Gärtnerische Aktivitäten sind als Freizeitbeschäftigung seit jeher sehr beliebt. Schon vor Jahrtausenden investierten die Menschen viel Mühe, um Pflanzen gedeihen zu sehen. Beim Gärtnern machen wir vielfältige Sinneserfahrungen, fühlen uns lebendig und identifizieren uns mit der getanen Arbeit. Auch wegen dieser Eigenschaften nutzt man Gärten seit einigen Jahren im klinischen Kontext – bei der sogenannten Gartentherapie.
Um zu verstehen, welche Prinzipien dort wirken, muss man zunächst verstehen, was…
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muss man zunächst verstehen, was Gärtnern so befriedigend macht. Was gefällt uns daran? Was verbinden wir mit Pflanzen? Weshalb investieren viele von uns so viel Zeit, Schweiß und Geld in ihre Pflege?
Eine mögliche Antwort liegt in der engen Beziehung zwischen Menschen und Pflanzen. Wie Menschen sind Pflanzen Teil der belebten Natur. Wie alle Lebewesen atmen sie, sind permanent Veränderungen wie Wachstum und Entwicklung unterworfen, erzeugen Nachkommen und haben eine begrenzte Lebenserwartung. Und auch sie unterliegen einem stets wiederkehrenden 24-stündigen Tag-Nacht-Rhythmus.
Bedürfnisse und Rhythmen
Menschen sind fundamental von Pflanzen abhängig. Ohne fotosynthetisch aktives Pflanzengrün hätten wir weder zu essen noch zu atmen. Wir würden schlichtweg nicht existieren. Grüne Pflanzen garantieren unsere Existenz, sie sind Mittel zum Leben und werden von uns auch in großen Mengen als Nahrung aufgenommen.
Seit Jahrtausenden beeinflusst der Mensch die Entwicklung von Pflanzen durch künstliche Selektion und Hybridisierung, also Kreuzung von Arten, um den Nahrungsbedarf der Weltbevölkerung sicherzustellen und Pflanzen mit bestimmten Merkmalen zu erzeugen. Daraus resultieren Nutz- und auch Ziergewächse mit gewünschten Eigenschaften.
Um zu gedeihen sind sie, anders als Wildpflanzen, auf unsere Hege und Pflege angewiesen. Wer solche Pflanzen optimal versorgen möchte, muss sich auf ihren Lebenstakt einlassen, ihre Bedürfnisse und Rhythmen kennen. Dies erfordert Aufmerksamkeit, Beobachtungsgabe, Geduld, Ausdauer und richtiges Handeln zum richtigen Zeitpunkt. Wenn all das gelingt, stellen sich Erfolgserlebnisse ein, die positive Emotionen auslösen können.
Diese Fähigkeiten sind aber nicht nur beim Arbeiten mit Pflanzen bedeutsam: Aspekte gärtnerischen und floristischen Tuns können ein Pendant zum Umgang mit Mitmenschen sein. Die Fürsorge gegenüber Pflanzen wird dann zur Metapher für die Fürsorge um andere.
Anregung für die Sinne
Gartenarbeit fördert aber auch die Beziehung zu sich selbst: Mit den Pflanzen zu arbeiten führt, gepaart mit vielfältigen, individuell unterschiedlichen Sinneserfahrungen, zu einem befriedigenden, erquickenden Körpergefühl. Dabei werden grob- und feinmotorische Fertigkeiten trainiert, der Kreislauf angekurbelt, die Muskelkraft gestärkt, Spannungen abgebaut und das Selbstbild gestärkt. Solche Tätigkeiten – aber auch das alleinige Beobachten von Pflanzen – können von eigenen Unpässlichkeiten und Problemen ablenken. Man hört auf zu grübeln, die Gedanken drehen sich nicht mehr im Kreis.
Pflanzen sind auch ein unverfängliches Kommunikationsthema über alle sozialen Schichten und Bildungsniveaus hinweg. Sie erregen Sinneszellen in Nase und Augen, sprechen Tast-, Geschmacks- und bisweilen auch Hörsinn an. Sie erzeugen vielfältige Körperreaktionen, Emotionen und Gedanken. Pflanzen im eigenen Wohn- und Arbeitsumfeld, die regelmäßig versorgt werden müssen, sind individuell unterschiedlich biografisch verankert. Seit jeher begegnen wir ihnen in Ritualen, Symbolen, Sprache, Kunst und Literatur. Rote Rosen werden etwa seit der Antike als Symbol der Liebe gedeutet, und Geburtstags-, Hochzeitsfeiern und Abdankungen sind ohne Blumenschmuck undenkbar.
All diese Dinge erklären die große Beliebtheit von Pflanzen. Es ist daher nicht erstaunlich, dass Aktivitäten im Garten seit etwa 40 Jahren vermehrt auch als Mittel eingesetzt werden, um therapeutische Ziele zu erreichen. Man spricht in diesem Zusammenhang von Gartentherapie. Durchgeführt werden solche Programme von einer therapeutisch sowie botanisch und gärtnerisch qualifizierten Fachperson, häufig Ergo- oder Physiotherapeuten mit entsprechender Zusatzqualifikation. Welche Ziele sie erreichen wollen, vereinbaren Therapeut und Patient gemeinsam.
Vielfältiger Einsatz
Hat der Betroffene einen Unfall erlitten oder ist etwa durch einen Schlaganfall oder eine Herzoperation physisch eingeschränkt, steht häufig das Wiedererlangen verlorengegangener Fertigkeiten im Vordergrund, um den beruflichen und privaten Alltag wieder autonom zu meistern. Bei älteren Menschen mit Beeinträchtigungen oder einer Demenzerkrankung geht es oft vermehrt darum, mit bleibenden Einschränkungen leben zu lernen und diese nach Möglichkeit zu kompensieren, um größtmögliche Selbständigkeit und Lebensqualität im Alltag zu erzielen.
Bei Menschen mit psychischen Problemen wie Depressionen oder Schizophrenie liegt der Fokus auf deren Linderung beziehungsweise Überwindung. Auch bei Kindern mit Beeinträchtigungen wie einer Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung und bei Menschen mit geistigen oder körperlichen Behinderungen kommt Gartentherapie zum Einsatz.
Gartentherapeutische Interventionen finden in der Regel über eine festgelegte Zeitspanne ein- bis mehrmals wöchentlich statt, als Einzel- oder Gruppentherapie. Ein Programm funktioniert als eine Sequenz aufeinander abgestimmter Einheiten. Häufig wird gesät, pikiert, getopft, geerntet, zurückgeschnitten, Blumensträuße werden gebunden etc., also verschiedene, auch körperlich aufbauende Maßnahmen eingesetzt. Zudem werden gezielt unterschiedlichste Sinneswahrnehmungen mittels Pflanzen induziert. Ein Therapiegarten unterscheidet sich durch wesentliche Merkmale von einem herkömmlichen Garten (siehe Kasten unten).
Verbessertes Wohlbefinden
In wissenschaftlichen Studien konnte unter anderem nachgewiesen werden, dass
– sich bei Kranken mit chronischen Schmerzen nach einem vierwöchigen Gartentherapieprogramm unter anderem das psychische Wohlbefinden gesteigert, die Angst reduziert sowie die Fähigkeit zur Schmerzbewältigung verbessert hatte
– bei Patienten mit schweren Depressionen nach einem zwölfwöchigen Gartentherapieprogramm der Schweregrad der Erkrankung nachweisbar abgenommen hatte, was auch noch drei Monate nach Programmende nachweisbar war
– an einer Schizophrenie oder Psychose Erkrankte, die ein Gartentherapieprogramm absolvierten, danach nachweisbare Verbesserungen bezüglich der Reduktion von Angst, Stress und Depression empfanden.
Entwickelt hat sich die Gartentherapie, wie wir sie heute kennen, vorwiegend in den USA und England. Erste Ansätze gab es aber auch schon vorher. So verschrieben Ärzte im Ägypten der Antike psychisch verwirrten Mitgliedern des Könighauses Spaziergänge im Palastgarten. Der beruhigende Effekt durch Aufenthalte in solchen Anlagen war also damals bereits bekannt. Trotzdem begann man erst Ende des 18. Jahrhunderts, Interaktionen zwischen Mensch und Pflanzen in klinischen Settings vermehrt zu berücksichtigen.
Holzfällen und Waldarbeiten
Benjamin Rush, ein Arzt aus Philadelphia, gilt als Vater der Gartentherapie. Er schrieb 1812 als einer der Ersten über gärtnerische Aktivitäten und deren heilende Effekte bei der Behandlung psychisch Kranker. So nannte er Gartenarbeit als Heilmittel gegen Depressionen und Angstzustände sowie als Mittel gegen Selbstvernachlässigung. Weiter betonte er die Wichtigkeit schwerer Gartenarbeit wie beispielsweise Erdarbeiten und Holzfällen für Männer.
Vier Jahre nach Rushs Tod wurde 1817 an seinem ehemaligen Wirkungsort in Philadelphia die erste psychiatrische Klinik eröffnet, die von einer parkähnlichen Außenanlage umgeben war. Zur heilsamen Arbeit im Gemüse- und Fruchtanbau kam dort die beruhigende Wirkung der natürlichen und sicheren Umgebung des Parks hinzu, was als passive Form von Therapie gedeutet werden kann.
In Europa gab es zu jener Zeit ähnliche Bestrebungen. Christian Friedrich Roller, Leiter der psychiatrischen Klinik Illenau in Baden-Württemberg, sorgte in Deutschland unter anderem ab 1830 dafür, dass Patienten eine intakte Umwelt mit Park und landwirtschaftlichen Nutzflächen für die Arbeitstherapie geboten wurde. Auch in der Schweiz wurden großzügige Parkanlagen bei vergleichbaren Institutionen realisiert.
Entwicklung in Europa
Patienten arbeiteten im Garten, auf landwirtschaftlichen Nutzflächen sowie im Wald unter der Aufsicht von Pflegefachpersonen. Die nicht immer freiwilligen Arbeitseinsätze der Patienten, die bis in die Mitte des vergangenen Jahrhunderts andauerten und der Nahrungsbeschaffung und finanziellen Entlastung der Klinik dienten, hatten auch immer einen arbeitstherapeutischen Hintergrund.
Neu hat sich die Gartentherapie erst seit vier Jahrzehnten als sogenannte horticultural therapy etablieren können, initiiert vor allem durch Experten in England und den USA, die sich seit den 1950er Jahren stärker mit der Entwicklung von derlei Programmen beschäftigen. Seit einigen Jahren wächst die Gartentherapie auch in Kontinentaleuropa stetig, wenn auch langsam.
Entsprechende Weiterbildungsprogramme gibt es im deutschsprachigen Raum seit etwa fünf Jahren. Zwar kann man an psychiatrischen Kliniken heute vereinzelt an Gartengruppen teilnehmen. Grundsätzlich gilt die therapeutische Beschäftigung mit Pflanzen zumindest hierzulande aber noch immer als Nischenangebot.
Prof. em. Renata Schneiter-Ulmann war bis 2015 Dozentin für Biologie an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften. Sie hat Forschungsprojekte im Bereich Gartentherapie geleitet und war bis 2014 Vorstandsmitglied der Internationalen Gesellschaft GartenTherapie. Sie ist unter anderem Mitherausgeberin des Lehrbuchs Gartentherapie, das dieser Tage bei Hogrefe in zweiter, überarbeiteter Auflage erscheinen soll.
Licht und Schatten: Therapiegärten
Jeder Therapiegarten basiert auf sorgfältiger Bedürfnisabklärung und Planung. Typischerweise weist er Hoch- und Erdbeete, rollstuhlgängige Rundwege sowie Orientierungshilfen auf.
Zentral ist die Pflanzenauswahl, die sich gegenüber herkömmlichen Gartenanlagen durch eine bedeutend größere Artenvielfalt auszeichnet, auf die Therapieprogramme abgestimmt ist und den Aspekt der Jahreszeiten berücksichtigt. Eine besondere Bedeutung muss dem Schattenwurf beigemessen werden; starke Sonneneinstrahlung ist beispielsweise für Patienten mit Kreislaufschwierigkeiten problematisch.
Bei Gärten für Menschen mit Demenz und Gärten für Kinder muss zusätzlich der Sicherheitsaspekt berücksichtig werden. Giftpflanzen sind zu meiden. Der Gefahr des Weglaufens kann mit einer unauffälligen Umzäunung und Rundwegen begegnet werden.
In Deutschland gibt es beispielsweise im Geriatrischen Zentrum Hagenhof in Langenhagen einen Therapiegarten sowie in der Helios-Klinik Hattingen. RSU
Auch auf Balkon oder Fensterbrett lässt sich ein kleines grünes Reich schaffen – zum Beispiel durch die Bepflanzung von Balkonkistchen mit Kräutern wie Goldmajoran, Zitronenthymian, Bergbohnenkraut und Gartensalbei. Eine Annäherung an Pflanzen, denen man in der Stadtt zufällig begegnet, ermöglicht der FührerDie Blüten der Stadt von Paul-Philipp Hanske und Christian Werner (Suhrkamp 2018). RSU / EMT
Quellen
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Steven Davis: Development of the profession of horticultural therapy. In: Sharon u. a.: Horticulture as Therapy. The Haworth Press: New York 1998
Wolfgang U. Eckhardt: Ärzte Lexikon. Springer: Heidelberg 2006
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Benjamin Rush: Medical Inquiries and Observations Upon the Deseases of the Mind. Kimber & Richardson: Philadelphia 1812
Edward Shorter: Geschichte der Psychiatrie. Rowohlt: Reinbek bei Hamburg 2003
Renata Schneiter-Ulmann (Hrsg.): Lehrbuch Gartentherapie. Hans Huber: Bern 2010
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Martin L. Verra u. a.: Horticultural therapy for patients with chronic musculoskeletal pain: results of a pilot study. Alternative Therapies, 18/2, 2012, 44–50