Das erste Mal passiert es bei der Arbeit. Sie steht in dem kleinen Laden an der Kasse und fühlt, wie Panik in ihr aufsteigt. Eine abgrundtiefe Angst, ohne zu wissen, wovor. Melike bemerkt, wie ihr Herz rast und sie anfängt zu schwitzen. Alles in ihr zieht sich zusammen, der Raum erscheint ihr wie ein Käfig. Sie macht ein paar Schritte, doch ihre Beine bewegen sich wie mechanisch, sie kann sie nicht mehr fühlen. Dieses beängstigende Gefühl geht auch auf den Bauch und die Arme über. Der ganze Körper scheint…
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fühlen. Dieses beängstigende Gefühl geht auch auf den Bauch und die Arme über. Der ganze Körper scheint nicht mehr zu ihr zu gehören.
Damit die Kollegen nichts merken, flüchtet sich Melike in die Damentoilette. Sie schaut in den Spiegel und erkennt ihr eigenes Gesicht nicht mehr. Sie weiß, „das bin ich“, und zugleich erscheint ihr dieses Gesicht fremd und ohne einen Bezug zu ihr selbst. Auch die Dinge um sie herum nimmt sie nur noch wie hinter einem Schleier wahr. Melike ist plötzlich abgespalten von der Welt – und von sich selbst. „Alles um mich herum kam mir unecht vor, wie ein Theaterstück.“
„Neben sich zu stehen“ oder die Welt nur noch gedämpft wahrzunehmen, das hat fast jeder schon einmal erlebt. Ein solcher innerer Rückzug aus einer belastenden Situation ist zunächst keine Störung, sondern ein Schutz, auf den die Psyche bei Überforderung zurückgreifen kann. Extreme Müdigkeit, Alkohol, Drogen oder Grenzsituationen wie ein Autounfall und eine Geburt können solche Gefühle auslösen. Manche Menschen erleben nach dem Tod eines nahen Angehörigen, dass sie „nur noch funktionieren“ und die Welt wie unter Watte wahrnehmen. „Je höher der emotionale Stress, desto eher kann eine Dissoziation, also eine Abspaltung stattfinden“, erklärt der Psychotherapeut Christian Stiglmayr.
Vor allem Jugendliche kennen den Zustand
In einer Umfrage der Mainzer Uniklinik von 2009 gaben fast 28 Prozent der 1287 Befragten an, in den letzten sechs Monaten ein Symptom der Entfremdung erlebt zu haben. Unter Kindern und Jugendlichen scheint dieses Gefühl sogar noch stärker verbreitet zu sein, wie 2014 eine ebenfalls von der Universitätsmedizin Mainz initiierte Befragung von 3809 rheinland-pfälzischen Schülerinnen und Schülern im Alter von 12 bis 18 Jahren ergab. 47 Prozent, also fast die Hälfte, gaben an, zumindest an einigen Tagen das Gefühl zu haben, von ihrer Umgebung abgetrennt zu sein oder sich selbst und alles um sie herum als unwirklich zu empfinden. 12 Prozent fühlten sich durch solche Symptome sogar stark belastet.
Meist jedoch ist dies ein vorübergehendes Phänomen, und das Gefühl, sich selbst fremd zu sein, lässt nach ein paar Minuten oder spätestens nach ein paar Stunden wieder nach.
Auch Melike hofft, dass alles schnell wieder vorbeigeht, doch der merkwürdige Zustand hält an. „Ich dachte, ich müsste mich umbringen, weil ich dieses Gefühl nicht mehr aushalte. Drei Wochen lang hatte ich geweitete Pupillen, als wäre ich auf Drogen. Das kam allein von der Angst.“ Vergeblich versucht die junge Frau, allein damit zurechtzukommen. Als sie schließlich in der Psychiatrie um Rat fragt, werden ihr Antidepressiva und Beruhigungsmittel verordnet, doch die veränderte Wahrnehmung bleibt. Erst als sie ihre Symptome googelt, merkt sie, dass sie nicht die Einzige auf der Welt ist, die sich in einem entfremdeten Zustand befindet. Und sie erfährt einen Namen für das, worunter sie leidet: Depersonalisations- und Derealisationsstörung.
Eine Störung des Selbstempfindens
Die rätselhafte Störung kann sich bei den Betroffenen ganz unterschiedlich äußern. Ein Blick in das internationale Diagnostikmanual DSM-5 zeigt, dass eine Depersonalisation in allen Bereichen stattfinden kann, die wir als „zu uns selbst gehörend“ wahrnehmen. Bei manchen scheint der Körper nicht mehr der eigene und nicht kontrollierbar zu sein. Die Entfremdung kann auch die Gefühle betreffen („Ich weiß, dass ich Gefühle habe, aber sie kommen nicht mehr bei mir an“) oder die gesamte eigene Person („Ich bin nicht mehr da“). Sogar die eigenen Gedanken können fremd erscheinen.
Häufig geht die Depersonalisation mit einer „Derealisation“ einher, bei der die Wahrnehmung der Außenwelt gestört ist. Viele vergleichen das Gefühl mit einem Nebel, einem Schleier oder einer durchsichtigen Mauer, die sich zwischen sie und ihre Umwelt schiebt.
„Für mich fühlen sich die Welt und andere Menschen leblos und fremd an, als wären sie gar nicht richtig da“, versucht Markus Remmel (Name geändert) diesen Zustand zu erklären. „Als gesunder Mensch hat man immer ein Gefühl von Gegenwart, vom Jetzt und Hier. Das ist ein Grundgefühl. Das ist so selbstverständlich, dass man es erst bemerkt, wenn es plötzlich nicht mehr da ist.“ Der 29-Jährige leidet seit mehr als vier Jahren fast ununterbrochen an Derealisation. Er hat deswegen sein Maschinenbaustudium abgebrochen. „Die Leere, die man fühlt, ist so beklemmend, dass sie Todesangst auslöst.“
Auch andere Menschen lassen ihn seitdem gleichgültig. Er empfindet kein Mitleid oder Schmerz. Aber auch schöne Gefühle können andere Menschen nicht mehr in ihm auslösen. Etwa sich zu verlieben, das gehe nicht mehr, sagt der junge Mann. „Die Dinge, die mir früher Spaß gemacht haben, Freunde treffen, Musik machen oder ins Kino gehen – das alles berührt mich überhaupt nicht mehr.“
Der Begriff „depersonalisiert“ geht auf den Schweizer Philosophen und Schriftsteller Henri-Frédéric Amiel zurück, der bereits 1880 einen entsprechenden Zustand in seinem Tagebuch beschreibt. Der Psychiater Ludovic Dugas greift den Begriff 1898 auf, um die Störung zu benennen. Doch obwohl die Krankheit seit mehr als 100 Jahren bekannt und gut beschrieben ist, wird sie heutzutage fast nie erkannt. Experten schätzen, dass rund ein Prozent der Bevölkerung daran leidet. Die Erkrankung wäre damit ähnlich weit verbreitet wie zum Beispiel Essstörungen. Aber nur einer von 100 Betroffenen erhält den Schätzungen zufolge die richtige Diagnose, und das meist erst nach Jahren – eine vernichtende Bilanz. Weil in den allermeisten Fällen eine Fehldiagnose gestellt wird, werden die Betroffenen oft gar nicht oder falsch behandelt.
Das Gefühl, verrückt zu werden
Der Psychosomatiker Matthias Michal ist ein ausgewiesener Fachmann für dieses seltsame Störungsbild. Seit 2005 leitet er an der Mainzer Universitätsmedizin eine Spezialsprechstunde für Depersonalisation, die erste in Deutschland. „Depersonalisationspatienten haben keine Erklärung für das, was sie erleben“, sagt Michal. „Sie denken, die Symptome seien die ersten Anzeichen einer Schizophrenie oder einer schweren Gehirnkrankheit. Die warten darauf, dass sie als Nächstes auch Stimmen hören.“ Das Gefühl, „verrückt zu werden“, versetzt sie in Panik. Wenn Betroffene beim Arzt berichten, dass die Welt nicht mehr „echt“ sei, dass sie selbst nicht mehr wirklich existierten, falle es diesem schwer, die Symptome von echten Wahnvorstellungen zu unterscheiden.
Allerdings gibt es einen erheblichen Unterschied zu einer Psychose: Den Betroffenen ist immer bewusst, dass nicht die Realität verändert ist, sondern lediglich ihr Gefühl, ihre Wahrnehmung davon. Sie wissen, dass der Körper, den sie betrachten, ihr eigener ist, auch wenn er ihnen fremd erscheint. Sie wissen, dass sich nicht wirklich ein Nebel über die Welt gelegt hat, auch wenn sie diesen Schleier immer vor Augen haben.
Außerdem sind Menschen mit einer Depersonalisations- und Derealisationsstörung im Vergleich zu Patienten mit anderen psychischen Störungen sehr unauffällig. Ihre Mimik und ihr Verhalten wirken nach außen vergleichsweise gesund und spiegeln in keiner Weise wider, welches Leid sich in ihnen abspielt. „Es besteht ein extremer Kontrast zwischen dem eigenen Erleben und dem, wie man erlebt wird“, sagt Markus Remmel. „Wenn meine Freunde und meine Familie verstanden hätten, wie drastisch mein Zustand ist, hätten sie mich sofort in die Psychiatrie einweisen lassen.“ Zwei Jahre lang verschweigt er vor allen seine Symptome. Viel zu verrückt und für andere nicht nachvollziehbar erscheint ihm das, was er erlebt.
Für den Psychosomatiker Michal ist das ein typischer Fall: Seiner Erfahrung nach schämen sich viele Betroffene für ihre veränderte Wahrnehmung. Beim Arzt sprächen sie von Ängsten und Schlafstörungen, aber die eigentlichen Symptome verschwiegen sie häufig – und erschwerten damit erst recht eine richtige Diagnose.
Der Therapeut Stiglmayr weist zudem darauf hin, dass in dem in Deutschland üblichen strukturierten Interview, das Psychiater mit einem Patienten führen, um eine eindeutige Diagnose zu stellen, die dissoziativen Störungen gar nicht vorkommen. Eine Depersonalisation lässt sich in dem Standardverfahren also nicht erfassen. Dazu müsse ein ergänzendes Diagnostikinterview geführt werden, erklärt Stiglmayr.
Die Angst vor Zurückweisung
Viele Patienten geben an, dass die Entfremdung von außen ausgelöst wurde, beispielsweise durch ein belastendes Ereignis oder Cannabiskonsum. Doch die Ursachen liegen wahrscheinlich tiefer. Matthias Michal vermutet, dass die Depersonalisation eine Funktion hat: Nach seiner Auffassung haben die Betroffenen ihre Gefühle „eingefroren“, um diese besser kontrollieren zu können und um sich ihrer nicht schämen zu müssen. Trotz ihrer großen Angst vor Zurückweisung könnten diese Menschen mit anderen in Kontakt treten. Sie seien dabei aber nie „ganz da“ und könnten deswegen auch nicht verletzt werden.
Nach Michals Erfahrung gibt es bestimmte Persönlichkeitsmerkmale, die typisch sind für Menschen mit einer Depersonalisationsstörung: Viele von ihnen sind besonders sensible und ängstliche Personen, die ohne eine stabile emotionale Bindung zu ihren Eltern aufgewachsen sind. Ihnen fehlte ein wertschätzendes Gegenüber, das ein Kind braucht, um ein gesundes Selbstwertgefühl zu entwickeln. Rund drei Viertel von Michals Patienten sind Männer. Viele von ihnen hatten schon immer Schwierigkeiten, zu verstehen, was in ihnen vorgeht. „Sie haben sehr viel Angst vor ihren eigenen Gefühlen und vor Nähe. Sie befürchten, abgelehnt oder nicht geliebt zu werden, und wagen es daher nicht, zu sagen, was sie wirklich fühlen und wünschen.“
Der US-amerikanische Drehbuchautor und Regisseur Harris Goldberg hat seine eigenen Erfahrungen mit Depersonalisation in dem Kinofilm Numb – leicht daneben von 2007 verarbeitet. Er erzählt die Geschichte von Hudson, der nach einem Joint mit Freunden in einem depersonalisierten Zustand hängenbleibt. Mit allen Mitteln versucht Hudson, die Störung wieder loszuwerden: durch noch mehr Kiffen, Sex oder den Kick beim Ladendiebstahl. Er erlebt eine Odyssee von Psychiater zu Psychiater. Am Ende landet er in einer Spezialklinik. Doch alles, was die Ärztin ihm nach tagelangen Tests sagen kann, ist, dass er eine Depersonalisationsstörung hat. Hudson fragt, was er dagegen tun könne. Die knappe Antwort der Ärztin: Das wisse sie auch nicht.
Das Schattendasein der Erkrankung hat zur Folge, dass bislang wenig erforscht ist, welche Therapieformen am besten wirken. Die deutschen Leitlinien für das Depersonalisations- und Derealisationssyndrom empfehlen eine kognitive Verhaltenstherapie, bei der die Patienten lernen, ihre Symptome, ihre Wahrnehmung von Gefühlen und ihr Vermeidungsverhalten besser zu verstehen. Es geht vor allem darum, die „katastrophisierende“ Bewertung der veränderten Wahrnehmung zu durchbrechen. „Das ist ein Teufelskreis“, erklärt Psychosomatiker Michal: „Die Symptome lösen heftige Ängste aus. Dadurch wird die Störung aber noch schlimmer. Denn Depersonalisation ist ein Angstsymptom.“
Die Gefühle sind nicht amputiert
Michal versucht zudem, die Patienten wieder in Kontakt mit ihren Gefühlen zu bringen. „Die Gefühle sind ja nicht amputiert“, sagt er. „Es gibt Patienten, die behaupten, sie spürten gar nichts mehr. Aber alle berichten über Symptome von Angst. Dann merken sie, dass das ein Gefühl ist, das durchaus noch da ist.“ Eine wichtige Rolle bei der Therapie spielen Achtsamkeitsmeditationen, wie zum Beispiel Atemübungen und Körperreisen, die die Selbstwahrnehmung der Patienten verbessern. Solche Übungen werden mittlerweile bei vielen psychosomatischen Störungen eingesetzt. Doch Matthias Michal ist überzeugt, dass sie ganz besonders für die Depersonalisationsstörung geeignet sind: „Die meisten Patienten berichten, dass schon während der Achtsamkeitsmeditation die Symptomatik in den Hintergrund tritt.“
Denn ein typisches Symptom ist auch, dass die Betroffen sich ständig selbst kontrollieren: Sie beobachten nicht, was geschieht, sondern wie sie es wahrnehmen. Die Entfremdung zieht ihre ganze Aufmerksamkeit auf sich. Indem die Patienten lernen, ihre Aufmerksamkeit bewusst auszurichten und damit auch weg von sich selbst, hin zur Welt zu lenken, können sich die Symptome verringern. Michal berichtet, dass auch Menschen mit einer schweren Störung ihre Symptome abstreifen können, wenn es ihnen gelingt, sich für einen Moment ganz ihrem Empfinden zu überlassen, beispielsweise mit einem guten Film, Musik, Sex oder Sport.
Auch Markus Remmel war mehrere Wochen stationär in Michals Spezialsprechstunde. „Ich hatte Glück. Eine Ärztin hat irgendwann erkannt, dass es nicht reicht, mich wegen Depressionen zu behandeln, und mich nach Mainz geschickt.“ Hier hat er andere Patienten mit ähnlichen Erfahrungen getroffen. Er konnte seine Ängste zum Teil abbauen und hat viel über sich selbst gelernt: „Ich war schon immer ziemlich sensibel, aber ich habe meine Gefühle nie ausgelebt.“ Vor allem hat Markus Remmel Vertrauen geschöpft, dass er wieder gesund werden kann. „Vielleicht muss ich noch jahrelang eine Psychotherapie machen. Aber die Derealisation wird immer besser werden und eines Tages ganz verschwunden sein. Davon gehe ich fest aus.“
In einer britischen Studie von 2005 konnte fast ein Drittel der Patienten mit einer ambulanten Verhaltenstherapie so weit geheilt werden, dass die Krankheit nicht mehr diagnostizierbar war. Melike ist es sogar gelungen, die Symptome ganz loszuwerden. Das ist ihr wichtig zu betonen. Denn noch immer kursiert in vielen Foren und Facebook-Gruppen die Meinung, dass sich bei der Depersonalisation die Symptome niemals vollständig zurückziehen. Melike hat eine Psychoanalyse begonnen. Ansonsten lebt sie wie vor der Erkrankung. Sie hat ihr Psychologiestudium wieder aufgenommen und arbeitet nebenbei, um ihren Lebensunterhalt zu finanzieren. Der Unterschied: Sie hat gelernt, auf sich zu achten. PH
Typische Symptome der Depersonalisation
Die Betroffenen fühlen sich wie losgelöst von den eigenen Empfindungen und dem Gefühl für sich selbst Der eigene Körper, die eigenen Gefühle, die eigenen Gedanken oder sogar die ganze eigene Person scheinen fremd, unwirklich und weit entfernt Dazu gehören auch: Wahrnehmungsveränderungen, emotionale und körperliche Taubheit und gestörtes Zeitempfinden
Typische Symptome der Derealisation
Die Umgebung erscheint unwirklich und entfernt. Personen und Dinge werden wie hinter einem Nebelschleier, als leblos, farblos, verzerrt oder uninteressant empfunden.
Rat und Hilfe
Ratgeber von Matthias Michal: Depersonalisation und Derealisation. Die Entfremdung überwinden. Kohlhammer, Stuttgart 2018 (3. erweiterte und überarbeitete Auflage)
Sprechstunde Depersonalisation an der Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der Mainzer Universitätsmedizin, Untere Zahlbacher Str. 8, 55131 Mainz, Tel. 06131/17-7381. Informationen: tinyurl.com/depersonalisation-mainz
Blog einer Betroffenen: Farbensehnsucht