Im Fokus: Psychotherapie in der Psychiatrie

50 Minuten Psychotherapie pro Woche ist in Psychiatrien künftig vorgesehen. Ist das genug? Psychiater Peter Zwanzger im Interview.

Psychiatrie ist schlecht, der Psychotherapeut ist der Gute – eine seltsame Polarisierung. © Getty Images/FatCamera

Herr Zwanzger, Sie sind ärztlicher Direktor eines Fachkrankenhauses für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik. Bekommen die Patienten und Patientinnen bei Ihnen genug Psychotherapie?

Die Frage nach dem Genug ist gar nicht so leicht zu beantworten. Unsere Patienten erhalten Psychotherapie. Aber wir haben es mit unterschiedlichen Patientengruppen und Diagnosen zu tun. Da sind unterschiedliche Formen und Intensitäten von Psychotherapie angezeigt – der Bedarf ist also nicht für alle gleich.

Zum Beispiel?

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und Intensitäten von Psychotherapie angezeigt – der Bedarf ist also nicht für alle gleich.

Zum Beispiel?

Wenn wir eine Person mit einer akuten Schizophrenie in der Klinik haben, dann ist heute – ganz anders als früher – klar, dass sie auch eine psychotherapeutische Behandlung erhält. Aber zwei- bis dreimal die Woche eine Psychotherapiesitzung abzuhalten wäre für sie nicht zielführend. Das würde bei einer akuten Psychose überfordern.

Die Betroffenen brauchen Reizarmut. Lange Gespräche verwirren und irritieren ihn oder sie eher. Später dann sollte es gemäß Behandlungsleitlinie eine kognitive Verhaltenstherapie sein, kurz KVT. Wer an einer Schizophrenie erkrankt ist, erhält dabei aber andere Interventionen als jemand mit einer Angststörung oder einer Depression, der auch eine KVT erhält.

Aber dass in die Psychiatrie nur die schweren Fälle kommen, bei denen man ohnehin nur mit Medikamenten helfen kann, und Psychotherapie was für die leichteren Fälle ist, die eher ambulant behandelt werden, das stimmt so nicht?

Nein. Bei uns wird je nach Erkrankung nach den Empfehlungen der nationalen Behandlungsleitlinien behandelt. Und auch bei Schwererkrankten wissen wir heute, dass die Psychotherapie ein wirksames Mittel ist, und sie wird auch angewendet. Allerdings verschiebt sich die Gewichtung.

Was meinen Sie damit?

Wir haben in der stationären Psychiatrie überproportional viele Menschen mit schweren Erkrankungen. Da spielt Psychotherapie zu Beginn eine andere Rolle als im weiteren Verlauf. Wenn jemand nach einem Suizidversuch zu uns in die Klinik kommt, dann erhält er in der ersten, vielleicht auch noch in der zweiten Woche vor allem kürzere Gespräche und Interventionen. Es geht erst mal darum, Zugang zu ihm zu gewinnen, eine Verbindung, Vertrauen aufzubauen, Wirkungen und Nebenwirkungen von Medikamenten zu erklären, ihn an einen Tagesablauf heranzuführen.

Dafür brauchen wir Personal – sowohl psychologische, aber vor allem auch ärztliche Psychotherapeutinnen und -therapeuten –, doch nicht in dem Sinne, dass sie für 50-minütige Gespräche bereitstehen. Längere psychotherapeutische Gespräche sind oft erst im Verlauf sinnvoll, und die Betroffenen bekommen kontinuierlich mehr davon.

Auf der anderen Seite haben wir in unseren Ambulanzen auch viele, die leicht oder mittelgradig erkrankt sind und die vornehmlich einen psychotherapeutischen Bedarf haben. Manche Angstpatienten, zum Beispiel solche mit phobischen Störungen, erhalten keine Medikamente, weil es keine Evidenz dafür gibt.

Zurück zur Ausgangsfrage: Erhalten die Patientinnen und Patienten bei Ihnen nun genügend Psychotherapie?

Es gibt auf jeden Fall Reformbedarf.

Das heißt, manchen würden Sie gerne mehr Psychotherapie zukommen lassen, als Sie es dann am Ende können?

Das ist sicher richtig.

Woran liegt das?

Am Personal. Wie viel Personal in einer Klinik arbeitet, das bemaß sich bisher immer noch nach der Psych-PV, der Psychiatrie-Personalverordnung, und die stammt aus dem Jahr 1991. Die gesetzliche Regelung ist also über 30 Jahre alt, aber die Psychiatrie hat sich seither sehr verändert.

Es ist nicht mehr so, dass der ganze Saal ein Medikament bekommt und dann schlafen alle. Zum Beispiel setzen wir heute vielerorts auf eine partizipative Entscheidungsfindung, das heißt: Entscheidungen zur Behandlung treffen wir gemeinsam mit den Patienten. Dafür braucht man aber mehr Personal.

Der Gesetzgeber hat das erkannt, die Psych-PV wird von der Richtlinie zur Personalausstattung in Psychiatrie und Psychosomatik, kurz PPP-RL ersetzt. Die war bereits zum ersten Januar 2020 in Kraft getreten, wurde dann aber noch überarbeitet und angepasst. Was ändert sich mit der neuen Richtlinie für Sie?

Wenn ich auf die Kalkulationen schaue, die mir vorliegen, dann muss ich sagen: Viel ändert sich da nicht.

Früher waren für Ihren Psychiatriebereich 29 Minuten Einzelpsychotherapie pro Woche und Patientin oder Patient angegeben. Künftig steigt der Wert auf 50 Minuten. Das ist fast doppelt so viel Zeit.

Das stimmt zwar. Aber erstens ist der Minutenwert für die Ärzte gleich geblie­ben, und in der Psychiatrie sind es oft auch ärztliche und nicht psychologische Psychotherapeuten, die Psychotherapie geben. Zweitens hat die Krankenhausbürokratie in den vergangenen Jahren Ausmaße erreicht, dass das Personal den halben Tag zur Dokumentation am Computer Kästchen klickt. Dieser Dokumentationswahnsinn ist darin ja noch gar nicht abgebildet. Das muss auch in den 50 Minuten geschehen.

Insgesamt gesehen enthält die neue Richtlinie für eine Klinik eine marginale Erhöhung, die nicht halten kann, was sie suggeriert – nämlich dass deutlich mehr Zeit für psychotherapeutische Gespräche zur Verfügung steht. Somit besteht weiterhin eine Diskrepanz zwischen Leitlinien und Realisierbarkeit.

Die Richtlinie versteht die Minutenwerte als Mindestwerte, um ein Mindestmaß an Behandlung zu sichern. Könnten Sie nicht einfach mehr behandeln, wenn Sie das für richtig erachten?

Das ist nicht so einfach. Man muss die Behandlung immer auch von den Krankenkassen finanziert bekommen. Wir rechnen da als Klinik nicht jeden Patienten, jede Patientin einzeln ab, sondern verhandeln ein Jahresbudget. Da bekommen wir dann so und so viel Prozent mehr als im Jahr zuvor, und das muss dann reichen – egal ob wir so und so viele Ärztinnen und Ärzte eingestellt haben.

Die Krankenkassen sind da harte Verhandler. Unseren Kalkulationen zufolge werden wir auch mit der neuen Richtlinie nicht so viel mehr Budget bekommen, wie wir für die leitliniengerechte Therapie benötigen und gerne zur optimalen Versorgung hätten.

Was bedeutet die neue Richtlinie für die Patientinnen und Patienten? Was hat sich im Alltag in der Klinik geändert?

Das kann man derzeit noch nicht verlässlich sagen, weil der Zeitpunkt der Einführung mit der kritischen Belastung durch die Pandemie in den Kliniken überlappt. Formal ändern sich Minutenwerte, die Unterschreitung der Personalausstattung wird bei Kliniken, die das tun oder tun müssen, zu finanziellen Einbußen führen.

Sie müssen aber im Zuge der neuen PPP-Richtlinie zusätzliches Personal einstellen. Dahingehend erfüllt sie ihren Zweck, oder?

Ja – wenn wir genügend Personal finden, denn es gibt viel zu wenig im Land. Ich würde es so formulieren: Wir können neue Ärztinnen und Psychotherapeuten einstellen. Aber, wie gesagt, aus meiner Sicht ist der Zugewinn marginal. Ich bin persönlich von der Reform enttäuscht. Das kann man so formulieren.

Das ist die BPtK, die Bundespsychotherapeutenkammer auch. Sie hat im Frühjahr 2021 eine ganze Broschüre zur neuen Richtlinie herausgegeben…

…in der ich mich auch zu Wort melde. Wie diese Broschüre die Verhältnisse in der Psychiatrie von heute darstellt, ist aber falsch und verunsichert die Menschen.

Darin findet sich folgende Forderung: 100 Minuten Einzelpsychotherapie pro Patientin oder Patient pro Woche, dazu noch mal 180 Minuten Gruppenpsychotherapie. Braucht es das, um leitliniengerecht behandeln zu können?

In den Leitlinien stehen keine Minutenwerte. Wie viel Zeit eine Klinik benötigt, hängt immer auch von der Patientenstruktur ab, also welche Patienten mit welchen Diagnosen und welchen Schweregraden behandelt werden. Aber ja, damit könnte man auf jeden Fall besser arbeiten.

BPtK-Präsident Dietrich Munz sagte zu der Veröffentlichung jener Broschüre: „Psychotherapie kommt zu häufig zu kurz, ist nicht ausreichend dosiert, fällt nicht selten aus und wird nicht spezifisch nach psychischer Erkrankung eingesetzt.“ – Ist das so?

Man muss ganz klar sagen: Natürlich brauchen wir mehr Psychotherapie, und dafür brauchen wir einfach mehr Personal – und zwar sowohl ärztliche als auch psychologische Psychotherapeutinnen und -therapeuten. Aber die Darstellung in der Broschüre, dass sozusagen in der Psychiatrie die Patienten nur Medikamente bekommen, keiner mit ihnen spricht und jetzt kommt die Psychotherapie, um uns zu retten, die ist einfach nicht korrekt.

Sie beziehen sich darauf, dass Dietrich Munz ebenfalls sagte, die Behandlung in psychiatrischen Krankenhäusern sei zu häufig nicht leitliniengerecht. Patientinnen und Patienten würden zu oft einseitig pharmakologisch behandelt.

Solche Aussagen suggerieren den Betroffenen: Psychiatrie ist schlecht, da bekomme ich nur Medikamente, während der Psychotherapeut der Gute ist. Gegen solch eine seltsame Polarisierung wehre ich mich.

Wir sind doch eigentlich in einer großartigen Situation. Die Leitlinien sind mittlerweile hochgradig differenziert: Wir wissen, welche Psychotherapieform wir bei welchen Betroffenen zu welchem Zeitpunkt einsetzen können. Dazu gibt es ganz hervorragende Medikamente. Wir haben gute ärztliche und psychologische Psychotherapeuten.

Warum arbeiten wir da nicht zusammen und sagen: Man muss es differenziert betrachten. Der eine benötigt dies und der andere braucht das. Stattdessen werden Fronten verhärtet, wo gar keine sein müssten. Das verfehlt den Sinn der ganzen Diskussion und macht den Patientinnen und Patienten Angst.

Aber ist Munz’ Vorwurf gänzlich aus der Luft gegriffen?

Meiner Meinung nach ist das aus der Luft gegriffen. Jeder Psychiater wird heute gleichermaßen auch psychotherapeutisch ausgebildet. Und jede Fachärztin ist heute Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie.

Bei uns im Haus gibt es diese gegenseitigen Vorurteile nicht. Die Zusammenarbeit zwischen ärztlichem und psychologischem Personal ist extrem fruchtbar. Sie lernen voneinander. Und wenn wir Patienten Medikamente geben, würde kein einziger von unseren psychologischen Psychotherapeuten sagen: „Mensch, lass doch mal die Medikamente weg.“ Die Psychiatrie hat sich sehr gewandelt, und deswegen finde ich es nicht fair, immer wieder dieses veraltete Bild in die Welt zu setzen.

Und dass in Kliniken die zu Behandelnden vom Schweregrad her oftmals etwas mehr Bedarf an Medikation haben, das ist auch korrekt. Aber ich verwehre mich ganz explizit gegen dieses Schwarz-Weiß-Denken. Es ist weiß Gott nicht so, dass Patientinnen hier zur Tür hereingehen und gleich die Spritze im Arm haben – so wie es leider immer noch in jedem neuen Tatort dargestellt wird. Das mag es geben, aber das ist nicht die moderne Psychiatrie, die wir mittlerweile in Deutschland haben.

Man könnte das im Übrigen auch umdrehen.

Inwiefern?

Es gibt auch Erkrankte, die über Jahre psychotherapeutisch „gequält“ werden. Und dann kommen die zu uns in die Klinik und sagen: „Mensch, ich habe seit einem Dreivierteljahr nicht mehr geschlafen. Endlich kann ich mal wieder gut schlafen.“ Das ist zwar Gott sei Dank nicht die Regel, aber es kommt vor.

Im September 1975 erschien der Bericht über die Lage der Psychiatrie in der Bundesrepublik Deutschland von einem Expertengremium, besser bekannt als „Psychiatrie-Enquete“. Der Bericht kritisierte die Zustände in den Psychiatrien aufs Schärfste und beschrieb sie als „elend“ und teilweise „menschenunwürdig“. Wie sieht sie denn heute aus, die Psychiatrie in Deutschland?

Sie können das jetzt für übertrieben erachten, aber aus meiner Sicht hat sich in den vergangenen 50 Jahren in keinem Fach der Medizin so viel getan wie in der Psychiatrie. Damals gab es nur wenige Medikamente, und die hatten viele Nebenwirkungen. Heute haben wir ein breites Spektrum an unterschiedlichen Substanzen, die ganz individuell eingesetzt werden. Wir haben zudem Verfahren wie die sanfte Hirnstimulation, viele psychotherapeutische Techniken, die es früher alle noch nicht gab. Die Psychiatrie in Deutschland hat sich aus meiner Sicht revolutioniert und ist zu einer modernen medizinischen Disziplin geworden.

Prof. Dr. Peter Zwanzger ist ärztlicher Direktor und Chefarzt für Allgemeinpsychiatrie und Psychosomatik am kbo-Inn-Salzach-Klinikum in Wasserburg am Inn. Er forscht an der LMU München zu Angst und Angsterkrankungen.

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 4/2022: Das Leben leicht machen