Herr Schmidt, Sie überraschen in Ihren Vorträgen damit, dass Sie Burnout als Kompetenz bezeichnen. Das klingt provokativ. Denn die Betroffenen erleben sich als kraftlos, schwach und unfähig. Warum sprechen Sie dennoch von Kompetenz?
Mir ist bewusst, dass diese Formulierung zu Missverständnissen einlädt. Man könnte auf die Idee kommen, dass ich das Leiden, die Erschöpfung, die Sinnlosigkeitsgefühle und die Selbstzweifel der Betroffenen nicht ernst nehme. Tatsächlich spreche ich bewusst von Kompetenz, um die…
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würdigen. Diese Patienten werten sich selbst massiv ab, fühlen sich als Versager und sind mit kränkenden Kommentaren wie „Der ist nicht mehr belastbar. Der kriegt seine Arbeit nicht mehr auf die Reihe“ konfrontiert. Mir liegt sehr viel daran, diesen Selbst- und Fremdabwertungen mit einem ressourcenorientierten Verständnis entgegenzuwirken. Wer einen Burnout entwickelt, fühlt sich vollkommen erschöpft, erlebt alle Anforderungen als Qual, zieht sich zurück, sieht keinen Sinn mehr, wird vielleicht zynisch und erlebt gleichzeitig einen enormen inneren Druck, etwas ändern zu müssen. Dass jemand in dieser Spirale landet, ist jedoch auch ein Ausdruck von Kompetenz. Der Organismus reagiert auf eine als unerträglich empfundene Situation mit Erschöpfung, Schwäche und Antriebslosigkeit. Diese Symptome gehören zu einem kompetenten Rückmeldesystem, das ähnlich wie eine Warnblinkanlage auf eine Gefahr hinweist und signalisiert: „So kannst du nicht weitermachen.“zu einem kompetenten Rückmeldesystem, das ähnlich wie eine Warnblinkanlage auf eine Gefahr hinweist und signalisiert: „So kannst du nicht weitermachen.“
Burnout wäre demnach ein Versuch unseres Systems, wieder ins Gleichgewicht zu kommen?
Wenn Klienten mir erzählen, dass sie versagt haben, sage ich: „Nicht Sie haben versagt, etwas in Ihnen hat sich versagt, aus sehr guten Gründen, um Ihre Gesundheit zu erhalten. Sie haben nur die wertvollen Informationen, die Ihr Körper Ihnen sendet, noch nicht beachtet, aber wenn Sie das jetzt tun, kann eine neue Balance entstehen.“ Eine starke Identifikation mit Leistung, perfektionistische Ansprüche, hohe Einsatzbereitschaft, ein ausgeprägtes Verantwortungsgefühl, das alles kann Burnout begünstigen. Auch diese Aspekte sollten als wertvolle Kompetenzen gewürdigt werden, die das hohe Engagement der Betroffenen widerspiegeln. Mir ist jedoch wichtig, nicht nur die individuelle, intrapsychische Dynamik im Blick zu haben, sondern auch die Organisationsdynamik am Arbeitsplatz. Man entwickelt nicht einfach losgelöst als Individuum einen Burnout. Dazu gehören auch entsprechende Situationsbedingungen. Eine hohe Arbeitsbelastung ist nicht per se ein Problem. Gefährlich wird es, wenn die eigenen Gestaltungs- und Einflussmöglichkeiten kleiner werden und die verfügbaren Ressourcen nicht ausreichen, die Arbeit zu bewältigen. Wenn jemand in einem Burnout landet, ist das nicht nur ein individuelles Problem. Die Erkrankung weist auch auf notwendige Veränderungen in der Organisation hin.
Das wird aber in vielen Unternehmen nicht so gesehen. Burnout wird immer noch als individuelle Schwäche abgetan, den Betroffenen wird geraten, ihr Stress- und Zeitmanagement zu verbessern und sich besser zu erholen.
Es gibt immer eine Wechselwirkung zwischen der inneren und der äußeren Dynamik. Die Betroffenen haben den Eindruck, dass die Situation am Arbeitsplatz sie fertigmacht. Tatsächlich gibt es Arbeitsbedingungen, die Menschen in massive Zwickmühlen bringen. Die Anforderungen sind oft schlicht nicht zu erfüllen oder in sich vollkommen widersprüchlich. Ein schlechtes Arbeitsklima, mangelnde Fairness, fehlende Anerkennung und Transparenz können sehr belasten. Was aber letztlich zur Erschöpfung beiträgt, ist ein aufreibender, scheinbar niemals endender innerer Kampf. Es sind typischerweise vor allem sehr engagierte, leistungsbereite und solidarische Menschen, die in einem Burnout landen. Wer mit der Arbeitseinstellung rangeht, ich tue, was ich kann, und was ich heute nicht schaffe, erledige ich morgen oder übermorgen, ist gut geschützt.
Es sind also eher die Perfektionisten und Idealisten, die gefährdet sind?
In der Klinik begegne ich vor allem Menschen, die sich für ein höheres Ziel engagiert und für etwas geglüht haben. Sie wollten etwas bewegen, das weit über sie und ihr persönliches Interesse hinausgeht. Und dann machen sie häufig enttäuschende Erfahrungen. Die Kollegen kommentieren ihr ausgeprägtes Engagement eher negativ. Und sie erzielen wegen der Widersprüche in der Organisation nicht die Ergebnisse, die sie sich erhoffen. Wenn sie merken, dass sie nicht so viel bewegen können wie erhofft, ziehen sie daraus die Schlussfolgerung, dass sie noch nicht genug getan haben. Sie puschen sich, verdoppeln ihre Anstrengung, ihr perfektionistischer Antreiber, der sich für sehr gute Ergebnisse einsetzt, wird durch die Enttäuschung angestachelt. Sie steigern ihren Arbeitseinsatz, vergessen Pausen, machen Überstunden, überhören die Signale ihres Körpers, vernachlässigen Familie und Freunde und beuten sich gewissermaßen selbst aus.
In unserer Gesellschaft gibt es viele, die sagen, schön blöd, wenn sich jemand so verausgabt und zu wenig an sich denkt. Ich finde jedoch, dass dieses Engagement, das aus Loyalität und Solidarität heraus entsteht, gewürdigt werden sollte. Auch deshalb spreche ich von Burnout als Kompetenz. Es ist doch etwas Positives, wenn Menschen nicht nur an ihren eigenen Vorteil denken, sondern auch Verantwortung für andere und für höhere Ziele übernehmen. Gebende Beziehungen sind extrem wichtig für eine funktionierende Gesellschaft und das persönliche Wohlergehen. Entscheidend ist, wieder in Balance zu kommen.
Sie sprechen von einem zermürbenden inneren Krieg, der alle Kräfte bindet. Wer kämpft gegen wen?
Typischerweise gibt es mindestens zwei innere Fraktionen, die sich bekämpfen. Eine Seite sagt, eigentlich macht das alles so schon lange keinen Sinn mehr, ich bin müde und kraftlos, ich schleppe mich nur noch zur Arbeit, ich habe gar keine Freizeit mehr, ich müsste dringend etwas ändern. Doch eine andere, pflichtbewusste, loyale Seite protestiert und fordert gnadenlos: Das geht nicht, du musst weitermachen. So beginnt ein zermürbender innerer Ambivalenzkrieg, der auf Dauer erschöpft. Dieser Kampf ist oft ein innerer Ausdruck äußerer Zwickmühlen, die in der Organisationsstruktur liegen. Lehrer beispielsweise werden von Schülern, Eltern, Kollegen und der Schulleitung mit vollkommen widersprüchlichen Erwartungen konfrontiert. Sie können es nie allen recht machen. Ebenso Führungskräfte im mittleren Management, die ihren Mitarbeitern Entscheidungen von oben verkaufen sollen, die ihnen völlig gegen den Strich gehen. Wer besonders engagiert und loyal ist, nimmt diese Zwickmühlen, bildlich gesprochen, mental in sich hinein und versucht sie mit erhöhtem Engagement zu lösen. Aber auf dieser Ebene ist der Konflikt gar nicht lösbar. Bei Burnoutentwicklungen geht es nach meinen Erfahrungen so gut wie immer um Sinnkrisen.
Die Lösung wäre vermutlich Abgrenzung. Aber genau daran scheitern viele.
Es ist auch nicht leicht, weil gerade die erhöhte Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen, dazu führt, dass Menschen widersprüchliche Erwartungen als unauflösbare Zwickmühle erleben. Eine Führungskraft im mittleren Management müsste sich sagen, ich mache meinen Job, ich gebe weiter, was oben entschieden wurde, aber ich ziehe mir den Schuh nicht an, denn ich habe diese Entscheidung nicht getroffen. Die Führungskräfte, die in einem Burnout landen, fühlen sich jedoch sehr empathisch mit ihren Mitarbeitern verbunden und wollen gleichzeitig die Erwartungen der Leitung erfüllen. Diese Interessenkonflikte mahlen wie zwei Mühlsteine gegeneinander. Die Betroffenen versuchen, den Konflikt selbst zu lösen. Wenn das nicht funktioniert – und es kann nicht funktionieren –, beginnt die Selbstabwertung. Die Klienten erzählen mir dann, dass sie schon morgens beim Aufstehen fix und fertig sind und keine Energie für gar nichts haben. Wenn ich sie dann frage, wie sie das finden und was sie über sich selbst denken, antworten mir die meisten, dass sie sich Vorwürfe machen und es schrecklich finden, dass sie so schwach sind. Sie haben das nagende Gefühl, das Falsche zu tun und entweder am Arbeitsplatz oder in der Familie nicht zu genügen. Wichtig ist, diese Zerrissenheit und die daraus resultierende Erschöpfung nicht als Schwäche abzutun, sondern sie zu übersetzen als wertvolle Kompetenz. Ich sage den Menschen dann: „Ihr kluger Organismus schickt kompetente Rückmeldungen und sagt Ihnen, dass er im Umgang mit dieser Zwickmühle von Ihnen etwas anderes braucht und dass es intuitiv keinen Sinn mehr macht, Ihre Situation auf diese Weise anzugehen.“
Sagt der Organismus: Ich brauche inneren Abstand und Entspannung?
Oft wird den Leuten geraten, sie sollen sich entspannen. Aber das ist kontraproduktiv, denn sie wollen ihre Zwickmühle lösen, vorher können sie sich nicht entspannen. Wie soll jemand, der einen massiven inneren Konflikt hat, sich entspannen? Der vielleicht gut gemeinte Rat „Jetzt entspann dich doch mal“ produziert zusätzlichen Druck, weil Entspannung in dieser Situation gar nicht möglich ist. Die Menschen, mit denen ich zu tun habe, haben alles über Stress- und Zeitmanagement gelesen, sie scheitern jedoch an der Umsetzung, weil die unwillkürlichen Bedürfnisse dadurch nicht beruhigt werden. Erst wenn die grundsätzlichen Zwickmühlen aufgelöst sind, wenn in den schon angesprochenen Sinnkrisen ein neuer, stimmiger Sinn entwickelt werden kann, hat dies entscheidende innere Befriedung und Erleichterung zur Folge. Sofort entsteht ein Gefühl von Würde, und aus diesem Erleben von Würde entwickelt sich interessanterweise erst die Kraft, die man für den Umgang mit den Herausforderungen und für den optimalen Umgang mit den Zwickmühlen in der Organisation braucht.
Sie leiten eine Klinik und das Milton-Erickson-Institut, Sie sind ein gefragter Vortragsredner, viel unterwegs und haben sicher keinen Achtstundentag. Wie sieht Ihre persönliche Burnoutprophylaxe aus?
Ich habe oft Dreizehnstundentage und nicht immer eine Fünftagewoche. Aber es kommt nicht auf die Quantität an. Für mich ist entscheidend, dass ich meine Arbeit als sinnvoll erlebe. Ich bin als Selbständiger in der privilegierten Situation, nur das zu machen, wofür ich mich autonom entschieden habe. Ich kann unmöglich allen und allem gerecht werden. Deshalb führe ich innere Dialoge mit mir und wende dabei natürlich meine eigenen Konzepte an. Eins nenne ich Metabalance. Das heißt, ich bin in Balance, akzeptiere mich aber auch, wenn ich mal wieder ins Schleudern komme. Und ich praktiziere Metazufriedenheit, das heißt, ich bin ganz zufrieden damit, dass ich nicht ganz zufrieden bin, denn ich kann machen, was ich will, irgendwem werde ich immer nicht gerecht, selbst wenn mein Tag 70 Stunden hätte. Ich tue nach bestem Wissen und Gewissen, was mir möglich ist, erkenne meine Endlichkeit an und sage, mehr geht jetzt nicht. Wenn mein Organismus sagt, jetzt reicht es, sonst kriegst du die Konventionalstrafe, zum Beispiel Kopfschmerz, dann sage ich: Danke lieber Organismus, und dann muss ich damit leben, dass ich etwas nicht schaffe, was es wert gewesen wäre. Mein Kriterium für relative Zufriedenheit ist nicht Erfolg, sondern die Frage, ob das, was ich tue, sinnvoll ist. Selbst wenn etwas nicht klappt, würdige ich mich dafür, dass ich es überhaupt versucht habe, und tröste mich. Meistens gelingt mir das, manchmal drehe ich auch eine Ehrenrunde im Hadern.
Gunther Schmidt, Facharzt für psychosomatische Medizin und Psychotherapie, leitet das Milton-Erickson-Institut Heidelberg und ist ärztlicher Direktor der sysTeliosKlinik für psychosomatische Gesundheitsentwicklung und Kompetenzentfaltung.