Im Sommer 2010 haben Forstarbeiter ein entlegenes Waldstück im Harz abgesperrt. Einige Bäume sollen gefällt werden, es besteht Lebensgefahr. Deshalb stoppen sie die Arbeit, als eine junge Frau durch das Sperrgebiet läuft. Sie macht einen verwirrten Eindruck: Sie weiß weder, wie sie heißt, noch, wo sie herkommt. Als die Arbeiter sie ins Krankenhaus bringen wollen, bricht sie in Panik aus. Widerwillig lässt sie sich schließlich zu einem Arzt begleiten. „Ich hatte Glück. Wenn der Wald nicht gesperrt gewesen…
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hatte Glück. Wenn der Wald nicht gesperrt gewesen wäre, wären die Männer gar nicht auf mich aufmerksam geworden“, sagt Lisa Menke heute, acht Jahre später. Wie lange wäre sie dann ohne Gedächtnis herumgeirrt?
Beim Arzt seien langsam die Erinnerungen zurückgekommen, erzählt Menke. Sie erinnerte sich wieder, wer sie war und wo sie lebte. Und sie erinnerte sich auch, dass sie am Morgen ihre beiden Kinder zur Schule gefahren hatte. Doch was war danach geschehen? Wieso war sie von ihrer Heimatstadt 80 Kilometer bis in den Harz gefahren und in den Wald gelaufen? Und wo hatte sie das Auto gelassen? Bis heute kann sich Lisa Menke an nichts von dem erinnern, was während ihres Aussetzers passiert ist. Dieser Tag gähnt wie ein schwarzes Loch in ihrem Gedächtnis.
Erst drei Wochen später fand die Polizei Menkes Wagen auf einem Parkplatz, rund acht Kilometer vom Wald entfernt. Weder war das Auto beschädigt, noch war Lisa Menke, damals 35 Jahre alt, körperlich etwas zugestoßen. „Dennoch fühlte ich mich ganz leer und unendlich erschöpft. Ich habe danach tagelang geschlafen.“ Sie machte sich Vorwürfe, dass sie sich derartig egoistisch verhalten und ihre Kinder im Stich gelassen hatte. Doch vor allem fiel es ihr schwer zu begreifen, dass sie nicht willentlich ausgerissen war, sondern für mehrere Stunden ihr Gedächtnis und die Kontrolle über sich verloren hatte.
Lisa Menke hätte den Vorfall gerne als einmaliges Ereignis abgetan, um einfach zu ihrem Alltag mit zwei Kindern und ihrer Arbeit als Krankenschwester zurückzukehren. Doch nicht einmal zwei Monate später ergriff sie – ohne es steuern zu können – erneut die Flucht. Als sie dieses Mal wieder zu sich kam, stand sie mit ihrem Auto in einer ihr unbekannten Straße mit unbekannten Gebäuden. „Ich habe mich nicht getraut, jemanden zu fragen, wo ich bin. Die Leute hätten mich für verrückt gehalten. Ich habe mir deswegen einen Hamburger gekauft. Auf dem Kassenzettel las ich dann: Mannheim! Mannheim – da war ich doch vorher noch nie.“
Über 300 Kilometer war sie gefahren, ohne aufzufallen. Ein Teil ihres Bewusstseins hatte sich zeitweise abgeschaltet, doch die Fähigkeit, Auto zu fahren, war offenbar intakt geblieben. Sie musste unterwegs sogar getankt haben, davon zeugte ein Kassenbon, der im Auto lag.
Äußerlich geordnet, innerlich weit weg
Fugue ist das französische Wort für „wegrennen“, „ausreißen“. Eine dissoziative Fugue, das ist laut der Internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10) „eine zielgerichtete Ortsveränderung von zu Hause oder vom Arbeitsplatz fort, wobei sich die betreffende Person äußerlich geordnet verhält. Zusätzlich liegen alle Kennzeichen einer dissoziativen Amnesie vor.“ Das heißt, das Fortlaufen geht mit einem Gedächtnisverlust einher, der nicht mit einer körperlichen Ursache erklärt werden kann. Eine Fugue kann ein paar Stunden andauern oder auch einige Monate. Immer wieder wird von Fällen berichtet, in denen die Betroffenen sogar eine neue Identität an ihrem Zielort angenommen und zeitweilig ein neues Leben begonnen haben, bis sie wieder „aufgewacht“ sind. Der Psychiater Carsten Spitzer begegnet solchen Geschichten allerdings mit Skepsis. „In den extremen Fällen könnte auch Simulation im Spiel sein“, warnt er. Die Störung ist selten – Schätzungen zufolge sind 0,2 Prozent der Bevölkerung einmal in ihrem Leben betroffen. Entsprechend wenig ist sie bislang erforscht.
Nach ihrer Tour nach Mannheim entschied sich Lisa Menke, Hilfe zu suchen. Einen solchen Aussetzer wollte sie nie wieder erleben. Das Auto musste weg. Auch die Autoschlüssel deponierte sie bei Bekannten. Außerdem meldete sich Menke in einer psychotherapeutischen Tagesklinik an. Denn die Aussetzer waren nicht folgenlos geblieben. Mit dem zeitweiligen Gedächtnisverlust hatte sich in ihr eine Art Schleuse in die Vergangenheit geöffnet.
„Stück für Stück kamen schreckliche Erinnerungen hoch, die ich alle vergessen hatte. Ich brauchte Zeit, um die vielen Teile wieder zusammenzusetzen und um sie überhaupt zu verstehen. Noch heute gibt es Erinnerungsfetzen, die ich nicht zuordnen kann.“ Es sind Bilder und Gefühle aus Menkes Kindheit. Sie handelten von grausamen Misshandlungen durch ihre Großmutter, denen sie schutzlos ausgeliefert war.
Menke und ihre vier Geschwister waren damals oft allein, der Vater auf Montage, die alkoholabhängige Mutter manchmal tagelang unterwegs. Menke brachte ihre kleinen Geschwister in den Kindergarten, wechselte die Windeln, kochte für sie und schaffte es trotzdem, gute Noten in der Schule zu bekommen. Als Lisa Menke mit 18 Jahren von zu Hause auszog, hatte sie nicht nur bereits ihr erstes Kind, sondern nahm auch die beiden jüngsten Geschwister, die damals fünf und sieben Jahre alt waren, mit, um für sie zu sorgen. „Ich habe früh gelernt, meine Gefühle auszuschalten und einfach zu funktionieren.“
Gedächtnis, Bewusstsein oder Kontrolle vorübergehend nicht verfügbar
Die Fugue gilt als eine der „dissoziativen Störungen“. Unter Dissoziation wird die teilweise oder völlige Desintegration von Gedächtnis, Bewusstsein, Emotionen oder Wahrnehmung verstanden. Das heißt, ein Teil dieser psychischen und körperlichen Funktionen ist zwar noch da, aber für die Person zeitweilig oder ständig nicht mehr zugänglich. Auch Menschen ohne dissoziative Störungen kennen solche Zustände, etwa wenn wir in einem Tagtraum versinken und die Umgebung vergessen oder wenn uns für einen Moment die eigene Stimme oder das eigene Gesicht im Spiegel fremd vorkommt.
Viele Menschen leiden nicht nur an einer, sondern an mehreren Formen der Dissoziation oder anderen Symptombildern: Depersonalisation etwa beschreibt das Gefühl der Entfremdung von der eigenen Person (siehe Heft 6/18: Und plötzlich wirkt nichts mehr real). Zu den somatoformen Störungen gehören körperliche Symptome wie Lähmungszustände, Krämpfe, aber auch nicht erklärbare Schmerzen. Bei der dissoziativen Amnesie sind Teile der eigenen Vergangenheit wie ausgelöscht.
Auch Lisa Menke schien – ohne es zu wissen – viele Erinnerungen vor sich selbst versteckt zu haben. Doch Auslöser für die Fugue-Zustände war schließlich eine aktuelle Belastung: Nach der Trennung von ihrem gewalttätigen Mann war Menke mit den beiden Kindern in eine andere Stadt geflohen. Als er die neue Adresse herausfand, bedrohte er sie und belagerte das Haus. „Wir haben uns im Wohnzimmer verbarrikadiert. Einmal sind wir durch den Keller entkommen.“ Menke erreichte, dass eine Schutzanordnung gegen ihn erteilt wurde, die ihm untersagte, sich der Frau und den Kindern zu nähern. Er zog sich zurück, doch in Menke blieb eine tiefsitzende Angst.
Sieben Jahre hat Menke in Therapie verbracht. Die Diagnose: posttraumatische Belastungsstörung, depressive Episoden und ein extremes Restless-Legs-Syndrom, das sie daran hindert, mehr als zwei bis drei Stunden am Stück zu schlafen. Sie hat viel über ihre Kindheit und ihre Erkrankungen verstanden, Fertigkeiten gelernt, mit denen sie sich beruhigen kann, wenn sie von Panik ergriffen wird. Doch die Flashbacks aus ihren Kindertagen und die Angstzustände aus der Zeit der Trennung begleiten sie weiterhin und machen es ihr unmöglich zu arbeiten.
Ein Schutzmechanismus
Der Begriff „Dissoziation“ geht auf den französischen Arzt Pierre Janet zurück, der schon 1889 in seiner Doktorarbeit L’automatisme psychologique ein ausführliches Modell für das Zusammenspiel verschiedener psychischer Funktionen vorstellte. Zunächst konnte sich Janet mit seinem Dissoziationskonzept nicht durchsetzen. 1911 führte der Schweizer Psychiater Eugen Bleuler einen konkurrierenden Begriff der Spaltung ein: den der Schizophrenie. Im Zuge dessen kam es immer wieder vor, dass bei dissoziierenden Patienten eine Schizophrenie fehlgedeutet wurde, meint Carsten Spitzer.
Zudem dominierte lange Zeit die psychoanalytische Abwehrtheorie von Sigmund Freud das Krankheitsverständnis. Freud sah in der Abspaltung nicht wie Janet eine Folge realer traumatischer Erfahrungen, sondern ging vielmehr davon aus, dass die seinerzeit als „hysterisch“ bezeichneten Patienten aktiv sexuelle Fantasien verdrängten. Die unterdrückten Triebregungen äußerten sich dann in einem körperlichen Symptom, was Freud als Konversionsstörung bezeichnete.
Heute wird Dissoziation vom Gros der Experten als ein Schutzmechanismus gesehen. Denn viele Betroffene haben ein Trauma erlebt, in ihrer Kindheit oder auch als Soldaten im Krieg. Wenn die Belastung in einer traumatischen Situation zu groß wird, so die Theorie, spalten viele Menschen einen Teil ihrer Empfindungen ab: Sie nehmen sich nur noch wie von außen wahr oder empfinden ihre Schmerzen nicht mehr.
Bei anhaltender traumatischer Belastung kann diese Abspaltung zur gewohnheitsmäßigen Reaktion werden. „Ein Kind, das gestern heftig von seinem Vater geschlagen wurde, kann den Widerspruch, dass es heute mit dem gleichen Vater in der Küche zusammensitzt, besser ertragen, wenn es diese Erfahrung ausblendet. Es entwickelt einen Automatismus, diese belastenden Bereiche in einen anderen Topf zu packen und mit einem Deckel zu verschließen“, erklärt die Psychotherapeutin Ursula Gast. Bei manchen Menschen bleibt dieser Automatismus erhalten, auch Jahre später, wenn das Kind längst erwachsen und die akute Bedrohung vorbei ist.
Der angelernte Schutzmechanismus setzt dann immer wieder in besonders emotionalen Momenten ein. Etwa in einer Prüfungssituation. „Ich hatte eine Patientin, die konnte sich nicht mehr daran erinnern, ob sie ihre Prüfung bestanden hatte. Andere Menschen vergessen ihre Hochzeit oder die Geburt des eigenen Kindes.“ Diese hochemotionalen Erlebnisse würden im Gedächtnis aussortiert und sozusagen in einem separaten Speicher verstaut. Für die Fugue bedeutet das: In der Auslösesituation tut die Psyche das, was sie als Bewältigungsstrategie gelernt hat: Sie aktiviert ein anderes Netzwerk, in dem bestimmte konflikthafte Inhalte nicht mehr zugänglich sind, das eigentliche Ich-Bewusstsein wird ausgeschaltet.
Spaltung der Persönlichkeit
Nicht nur einzelne Erfahrungen, sondern auch ganze Persönlichkeitsanteile können abgespalten werden, gerade bei Menschen, die besonders grausame Misshandlung oder Missbrauch über einen langen Zeitraum erlebt haben. „Diese traumatisierten Anteile der Person können über Jahre eingefroren bleiben und dann plötzlich hochkommen und die Kontrolle übernehmen. Dann ist es wieder 1975, und das Kind wartet darauf, dass gleich der Vater ins Zimmer kommt“, erklärt Gast. Die Psychotherapeutin erinnert sich an eine Patientin, bei der dieser Zustand einsetzte, als sie im Auto saß. „Plötzlich war sie wieder ein fünfjähriges Kind voller Angst. Sie wusste nicht mehr, wie man Auto fährt. Hinter ihr hupten alle, aber sie konnte nur noch ihren Mann anrufen.“
Auch Sabine Sehmsdorf lebt mit verschiedenen Identitäten in sich, die teilweise nichts voneinander wissen. „Das wechselt manchmal sogar während eines Gesprächs. Dann kann es sein, dass ich nicht mehr weiß, wer da gerade vor mir sitzt.“ Wenn Sabine Sehmsdorf morgens wach wird, weiß sie nicht, was sie erwartet. Einmal hat jemand in der Nacht das Wohnzimmer umgeräumt, ein anderes Mal auf ihrem Computer die ersten zwei Kapitel für einen Roman geschrieben, oder im Hobbyraum liegt plötzlich ein Bild, das offensichtlich eine Fünfjährige gemalt hat. Doch Sabine Sehmsdorf kann sich an nichts erinnern.
Laut dem aktuellen Diagnostikmanual der American Psychiatric Association bestehen bei der dissoziativen Identitätsstörung zwei und mehrere Persönlichkeitszustände oder Identitäten nebeneinander, die wechselnd die Kontrolle über das Verhalten übernehmen. Nach einem Identitätswechsel erinnern sich die Betroffenen mitunter nicht daran, was gerade passiert ist. „Einen vergleichbaren Wechsel können auch gesunde Menschen erleben“, erklärt der Psychiater und Traumatherapeut Gustav Wirtz. Etwa wenn man bei einem Klassentreffen, umgeben von alten Schulfreunden, feststellt, dass man sich wie zu Schulzeiten verhält.
Meist konkurriert ein „anscheinend normaler Persönlichkeitszustand“ – wie Ursula Gast es nennt –, der im Alltag funktioniert und die traumatischen Erinnerungen vermeidet, mit den „emotionalen Persönlichkeitszuständen“, die mit dem Hier und Jetzt nicht viel anfangen können. „Es ist wie in einer Schaltzentrale. Die starke Frau vorne muss immer aufpassen, dass ihr das Kommando nicht entrissen wird“, beschreibt Sehmsdorf ihr Innenleben. In einer vielzitierten Studie konnten die niederländische Psychiaterin Simone Reinders und ihre Mitarbeiter zeigen, dass für Erregung zuständige Hirnregionen bei der Konfrontation mit dem Trauma unterschiedlich stark aktiviert werden, je nachdem welcher Persönlichkeitsanteil gerade vorne steht.
Neben Amnesien sind auch Fugue-Zustände häufig eine Begleiterscheinung der dissoziativen Persönlichkeitsstörung. Sabine Sehmsdorf erlebte in schlechten Zeiten fast zweimal im Monat eine Fugue, oft wenn sie im Auto saß. „Einmal bin ich wieder zu mir gekommen, weil mein Kind auf der Rückbank fragte: Mama, wo sind wir?“ Die Panik, die dann in ihr aufsteigt, bekämpft sie, indem sie ihren Mann anruft. Sie braucht einen Moment, um sich wieder zu orientieren, wer sie ist, wo sie ist und welcher Tag gerade ist. In ihrem Handy ist ein Terminkalender gespeichert, um sie zu erinnern, wo sie hinfahren wollte. Per GPS lässt sie sich dann zu ihrem ursprünglichen Ziel navigieren. Nach jeder Fugue bleibt ein Gefühl großer Leere: „Das ist, als ob das ganze System abgestürzt ist. Das muss erst wieder hochfahren und sich neu sortieren.“
Ein umstrittenes Störungsbild
Die dissoziative Identitätsstörung, früher auch als multiple Persönlichkeitsstörung bezeichnet, ist umstritten. Spektakuläre Fallgeschichten wie die von Chris Costner Sizemore, die 1957 als The Three Faces of Eve verfilmt wurde und eine mysteriöse Jekyll-Hyde-Spaltung beschrieb, schienen mehr der Fantasie des behandelnden Arztes als der wissenschaftlichen Patientenbeobachtung zu entspringen. Auch heute bezweifeln viele Psychologen und Psychiater, dass es die dissoziative Identitätsstörung überhaupt gibt. Ein Argument: Ihnen sei noch nie ein solcher Fall begegnet.
Doch anderen Schätzungen zufolge sind immerhin ein bis drei Prozent der Bevölkerung einmal im Leben betroffen. Allerdings vertuschen die allermeisten Betroffenen ihre Symptome so gut es geht, um nicht für verrückt gehalten zu werden. „Sie vermeiden, vermeiden, vermeiden“, beschreibt die Heilpraktikerin und Traumatherapeutin Diana Kerzbeck ihre Klienten. „Sie gehen wegen zusätzlicher Symptome zum Arzt, verschweigen aber, dass sie mehrere Identitäten in sich tragen.“
Ursula Gast vermutet, dass die dissoziative Identitätsstörung auch deswegen auf wenig Akzeptanz stößt, weil sie häufig mit schwerem sexuellem Missbrauch zusammenhänge und ebenso wie dieser tendenziell verdrängt und verleugnet werde – von den Betroffenen ebenso wie gesamtgesellschaftlich, und damit auch von Ärzten.
25 Jahre lang hat Sabine Sehmsdorf als Jugendsozialarbeiterin alles gegeben. Eine hochmotivierte Mitarbeiterin, deren Projekte immer perfekt laufen mussten. „Das war reiner Aktivismus, um sich nie selbst zu spüren“, sagt sie heute. Denn Sabine Sehmsdorf ging es nicht gut. Immer wieder kam sie in Behandlung, wegen psychosomatischer Beschwerden, Ess- und Angststörungen.
Andere interpretieren sie als launenhaft
2014, mit 46 Jahren, erlebte Sabine Sehmsdorf eine Retraumatisierung. In einem Jugendzentrum hatte sie mit einer Grundschülerin zu tun, bei der es viele Hinweise auf Missbrauch gab. Auf WhatsApp kursierten Fotos von ihrem Geschlechtsteil, einmal wurde sie im Feld mit einem Sechzehnjährigen gefunden. „Das hat mich umgehauen. Mir ist klargeworden, dass ich so etwas auch erlebt habe. Lauter Erinnerungsfragmente prasselten auf mich nieder, klare Bilder oder auch nur Gefühle von Angst und Erniedrigung, die jahrzehntelang verschüttet gewesen waren.“
Die Hausärztin, die sie krankschrieb, hatte auch einen Namen für das, was Sehmsdorf erlebt: dissoziative Identitätsstörung. Endlich schienen alle ihre Symptome einen Sinn zu ergeben. Sehmsdorf glaubt, dass sie schon als Jugendliche zwischen verschiedenen Identitäten wechselte. Sie hat zahlreiche Strategien entwickelt, um nicht aufzufallen. Ihr unterschiedliches Verhalten wird als Launenhaftigkeit interpretiert. Im Gespräch verliert sie manchmal den Faden, hört dann aber wieder auf ihre offene und ehrliche Weise zu. Nur ein Kollege hat sie durchschaut und sie immer mit den Worten „Na, wer bist du heute?“ begrüßt.
Eine dissoziative Identitätsstörung zu heilen ist ein langer Weg. Sabine Sehmsdorf glaubt nicht, dass sie alle ihre Persönlichkeitsanteile eines Tages wieder „integrieren“ kann. Doch geht es ihr besser, seit sie eine Erklärung dafür hat, woher ihre Identitätswechsel und Aussetzer kommen. Vielleicht wird sie irgendwann ihre traumatischen Erinnerungen annehmen können. Immerhin, eine Fugue hat sie lange nicht mehr erlebt.
Die Namen der betroffenen Personen in diesem Beitrag wurden geändert.
Literatur
Annegret Eckhardt-Henn, Carsten Spitzer (Hg.): Dissoziative Bewusstseinsstörungen. Schattauer, Stuttgart 2017
Kathlen Priebe, Christian Schmahl, Christian Stiglmayr: Dissoziation. Theorie und Therapie. Springer, Heidelberg 2014
Ursula Gast, Gustav Wirtz (Hg.): Dissoziative Identitätsstörung bei Erwachsenen. Klett-Cotta, Stuttgart 2016