht die meiste Zeit des Alltags ein. Aber die Waffen vorzubereiten, die Opfer auszusuchen, den richtigen Ort für die Morde zu finden, die zukünftigen Opfer zu transportieren und die Leichen zu beseitigen – das sind die Dinge, die den Alltag der Mörder und Mörderinnen dominieren. Für sie ist ihr „Geschäft“ nicht prinzipiell böse. Das Böse liegt vielmehr in der Vorstellung, Befehle zu missachten, die ihnen übertragenen Aufgaben nicht zu erfüllen oder – schlimmer noch – sich des Vertrauens ihrer Vorgesetzten als unwürdig zu erweisen.

Sie denken nicht darüber nach, ob es richtig oder falsch ist, Menschen umzubringen. Sondern wie sie ihren Job effizienter machen können, sicherer und sauberer für sich selbst. Sie verbringen ihr Leben in dieser besonderen Atmosphäre des Todes, sie lachen auch darüber so wie alle, die einen Job haben, den sie nicht wirklich mögen, mit dem sie sich aber arrangieren müssen.

Sie scherzen viel über den Tod, weil das ihr Milieu ist. Sie trinken viel nach der Arbeit, so wie manch andere auch. Sie machen sich nicht klar, dass sie Menschen umbringen. Sie kennen weder Namen noch Gesichter, weder Geschichte noch Familie. Sie haben nur eine Aufgabe, und die erledigen sie. So war es in Deutschland,Russland, Ruanda, Polen, Jugoslawien, Kambodscha, Eritrea und überall dort, wo sich Genozide ereignet haben.

Erstaunen Sie derartige Erzählungen nicht? 
Doch, sehr. Es hat mich immer wieder überrascht, dass Massenmörder von ihrem gewöhnlichen Leben, ihren gewöhnlichen Gefühlen erzählen, aber nie von ihren Opfern. Viele Jahre nach dem Mord empfinden einige wenige manchmal Empathie für ihre Opfer – aber keine Schuld und auch keine Reue. Sie geben nur zu, dass sie manchmal Ekel empfunden haben, dass sie oft müde waren und dass sie es leid waren, die gleichen Gesten zu wiederholen. Sie beklagen sich auch darüber, dass es kein leichter Job war. Die meisten erinnern sich an harte Zeiten während der Morde.

Sie sagen: „Man bekommt Blasen an den Fingern, weil man dauernd den Abzug drücken muss.“ Oder: Der Geruch des Blutes, der Staub, die Schreie oder Spritzer aus den Leichen sind schreckliche Erinnerungen, die sie aus ihrem Gedächtnis löschen wollen. Sie beklagen sich über sich wiederholende Handlungen wie ständiges Schießen, stundenlanges Halten eines Messers oder das Erschlagen von Menschen durch wiederholte Schläge. Sie mögen den Geruch nicht. Sie mögen es nicht, den Dreck wegzumachen. Die meiste Zeit mögen sie ihre Tätigkeit nicht.

Aber nicht aus humanitären Gründen, nicht wegen des Schicksals ihrer Opfer, sondern weil es sich um einen schwierigen, unschönen Job handelt mit vielen Befehlen und nur wenig sozialer Anerkennung. Wer letztlich den Abzug drückt, der steht am Ende der sozialen Skala der Todes-Administration.

Lässt sich verhindern, dass Menschen zu Massenmördern werden? 
Ich fürchte: nein. Wir dürfen jedoch glücklicherweise feststellen, dass viele diesen schrecklichen Dienst verweigern. Einige von ihnen ziehen es vor, alles zu verlieren, statt einen Mord zu begehen. Nicht nur politische Aktivistinnen und Aktivisten, sondern auch viele „normale Menschen“, die einfach sagen: „Ich möchte nicht meine Nachbarin oder sogar Fremde töten.“ Das ist genau das, was wir bei den afghanischen Geflüchteten beobachten, die eher ihre Heimat und Familie verlassen und verlieren, als sich den Taliban anzuschließen.

Auf die Frage, die regelmäßig das westliche Gewissen plagt: „Hätte ich gemordet oder hätte ich Widerstand geleistet?“, haben bereits Millionen von Männern und Frauen geantwortet: Sie sind gegangen. Sie wollten nicht töten, um den Komfort ihres Lebens zu bewahren; sie zogen es vor, alles zu verlassen. Einige von ihnen ruhen nun anonym auf dem Grund des Mittelmeers. Die humanitäre Rettung einiger löst bei den Regierungen einerseits und den Menschen andererseits einen erbitterten Hass aus.

Andere – die große Mehrheit von ihnen – warten in baufälligen Lagern an den Grenzen Europas. Und die wenigen unter ihnen, die schließlich europäischen Boden betreten, treffen nur auf Elend, Vergessen, Argwohn. Ein trauriges Schicksal für diejenigen, die sich weigern, Völkermorde zu begehen. Also: Meist ist es nur eine Minderheit, die sich an einem Massenmord beteiligt. Aber diese wenigen richten massiven Schaden an. Deshalb gibt es nur eine Botschaft: Wir alle müssen handeln gegen jegliches totalitäre, faschistische oder rassistische Regime.

Richard Rechtman ist Anthropologe, Psychiater und Studienleiter an der L’École des hautes études en sciences sociales, einer Elitehochschule für ­Sozialwissenschaften in Paris. Seit 1990 leitet er eine transkulturelle Ambulanz für Geflüchtete im Zentrum von Paris.

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 5/2022: Was treibt mich an?