Herr Glaeske, in den 1950er Jahren kamen in Deutschland Psychopharmaka auf den Markt. Welchen Einfluss hatte das auf das gesellschaftliche Klima?
Grundsätzlich kann man sagen, dass damals Menschen mit psychischen Erkrankungen durch die neuen Arzneimittel die Möglichkeit bekamen, ambulant behandelt zu werden, sich freier zu fühlen und außerhalb von Klinikmauern zu wohnen und am Leben teilzunehmen. Ich habe selbst in den 1960er Jahren Praktika in psychiatrischen Kliniken gemacht und war bedrückt darüber, wie…
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habe selbst in den 1960er Jahren Praktika in psychiatrischen Kliniken gemacht und war bedrückt darüber, wie die Menschen in solchen geschlossenen Anstalten, wie das damals genannt wurde, lebten. Es war eine Zeit, in der psychische Krankheiten stark stigmatisiert wurden, deutlich stärker, als dies leider auch heute noch immer der Fall ist. Die Menschen wurden ausgegrenzt, die Psychiatrie war gewalttätig, Patienten wurden festgebunden und geknebelt. Der Film Einer flog über das Kuckucksnest aus dem Jahr 1975 zeigt diese Situation ausgesprochen realistisch.
In den 1960er Jahren kamen dann Schlafmittel und Valium, von den Stones als Mother’s Little Helper besungen, in Mode.
Die Arzneimittel wurden in ihren Indikationen erweitert. Medikamente, die eigentlich zur Behandlung von psychischen Problemen gedacht waren, spielten plötzlich auch bei Belastungssymptomen im Alltag eine Rolle. Vor allem die Arzneimittelgruppe der Benzodiazepine, sogenannte Tranquilizer, war verbreitet. Nach Meinung vieler gab es mit Librium und Valium Medikamente, die relativ nebenwirkungsarm dabei halfen, jemanden im Alltag von den belastenden Faktoren wie Stress oder Beziehungskonflikten abzuschirmen. Man kann sagen, dass Psychopharmaka zu dieser Zeit Einzug in den Alltag fanden.
Ist das Ihrer Meinung nach auch ein Grund dafür, dass inzwischen so viel mehr Psychopharmaka verschrieben werden?
Diese Arzneimittel haben sich sehr stark in unseren Alltag hineingedrängt. Und Ärztinnen und Ärzte benutzen diese Medikamente als Instrument. Ob diese Verschreibungen immer eine notwendige medizinische Hilfe sind oder eher eine Unterstützung in einer Situation, die eigentlich keinen Krankheitswert hat, muss man von Fall zu Fall prüfen. Sicher ist: Wir haben sehr viele unterschiedliche Arzneimittel, die man relativ breit einsetzen kann. Die Verschreibungspraxis spiegelt wider, welche Nöte Menschen in unserer Gesellschaft haben und wodurch sie sich belastet fühlen.
Es gibt für alles eine Pille: Pillen gegen Schüchternheit, Prüfungsängste, Ängstlichkeit. Muss man hier nicht zu Besonnenheit bei der Verordnung mahnen?
Unbedingt! Man muss sehr genau hinschauen und diagnostizieren, ob nicht ein anderes Verfahren wie die Gesprächstherapie oder eine verhaltenstherapeutische Behandlung viel angemessener und sinnvoller wäre. Vor allem weil man festgestellt hat, dass die unkritische Verordnung von bestimmten Medikamenten wie beispielsweise Schlafmitteln oder Tranquilizern, durch die sich die Patienten entlastet fühlen sollen, eine neue Krankheit hervorbringt, nämlich die Abhängigkeit. Wenn man diese Medikamente verschreibt, ohne auf den richtigen Zeitpunkt für das Verordnungsende zu achten, kommen die Patienten häufig ohne fremde Hilfe nicht mehr von den Arzneimitteln los.
Haben Sie einen Überblick, wer welche Psychopharmaka nimmt und aus welchem Grund?
Wir haben leider viel zu wenig soziodemografische Daten über solche Zusammenhänge. Wir können lediglich ermitteln, wer welche Psychopharmaka verschreibt und für wen sie bei welcher Diagnose verordnet werden. Wir wissen allerdings, wer zum Beispiel über einen längeren Zeitraum die erwähnten Benzodiazepine bekommen hat. In diesem Zusammenhang haben wir auch die unerwünschte Wirkung Abhängigkeit untersucht. Von diesen Mitteln weiß man, dass sie nicht nur bei psychischen Krankheitssymptomen, sondern auch zur Behandlung von Alltagsphänomenen eingesetzt werden – und zwar vor allem bei Frauen: Zwei Drittel der Patienten sind weiblich, ein Drittel männlich. Vor allem Frauen ab einem Alter von 45 bis 50 bekommen häufig Benzodiazepine wie Tavor, Diazepam oder Adumbran verordnet. Man kann hier einen Zusammenhang zwischen den Wechseljahren und familiären Veränderungen – Stichwort: empty nest syndrome – erkennen. Oftmals sind Frauen in dieser Phase nicht mehr berufstätig, sie fühlen sich entwertet, haben Zukunftsängste und sind deprimiert, weil sie das Gefühl haben, nicht mehr gebraucht zu werden. In einer interessanten Studie zur Verordnung von Tranquilizern hat sich gezeigt, dass die Abhängigkeit von diesen Medikamenten minimiert werden kann, wenn Frauen stärker in den Beruf integriert sind.
Wie beurteilen Sie diese großen Unterschiede bei der Verteilung der Psychopharmakagaben an Frauen und Männer?
Auffällig ist, dass Frauen bei allen Gruppen von Psychopharmaka diejenigen sind, die mehr verordnet bekommen. Mit Ausnahme der Psychostimulanzien, die werden mehr von Männern konsumiert, und zwar auch mehr von jüngeren Männern. Hierbei muss man allerdings berücksichtigen, dass dazu auch Mittel mit Methylphenidat wie Ritalin gehören und dass 80 Prozent der ADHS-Diagnosen auf Jungen und junge Männer entfallen. Alle anderen Psychopharmaka werden bis zu zwei- oder sogar dreimal häufiger von Frauen eingenommen.
Woran liegt das, wie kommt es zu diesen geschlechtsspezifischen Unterschieden?
Man fragt sich schon lange: Ist es ein reines Genderproblem? Oder gibt es doch geschlechtsspezifische Aspekte im Hinblick auf die unterschiedlichen Wirkungen der weiblichen und männlichen Hormone oder Unterschiede, zum Beispiel bei den Transmitterwirkungen im Gehirn? Das ist aus meiner Sicht alles noch nicht ausreichend geklärt. Das gilt auch für manche Beobachtungen aus der medizinischen Versorgung, wieso zum Beispiel bei gleichen Krankheiten Männern und Frauen unterschiedliche Medikamente verordnet werden. Wir haben das vor einigen Jahren im Bereich von Herzkrankheiten untersucht: Männer bekamen die fortschrittlichen, innovativen Mittel als Monoprodukte, während Frauen immer auch Medikamente verordnet wurden, die Beruhigungsmittel enthielten. Dahinter verbirgt sich offensichtlich die Grundannahme, dass bei Frauen immer auch die Psyche eine Rolle spielt, selbst bei somatischen Erkrankungen, sodass Frauen immer auch ein Beruhigungsmittel brauchen, das bei Männern offensichtlich nicht nötig zu sein scheint.
Sind sich die verordnenden Ärzte dieser Geschlechtsunterschiede bewusst?
Ich glaube, dass die Medizin noch immer männlich dominiert gelehrt und vermittelt wird. An den 36 Universitätskliniken in Deutschland ist meines Wissens nur an einer eine Frau als Direktorin und Leiterin der Frauenklinik auf eine in der Hierarchie am höchsten stehende C-4-Stelle berufen worden, selbst in diesem Fach werden die meisten Leitungsstellen von Männern besetzt. Daraus ergibt sich aus meiner Sicht ein männlich geprägter Blick, nicht nur auf die Gesellschaft, sondern auch auf die Fragestellungen, wie Frauen sich in dieser Gesellschaft fühlen und wie mit ihren gesundheitlichen Problemen und Schwierigkeiten umgegangen werden sollte.
Psychopharmaka werden häufig kombiniert. So entsteht eine Fülle an Wirkungen, Nebenwirkungen und Wechselwirkungen. Was kann man denn als Betroffener tun, um in diesem Dschungel den Überblick zu behalten?
Wechselwirkungen sind mit das Komplizierteste, was wir in der Pharmakologie zu beachten haben. Selbst bei einem einzelnen Medikament fällt es schon manchmal schwer, den direkten Wirkmechanismus und die unerwünschten Wirkungen zu bestimmen. Oft genug muss man hinterfragen, ob das aufgetretene neue Symptom eine Folge des Arzneimittels oder ein weiterer Aspekt der Krankheit ist. Wenn man dann mehrere Psychopharmaka gibt, dann potenziert sich das bis hin zur vollkommenen Unübersichtlichkeit. Nach der Einnahme von fünf oder sechs verschiedenen Medikamenten, was bei älteren Menschen keine Seltenheit ist, können bei bis zu 70 Prozent der Patienten erhebliche Wechselwirkungen mit gravierenden Folgen auftreten.
Werden Wechselwirkungen von der Pharmaindustrie erforscht?
Leider nicht systematisch. Wir haben Untersuchungen durchgeführt, die zeigen, dass 35 Prozent der Männer und 40 Prozent der Frauen über 65 Jahren neun Wirkstoffe und mehr in Dauertherapie bekommen. Und in der Pharmakologie sagt man, dass maximal vier bis fünf Wirkstoffe für den Körper zu verarbeiten sind, besonders für ältere Menschen, bei denen die Leber und die Nieren nicht mehr so gut funktionieren. Das führt zu einem Problem, das man auch beziffern kann: Wir wissen, dass rund zehn Prozent der Menschen, die ins Krankenhaus kommen, nicht wegen Krankheiten eingewiesen werden, sondern wegen der Wechselwirkungen ihrer Medikamente.
Ist es denn überhaupt möglich, die Wirkungsweise von Psychopharmaka genau vorherzusagen?
Das ist nicht möglich. Denn Patienten reagieren oft genug unterschiedlich auf die verordneten Medikamente. Es gibt viele Fälle, in denen Menschen auf Arzneimittelgaben schon aufgrund genetischer Unterschiede anders reagieren. Wir wissen, dass manche Antidepressiva bei bestimmten Genotypen gar nicht so wirken können, wie es in klinischen Studien beschrieben wird. Häufig werden die Medikamente dann immer höher und höher dosiert, und die Ärzte erkennen nicht, dass die Mittel aufgrund der genetischen Disposition keine ausreichenden Wirkungen zeigen.
Was muss denn im deutschen Gesundheitssystem geschehen, damit es wieder am Wohle des Patienten ausgerichtet ist und nicht an den wirtschaftlichen Interessen der Pharmaindustrie?
Wir haben ja immerhin das Glück, dass alle Arzneimittel, die bei uns erhältlich sind, zugelassen sein müssen. Das heißt, dass ein Medikament klinische Studien durchlaufen muss und erst auf den Markt kommt, wenn die Wirksamkeit des Präparates bestätigt werden konnte. Schwierig ist, dass man nicht sagen kann, wie dieses Mittel in Kombination mit anderen Medikamenten wirkt. Wir brauchen unbedingt öffentlich finanzierte Studien wie in Großbritannien oder den USA. Wir brauchen eine systematische Vergleichsforschung unterschiedlicher Arzneimittelwirkstoffe, und das nicht nur wegen der Nebenwirkungen, sondern auch und vor allem wegen der Wechselwirkungen.
Wann ist die Verordnung von Psychopharmaka berechtigt? Wann sollte man lieber darauf verzichten?
Eine Verordnung ist dann berechtigt, wenn psychische Störungen gut diagnostiziert wurden und die Wirksamkeit von Psychopharmaka bei diesen Störungen belegt werden konnte. Aber es gibt neben Patienten, bei denen Psychopharmaka eine stabilisierende Funktion haben und die ihnen helfen, ihren Alltag zu bewältigen, auch viele Betroffene, bei denen Arzneimittel offenbar nicht richtig eingesetzt werden. Mir hat vor kurzem ein bekannter Psychiater aus seiner Praxis berichtet, dass 50 Prozent der Patienten, die zu ihm in die Praxis kommen und mit Antidepressiva behandelt werden, keine Depression haben, dass aber 50 Prozent derer, die unter einer wirklichen Depression leiden, bisher weder richtig diagnostiziert noch mit Antidepressiva behandelt wurden. Unterversorgung und Fehlversorgung liegen oft nah beieinander.
Was sagen Sie Betroffenen, die überlegen, Psychopharmaka einzunehmen, damit sie ihren Alltag leichter bewältigen können? Braucht es mehr Vorsicht?
Es ist wichtig, zu betonen, dass Arzneimittel zur Behandlung von Krankheiten erforscht und zugelassen werden. Hier lassen sich Risiken und Nutzen gegeneinander abwägen. Diese Arzneimittel sind aber nicht für Gesunde in typischen Alltagssituationen gedacht. In diesem Bereich können die mit ziemlicher Sicherheit auftretenden unerwünschten Begleiterscheinungen gegenüber einem unsicheren Nutzen überwiegen. Wenn einen Sorgen und Nöte im Alltag plagen und man das Gefühl hat, nicht mehr zurechtzukommen, sollte man einen verständnisvollen, reflektierten und kompetenten Arzt suchen. Ihn zeichnet aus, dass er nur dann mit Medikamenten behandelt, wenn es wirklich notwendig ist. Wenn Alternativen sinnvoll erscheinen, zeigt er einem aber auch noch andere Möglichkeiten auf, wie Gesprächstherapie, Verhaltenstherapie oder Ähnliches. So sieht echte Hilfe aus, und nur so kann Besserung erzielt werden.
Gerd Glaeske studierte Pharmazie in Aachen und Hamburg. Er ist Professur für Arzneimittelversorgungsforschung am Zentrum für Sozialpolitik (ZeS) der Universität Bremen und gibt jährlich den Arzneimittel-Report der Gmünder Ersatzkasse heraus.