Platz zum Toben

Therapiestunde: Herr A. hatte die Macht über sein Leben an den Alkohol abgetreten. Wie kann der Wald ihm beim Thema Verantwortung helfen?

Die Illustration zeigt einen Mann in einer leeren Flasche im Wald, der auf einem großen Tannenzapfen versucht aus der Flasche zu klettern
Sandra Knümann stellt ihr Buch über Naturtherapie vor. © Jan Rieckhoff

Mein Klient stand an einem kritischen Punkt. Schaffte er es, seinen Erkenntnissen auch Taten folgen zu lassen oder wartete er weiter darauf, dass seine Probleme sich von selbst lösten? Herr A. war ein geistreicher Mann von kräftiger Statur, der höflich und zuvorkommend auftrat, unterschwellig aber immer etwas ärgerlich wirkte. Zur Therapie war er gekommen, weil er sich andauernd unter kritischer Beobachtung fühlte – zuallererst durch sich selbst. Er zweifelte an sich und seinen Fähigkeiten, konnte sich nur…

Sie wollen den ganzen Artikel downloaden? Mit der PH+-Flatrate haben Sie unbegrenzten Zugriff auf über 2.000 Artikel. Jetzt bestellen

durch sich selbst. Er zweifelte an sich und seinen Fähigkeiten, konnte sich nur schwer zu Aktivitäten überwinden und fürchtete ständig, dass andere ihn verspotten und verachten könnten. Inzwischen hatte sich seine Nervosität so gesteigert, dass er nachts nicht richtig schlafen konnte und tagsüber sehr erschöpft war. Wirklich abschalten konnte er nur noch mit mehreren Flaschen Bier, die er jeden Abend trank.

Als Herr A. an diesem Morgen in meinem Sprechzimmer saß, sagte er: „Ich lebe mit angezogener Handbremse. Ich weiß zwar, was ich gern tun würde und wie ich eigentlich leben will, aber irgendwie treffe ich dann doch keine Entscheidung. Oder ich treffe sie, aber setze sie dann nicht um.“ Sein Zögern und seine gebremste Vitalität drückten sich auch in seiner Körperhaltung aus: Unbeweglich und mit flachem Atem saß Herr A. mir gegenüber – als sei er zwischen den Armlehnen des Sessels eingeklemmt. „Was halten Sie davon, wenn wir jetzt rausgehen und der Antriebshemmung etwas körperlich Aktives entgegensetzen?“, fragte ich. Etwas verhalten willigte Herr A. ein und so verließen wir die Praxis in Richtung Wald.

Draußen empfing uns warme Morgenluft, die nach staubigem Asphalt und frisch­gemähtem Rasen duftete. Als wir auf den Feldweg einbogen, verlangsamten sich unsere Schritte ganz von selbst. „Während wir gehen, achten Sie mal darauf, wie Ihr Körper jetzt gehen möchte. Welches Tempo ist momentan angemessen? Welche Haltung fühlt sich passend an? Gehen Sie nicht nur, sondern lassen Sie sich auch gehen!“ Mit dieser Wahrnehmungsübung konnte Herr A. sein depressives Grübeln unterbrechen und sich körperlich besser spüren. Ein Körper in Bewegung, der eigene Impulse und Bedürfnisse hat – wenn man ihn lässt. Das Wortspiel schien meinem Klienten zu gefallen: „Mich gehen lassen. Das erlaube ich mir sonst nur, wenn ich Alkohol trinke.“

„Wer bin ich?“

Am Wald angekommen, bat ich Herrn A., einen Platz zu finden, an dem er sich sicher und wohlfühle. Während er suchend umherstreifte, überlegte ich, wie ich die Naturumgebung so in die Sitzung einbeziehen könnte, dass sie Herrn A. dabei unterstützen würde, vom reinen Analysieren ins Erleben zu kommen. Aus den bisherigen Sitzungen wusste ich, dass der Klient viele Geheimnisse vor anderen hatte und sich häufig in emotionalen Zwickmühlen und moralischen Dilemmata gefangen fühlte. So konnte er sich nicht mit den Zielen seines Arbeitgebers identifizieren, sah sich aber gezwungen, sie trotzdem überzeugend nach außen zu vertreten. Mit seiner Frau führte er eine konser­vative Ehe, sehnte sich aber ebenso danach, seine Bisexualität offen zu leben. Seine Eltern waren beide früh an ihrer Alkoholabhängigkeit gestorben, dennoch fand er immer Gründe, um den geplanten Besuch bei den Anonymen Alkoholikern hinauszuschieben. Diese Widersprüche geheim und auszuhalten war sehr anstrengend für ihn. Mir fiel auf, dass er häufig „die Umstände“, Moralvorschriften oder andere Menschen dafür verantwortlich machte, dass er nicht das tun konnte, was er eigentlich wollte. Was war sein Anteil daran?

Inzwischen hatte Herr A. „seinen“ Platz gefunden und winkte mich zu sich. Ich schlug vor, dass er hier einen „Identitätskreis“ aus Naturmaterialien bauen könne, der groß genug sei, um sich darin wohlzufühlen. Wichtigste Zutat dafür seien Gegenstände, die eine Antwort auf die Frage „Wer bin ich?“ symbolisierten. Nachdem Herr A. eingewilligt hatte, sah ich ihm aus einiger Entfernung dabei zu, wie er trockene Zweige, kleine Steine, saftige Moospolster und Fichtenzapfen herantrug und in einem kleinen Kreis auf dem Waldboden anordnete. Schließlich betrachtete er sein Werk und gab mir ein Zeichen, dass er fertig sei.

„Diese Zapfen hier“, erläuterte Herr A., „stehen für schwierige Beziehungen, zum Beispiel zu meinen Eltern und Ex-Freunden. Obwohl sie heute nicht mehr in meinem Leben sind, haben sie weiterhin Einfluss auf mich. Die grauen Kiesel symbolisieren die Steine, die mir in den Weg gelegt wurden und die ich mir selbst in den Weg gelegt habe, zum Beispiel mit meiner Sucht. Die bunten Steine sind meine Stärken und Kraftquellen, zum Beispiel meine Ehe und mein Glaube an Gott.“

Ich fragte, ob er auch seine derzeitige Gefühlslage dargestellt habe. Daraufhin nahm er noch einen stacheligen Zweig mit in den Kreis, „weil ich seit einem Jahr immer mehr Wut in mir spüre“.

Wovor schützte ihn die Sucht?

„Warum haben Sie ausgerechnet diesen Platz für Ihren Kreis gewählt?“, wollte ich wissen. „Hier war der Boden schon frei, da konnte ich nicht viel kaputtmachen.“ Ich bot ihm die Deutung an, dass er offenbar bemüht sei, möglichst wenig Raum für sich zu beanspruchen. Das zeigte sich anschließend auch in der Größe seines Kreises: Als ich ihn bat, sich inmitten seiner „Identität“ hinzustellen und sein Werk auf sich wirken zu lassen, bemerkte er, wie beengt er sich darin fühlte. „Ich habe ja gar keinen Platz zum Toben!“, rief er überrascht aus. Daraufhin legte er einige Gegenstände weiter nach außen – zögerte aber bei jedem, ob er das wirklich „dürfe“. Schließlich hatte sich Herr A. in seinem Kreis ausreichend Luft verschafft und ließ die Konstellation noch einmal in Ruhe auf sich wirken. „Das fühlt sich sehr ungewohnt und auch ein bisschen beängstigend an. Auf einmal habe ich so viel Platz für mich!“

Auf dem Rückweg zur Praxis sprachen wir darüber, was die Arbeit im Kreis mit dem Alltag zu tun hatte. Herr A. hatte am eigenen Leib erlebt, dass in ihm ein Bedürfnis nach „Toben“, also authentischem Selbstausdruck existierte. Sein wachsender Ärger zeigte, dass es allmählich dringend wurde, diesem Freiheitsstreben gerecht zu werden. Zugleich machte es ihm aber auch Angst, seinen Handlungsspielraum („Kreis“) zu erweitern. Daher fand er immer gute Gründe, die ihn daran hinderten – etwa indem er sich abhängig von vermuteten Wertmaßstäben anderer Men­schen machte.

Ich fragte Herrn A., was der Vorteil seiner Abhängigkeit sei. Wovor schütze sie ihn? Die Antwort war ebenso klar wie eindrücklich: „Wenn ich mit dem Trinken aufhören würde, dann müsste ich ja leben!“ Wir staunten beide über diese Erkenntnis. Solange Herr A. also die Macht über sein Leben an den Alkohol und andere Menschen abtrat, musste er nicht die Verantwortung für sich selbst übernehmen. Für diese Sicherheit zahlte er allerdings einen hohen Preis. Am Ende der Therapiestunde hatte Herr A. nicht nur verstanden, sondern mit dem ganzen Körper erlebt, dass er das Risiko der Eigenverantwortung eingehen musste, wenn er ein selbstbestimmtes Leben führen wollte.

Sandra Knümann ist Naturtherapeutin, Achtsamkeitslehrerin und Diplompädagogin für ­Erwachsenenbildung mit psycho­therapeutischer Heilerlaubnis. Ihr ­Arbeitsschwerpunkt liegt auf der ­entwicklungsfördernden und heil­samen Wirkung des achtsamen ­Naturerlebens 

Weitere Fallgeschichten finden Sie in Sandra Knümanns Buch Naturtherapie. Mit Naturerfahrungen Beratung und Psychotherapie bereichern (Beltz, Weinheim 2019) 

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 11/2020: ​Toxische Beziehung