Nur das Richtige essen

Was gesund ist, bestimme ich allein. Nach dieser Devise sollte man sich aber besser nicht ernähren.

Ich weiß nicht, was das Richtige für mich ist. © Westend61/Getty Images

Was verstehen Orthorektiker unter gesunder Ernährung?

Hierauf gibt es nicht die eine Antwort, da sich Orthorexie vor allem dadurch auszeichnet, dass Betroffene ihre eigene Definition von gesunder Ernährung haben. Die ist nicht unbedingt mit den allgemeinen Empfehlungen zur gesunden Ernährung vereinbar – und genau das ist der Aspekt, der orthorektisches Ernährungsverhalten langfristig ungesund werden lässt. Das heißt, die Qualität des Essens wird an subjektiv ausgewählten Kriterien festgemacht: Die einen legen Wert auf eine bestimmte Art des Anbaus der Produkte, vermeiden industriell hergestellte Produkte, stufen Geschmacksverstärker, Farbstoffe und sonstige Zusätze als schlecht ein, die anderen wählen gerade Produkte mit Zusätzen aus, zum Beispiel mit Vitaminen. Wiederum andere legen den Fokus auf die Zubereitung der Gerichte, dann wird nur ganz bestimmtes Kochgeschirr verwendet oder es wird nur Rohkost gegessen.

Welches sind typische Verhaltensweisen?

Das hängt unmittelbar davon ab, welche Ernährungsweise subjektiv als gesund definiert wird. Für manche ist ein fester, regelmäßiger Plan wichtig, andere achten eher auf die Abwechslung der als erlaubt definierten Lebensmittel. Allgemein gilt es noch herauszufinden, ob die subjektiv aufgestellten Ernährungsregeln grundsätzlich so konsequent eingehalten werden, dass es zu keinerlei Abweichungen kommt, oder ob gelegentlich Ausnahmen gemacht werden, die dann zu negativen Gedanken und Gefühlen führen. Diese könnten kompensatorische Maßnahmen nach sich ziehen, etwa Sport oder ein besonders gesundes Essverhalten am nächsten Tag. Häufig beobachten kann man auch eine fortwährende Reduktion der erlaubten Lebensmittel und eine immer strengere Ausarbeitung und Anwendung eigener Regeln. Um die festgelegten Ernährungsmaßstäbe perfekt umzusetzen, kann es auch vorkommen, dass sich die Betroffenen zurückziehen. So werden Einladungen zum Essen abgelehnt, um nicht mit den als ungesund eingestuften Lebensmitteln konfrontiert zu werden.

Wer ist besonders davon betroffen?

Zumeist jüngere Frauen. Wegen der Nähe von Orthorexie und Anorexie nehmen wir einen ähnlichen Entstehungsweg an. Da liegt die Vermutung nahe, dass junge Frauen aufgrund des herrschenden Schlankheitswahns und Gesundheitsdrucks ihr Essverhalten verändern. Wir schätzen, dass in Deutschland bis zu drei Prozent der Menschen Verhaltensweisen aufzeigen, die in Richtung Orthorexie gehen, und dass weniger als ein Prozent in einem klinisch relevanten Ausmaß unter ihrem speziellen Essverhalten leiden.

Sich mit bestimmten Vorlieben zu ernähren ist an sich aber noch kein zwanghaftes Verhalten, oder?

Nein, selbstverständlich nicht. Erst wenn das Essverhalten zu Einschränkungen im Alltag führt oder körperliche Probleme hervorruft, verbunden mit einem gewissen psychischen Leidendruck, kann man davon sprechen, dass es dysfunktional ist. Dysfunktional bedeutet, dass das Verhalten für die Bewältigung des Lebens nicht hilfreich ist und dass es einem sogar im Weg steht, statt dass es dabei hilft, gesund und zufrieden zu sein und dem Körper Gutes zu tun.

Worin besteht denn der Nutzen, sich so sehr über seine Mahlzeiten zu definieren?

Jedes dysfunktionale, also ungünstige oder gar pathologische Verhalten erfüllt eine Funktion, die zur Entstehung und Aufrechterhaltung beigetragen hat. Welche Rolle es bei der Orthorexie einnimmt, ist individuell verschieden. Steven Bratman, ein amerikanischer Alternativmediziner, der den Begriff der Orthorexie im Jahr 1997 prägte, nahm verschiedene Ursachen an: zum Beispiel den Wunsch nach Kontrolle, die Suche nach Spiritualität sowie die Anpassung an vermeintliche gesellschaftliche Standards und Ideale. Der Drang nach Perfektion und Leistungsfähigkeit spielt vermutlich auch eine Rolle. Die spezielle Ernährungsweise gibt den Betroffenen laut Bratman eine Art Überlegenheitsgefühl und stützt ihr Selbstbewusstsein, verbunden mit Gedanken wie: „Ich bin stark, ich kann verzichten und mich in meinem Verhalten kontrollieren.“ Das eigene Essverhalten kann man kontrollieren, im Gegensatz zu vielen anderen Dingen im Leben wie Beziehung, Freunde, Job, da stößt man an Grenzen. Essen dagegen ist mit der Freiheit verbunden, selbst zu entscheiden und Einfluss darauf zu nehmen.

Gibt es Bedingungen, die zur Orthorexie führen?

Abgesehen davon, dass bei der Orthorexie noch unklar ist, inwiefern sie tatsächlich ein eigenständiges psychisches Störungsbild darstellt, ist bislang noch nicht erforscht, wie genau es zur Ausprägung orthorektischen Verhaltens kommt. Vermutlich spielen auch genetische Veranlagungen eine Rolle, wie zum Beispiel eine geringere Stresstoleranz oder Schwierigkeiten, mit Belastungen und negativen Gefühlen umzugehen. Dies kann im Zusammenhang mit bestimmten Umweltfaktoren in ungünstiger Kombination zur Entstehung einer dysfunktionalen Verhaltensweise führen. Wir nehmen an, dass es ähnliche Risikofaktoren wie bei der Anorexie gibt: also eine frühe Beschäftigung mit Essen und Ernährung in der Familie, negative Kommentare zum eigenen Essverhalten, Gewichtsprobleme oder Krankheiten, die zu einer Ernährungsumstellung führen – aber dies sind nur erste Spekulationen.

Ist diese Essstörung verbunden mit einer genuss­ablehnenden oder auch hypochondrischen Lebensweise?

Durch verschiedene Studien haben wir Hinweise darauf gesammelt, dass orthorektisches Ernährungsverhalten mit hypochondrischen Ängsten in Verbindung steht. Ob dies allerdings eine Ursache für die Entstehung der Orthorexie ist, wissen wir noch nicht genau. Eindeutiger belegt ist die Nähe zur Anorexie. Derzeit ist noch nicht nachgewiesen, inwiefern die Orthorexie ein eigenständiges Phänomen ist oder eine Variante der Anorexie darstellt. Zum Beispiel haben wir herausgefunden, dass Personen mit einem orthorektischen Ernährungsverhalten oft nach Schlankheit streben – einem grundlegenden Symptom der Anorexie … In einer anderen Studie an gesunden Frauen zeigte sich, dass eine Neigung zu orthorektischem Ernährungsverhalten mit einer stärkeren Körperunzufriedenheit einhergeht, welche ebenfalls ein zentrales Symptom der Anorexie darstellt.

Was ist mit Menschen, die sich streng vegetarisch oder vegan ernähren, verhalten sie sich auch orthorektisch?

Orthorexie ist nicht gleichzusetzen mit veganer oder vegetarischer Ernährung. Grundsätzlich gilt immer: Die Grenze ist dort, wo der Leidensdruck beginnt. Orthorektisches Ernährungsverhalten definiert sich nicht durch das, was jemand isst, sondern durch den Leidensdruck, der durch die selbst auferlegten Einschränkungen entsteht. Wir konnten in einer Studie zeigen, dass vegane Ernährung aus gesundheitlichen Gründen mit hohen Orthorexiewerten in Verbindung steht. Menschen jedoch, die sich aus ethischen Gründen vegan ernähren, haben diesbezüglich keine höheren Werte. Das zeigt, dass die eigene Motivation für bestimmte Ernährungsformen mitentscheidet, ab wann das Verhalten in die Richtung einer Essstörung geht.

Sie sagten eingangs, dass das Ernährungsverhalten mit der Zeit strenger wird. Warum ist das so?

Ich vermute, dies liegt daran, dass die Betroffenen das Gefühl haben, sich immer noch nicht ausreichend gesund zu ernähren. Meist fängt es schleichend an, die Betroffenen probieren verschiedene Ernährungsformen aus und eignen sich Wissen an. Es wird auch vermutet, dass manche das Ziel haben, konkrete Symptome durch eine bestimmte Auswahl von Lebensmitteln zu lindern, was natürlich nicht in jedem Fall funktioniert. In gewisser Weise streben die Betroffenen eine Perfektion an, die nicht zu erreichen ist, und haben somit permanent das Gefühl, sich nicht gut genug zu ernähren. Deshalb kompensieren sie dies mit noch strengeren Regeln. Das kann dann in Extremfällen dazu führen, dass körperliche Mangelerscheinungen auftreten, zum Beispiel Untergewicht oder Unterversorgung mit bestimmten Nährstoffen.

Sind sich Orthorektiker ihrer Problematik bewusst?

Wir vermuten, dass wenig Einsicht besteht, die Personen also eher leugnen, dass sie ein Problem mit ihrem Essverhalten haben. Dies kommt auch bei der Anorexie häufig vor.

Welche Behandlungsmöglichkeiten gibt es?

Zunächst einmal sollte man die Betroffenen informieren, dass Orthorexie das Ausmaß einer psychischen Krankheit annehmen kann, und ihnen erklären, wie sie entsteht. Auch eine Ernährungsberatung ist hilfreich. Hierbei sollen sie wieder lernen, was eine normale, gesunde und entspannte Ernährung ausmacht. Außerdem ist es wichtig zu erfahren, welcher Zusammenhang tatsächlich zwischen dem Auftreten von Krankheiten und der entsprechenden Ernährungsgewohnheit besteht und zu welchen Problemen eine strenge Restriktion von Lebensmitteln führen kann. Darüber hinaus sind verhaltenstherapeutische Elemente hilfreich, zum Beispiel die Konfrontation mit bisher verbotenen Lebensmitteln.

Wie sehen die denn genauer aus?

Meistens lässt man die Patienten erst einmal eine persönliche schwarze Liste erstellen, eine Aufzählung, die zeigt, welche Lebensmittel vermieden werden. Das macht deutlich, wie eingeschränkt die Nahrungsauswahl zum aktuellen Zeitpunkt ist. Daran kann gearbeitet werden. Ergänzend dazu ist es ratsam, eine Liste mit Ernährungsregeln zusammenzustellen, um spezielle Zubereitungsrituale herauszufinden. Schließlich sollte es eine Konfrontation mit den vermiedenen Nahrungsmitteln geben, sie kann helfen, spezifische Ängste vor Lebensmitteln zu überwinden. Das heißt, Betroffene essen diese Lebensmittel – manchmal begleitet sie dabei auch ein Therapeut. Neben der Konfrontation liegt ein wichtiger Bestandteil der Therapie in der Bearbeitung dysfunktionaler Kognitionen, also ungünstiger, wenig hilfreicher Gedanken. Etwa Krankheitsängsten und Sorgen um die eigene Gesundheit – vor allem wenn sie ausgeprägt hypochondrische Züge annehmen. Dabei hinterfragt man Annahmen und Gedanken der Personen, zum Beispiel: Wie wahrscheinlich ist es, von einer einzigen ungesunden Mahlzeit krank zu werden? Möglicherweise muss generell der Gesundheitsbegriff überdacht werden, da Betroffene häufig eine zu rigide beziehungsweise verzerrte Vorstellung nicht nur von gesundem Essen, sondern auch von einem gesunden Körper haben. Allerdings steckt die Forschung zur Orthorexie auch in diesem Punkt noch in den Kinderschuhen. Es gibt bislang kein Therapiemanual und auch keine Therapiestudien, so dass wir noch nicht wissen, wie wirksam diese ersten Ideen zur Behandlung wirklich sind.

Und wie sollten Angehörige damit umgehen, wenn sie ein derart verändertes Essverhalten bemerken?

Wenn man einen starken Leidensdruck beobachtet, verbunden mit einer Beeinträchtigung im Alltag und mit körperlichen Problemen wie einer Mangel- oder Fehlernährung, ist es ratsam, die betreffende Person vorsichtig darauf anzusprechen. Letztendlich muss jeder für sich selbst entscheiden, wie er sich ernährt, und sofern es keine negativen Konsequenzen für die Gesundheit hat, ist selbst die strengste vegane oder rohköstliche Ernährungsweise kein Hinweis auf eine Orthorexie. Auch dann, wenn es anderen als stark abweichend vorkommen mag. Dennoch sind starke Einschränkungen in der Ernährung nicht harmlos, allerdings haben sie eben nur in wenigen Fällen etwas mit Orthorexie zu tun. Ähnlich wie bei der Anorexie vermuten wir auch bei der Orthorexie, dass die Betroffenen ihr Essverhalten verheimlichen oder leugnen, weshalb in einem Gespräch Probleme damit erst einmal abgestritten werden. Man sollte sensibel vorgehen, sich nicht zu sehr aufdrängen, nicht vorschnell urteilen, sondern ansprechen, dass man sich Sorgen macht.

Ist Orthorexie eine Wohlstandskrankheit?

Forschungsergebnisse kenne ich zu dieser Frage nicht. Allerdings könnte man es zum Beispiel daraus schließen, dass Essstörungen in Entwicklungsländern viel seltener vorkommen als in der westlichen Welt. Lebensmittel nach anderen Kriterien auszuwählen, als den Hunger zu stillen und satt zu werden, wird vermutlich erst durch einen gewissen Wohlstand und eine große Auswahl an Lebensmitteln möglich.

Friederike Barthels ist Psychologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Abteilung für Klinische Psychologie der Universität Düsseldorf. 

Dieser Text erschien erstmals in Psychologie Heute 6/2019

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