Sorge dich um dich selbst

Übungen in philosophischer Lebenskunst

Das Bild ist eine Collage, bei der eine Frau ins Universum blickt und verschiedene Gestirne betrachtet.
Wie unwichtig sind wir doch angesichts des Universums! © Michael Haake für Psychologie Heute

Die Sorge um sich selbst, epimeleia heautou, wie sie die antiken Griechen nannten, war über einen langen Zeitraum hinweg das Anliegen der Philosophie. Und wer um sich selbst Sorge trägt, muss mithilfe von Übungen an sich arbeiten. Der Blick wird dafür nach innen gewendet, um so die Wahrheit zu erlangen, die in uns liegt – wenn auch auf einer anderen Seinsebene. In vielen Gedankenrichtungen unternimmt man durch Riten, Meditation und Geistesübungen den Versuch, sein wahres Sein beziehungsweise Nichtsein zu…

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man durch Riten, Meditation und Geistesübungen den Versuch, sein wahres Sein beziehungsweise Nichtsein zu erkennen.

Meditieren

Eine der Hauptübungen in der Antike ist melete, bei den Römern meditatio genannt. Diese Meditation hat nichts mit dem Kontrollieren von Gedanken zu tun, vielmehr ist sie ein Sinnieren, eine Gedankenübung, in der wir uns an Gutes und Wahres erinnern – damit wir es zur Hand haben, wenn es vonnöten ist. Oft spricht man dabei auch laut vor sich hin, um so das Gedachte noch fester im Bewusstsein zu verankern.

Zum Beispiel wird am Morgen bedacht, was man sich am Tag vornimmt. Abends hingegen wird kontempliert, was man tagsüber vollbracht hat. Epiktet denkt darüber nach, welche Dinge vor sich gingen, wie sie ihn beeinflusst haben, wie er von ihnen abhängt und wie er sich ihnen gegenüber verhielt.

Eine ähnliche Übung ist praemeditatio malorum. Hierbei stellt man sich ein zukünftiges Unglück vor, das schon bald eintreffen wird. Es geht darum, sich zu prüfen, ob man auf das Übel vorbereitet ist. Man nimmt somit der Kalamität das Überraschungsmoment. Es ist ein Harnisch gegen die Welt.

Eine weitere Meditationsart ist die melete thanatou: Man meditiert über den Tod, versetzt sich gar in einen Sterbenden, gibt damit dem Leben das rechte Gewicht. Dabei rückt das Wichtigste, die Gegenwart in den Mittelpunkt. Neben diesem carpe diem verhilft uns das Nachdenken über den Tod dazu, unsere Sicht der Dinge zu objektivieren. Wir blicken auf unser ganzes Leben zurück, nicht von hier unten, sondern unparteiisch mit dem Blick von oben. „Ein Leben lang muss man sterben lernen“, sind Senecas berühmte Worte dazu.

Beobachten

Auch die Naturbeobachtung ist eine Übung. Einerseits lässt sie uns erkennen, wie wir im Verhältnis zu den Dingen um uns stehen. Andererseits, so heißt es bei den Epikureern, rüstet sie uns, macht uns mutig und stark gegen den (Aber-)Glauben, den man uns aufzwingen will. Nicht länger werden wir von der Natur überrascht, da wir ihr vertraut sind, ihre Gesetzmäßigkeiten durch Betrachtung erlernt haben.

Doch ist das Beobachten alles andere als leicht, wenn wir dem indischen Denker Jiddu Krishnamurti Glauben schenken dürfen, da wir selten einfach nur etwas besehen. Meistens schieben sich unsere Vorurteile, unsere Ängste, unser Ego dazwischen. Manche Denker der Antike gehen in ihrer Naturbetrachtung noch weiter. Es wird empfohlen, sich das All vorzustellen: in seiner Unendlichkeit, in all seiner zeitlichen und räumlichen Weite. Über eineinhalb Millennien später stiert auch der niederländische Philosoph Baruch de Spinoza dem Himmelsgestirn entgegen. Er legt nahe, in Augenblicken der Frustration den Blick des Kosmos einzunehmen, alles unter dem Gesichtspunkt der Ewigkeit zu beschauen (sub specie aeternitatis). Dann könnten wir unsere Situation erneut beleuchten, ihre eigentliche Unwichtigkeit und unsere Nichtigkeit. Es ist der zeitgenössische Denker Alain de Botton, der diesen Gedanken weiterspinnt, indem er vorschlägt, am besten nach den Fernsehnachrichten das Universum zu zeigen. Damit wir uns in Stille der Milliarden Galaxien, der Septillionen Sterne bewusstwerden können.

Schreiben

Das Verschriftlichen ist eine weitere Form der Übung. Es ist ein Selbstgespräch auf dem Papier, eine Selbstvergegenwärtigung. Eine Methode des übenden Schreibens ist die hypomnemata. Sie ist eine Art Notizbuch der Lebensführung. Ein Sammelsurium an Zitaten, verschriftlichten Taten, Gedanken und ­Überlegungen seiner Selbst oder anderer. Darin finden auch Abhandlungen Platz, die einem helfen sollen, Laster zu überwinden und schwierigen Zeiten beizukommen. Bei Mark Aurel, römischer Kaiser und Philosoph, sind es Sentenzen wie: „Die beste Art, sich an jemand zu rächen, ist die, es ihm nicht gleichzutun.“ Oder: „Ich verdiene es nicht, mich selbst zu betrüben, habe ich ja nie jemand geflissentlich betrübt.“

Heute würde man sich wahrscheinlich auch die Lieblingsstellen seiner Romane hineinschreiben. Vielleicht ein Aperçu aus einem Film. Über diese Niederschriften denkt man schließlich nach. Man geht davon aus, dass das Verschriftlichte und die daraus gewonnene Wahrheit verinnerlicht werden, sie einem in Fleisch und Blut übergehen.

Eine weitere Methode der geschriebenen Übung stellt in der Antike der Brief da. Er dient der Sicht in das eigene Innerste, der Offenbarung der eigenen Seele. Zum einen empfängt man oder gibt anderen Ratschläge, welche man, wenn nötig, auch auf sich selbst anwenden kann. Auch hier werden gehörte Zitate zum Kontemplieren beigefügt. Zum anderen wird das einfache Leben beschrieben, was man getan hat, was einem ge- oder misslungen ist.

Auch einfache Tagesabläufe werden in diesem Zusammenhang oft detailliert wiedergegeben. Denn gerade durch dieses Rekapitulieren wird einem gewahr, wer man eigentlich ist. Besonders heute, wo der Mensch offenbar zunehmend in verschiedene Identitätsrollen zerfällt, wäre Not an solch einer Übung. WhatsApp-Nachrichten mit ihrer Schnell- und Kurzlebigkeit werden das wohl kaum bewältigen.

Kampfkünste

Im antiken Griechenland wird bezüglich der Selbstsorge immer wieder von einem Ringen mit sich selbst, einem Kampf gesprochen. Das Ringen lehrt einen, sich nicht vor Äußerem zu fürchten, sich mit anderen auseinanderzusetzen und im Zuge des Trainings zu verzichten. Im Gymnasion (von gymnazein, was so viel wie ein nacktes Üben bedeutet) lernte man neben der Philosophie auch Ringen und Pankration, den Allkampf.

In den asiatischen Kampfkünsten sind es vor allem Übungsformen wie die Kata im Karate, die uns mit dem Gegenwärtigen verschmelzen lassen, bis das Ich verschwindet. Dieses Einswerden beschreibt Bruce Lee   der sich im Übrigen zeitlebens mit allerlei Philosophie beschäftigte – ganz trefflich: „Leere deinen Geist. Sei formlos, gestaltlos wie Wasser. Wenn du jetzt Wasser in eine Tasse füllst, wird es die Tasse. Tust du es in eine Teekanne, wird es die Teekanne. Wasser kann fließen oder kriechen oder tröpfeln oder krachen. Sei Wasser, mein Freund.“

Vermittelt durch den Körper und seine Sinnlichkeit, wird unsere gesamte Selbstwahrnehmung verändert. Der Bezug zu sich selbst und damit zur Welt wird ein anderer. Durch Partnerübungen sensibilisieren wir uns weiter für das andere, was nicht zuletzt eine ethische Dimension andeutet. Wo beginne ich? Wo höre ich auf? Und wo beginnt das andere?

Teezeremonie

Eine Übung des asiatischen Raumes stellt die japanische Teezeremonie, chanoyu dar. Bei dem Teeritual sind minutiöse Abläufe, Bewegungen und Verhaltensweisen von Wichtigkeit. Durch das endlose Wiederholen und die Konzentration auf die Vorgänge bildet man Ruhe, das gegenwärtige Sein, aber auch Disziplin heran. Man lernt über seinen Ehrgeiz, die Vergänglichkeit, das Nichts und die Akzeptanz von Gegebenheiten. Eigenschaften und Erkenntnisse, die sich offenbar auf die japanische Gesellschaft übertragen haben.

Man kann also von einer Übung sprechen, die sich in allen Lebensvollzügen bemerkbar macht. So schreibt der Romancier und Teeliebhaber Christoph Peters: „Im Nachvollziehen der ebenso reduzierten wie vollendet funktionalen Gesten wird mir immer wieder vor Augen geführt, wie fahrig, unkonzentriert, ja sinnlos die meisten meiner Verrichtungen im Alltag immer noch sind, sei es, weil ich sie für nebensächlich halte, sei es, weil ich vermeintlich bedeutsamen Gedanken nachjage, während ich in Wirklichkeit Kartoffeln schäle.“

Gehen

Es ist kaum ein Zufall, dass jede große Religion bestimmte Wege vorschreibt, die zurückgelegt werden sollten. Sei es der Jakobsweg, der Haddsch, die Wallfahrt nach Mekka, oder pradakshina, der von Buddhisten und Hindus praktizierte andächtige Rundlauf um ein Heiligtum. Im Zenbuddhismus gibt es sogar eine Gehmeditation, genannt kinhin.

Für den einen ist das Spazierengehen eine Übung der Achtsamkeit, bei der man alles genau beobachten soll, was vor sich geht. Denn es geschieht nie nichts. Ein anderer hingegen sieht darin eine „asketische“ Übung. Weder nach links oder rechts soll man schauen, nur geradeaus, und sich bloß nicht ablenken lassen. Schließlich gibt es diejenigen, die es einfach nur zum Nachdenken anregt. Wen wundert es da, dass gerade Philosophen wie Martin Heidegger und Immanuel Kant das Spazierengehen ritualisierte.

Askese

In der Antike treffen wir auch auf die Askese, wie wir sie heute verstehen. Zum Beispiel empfiehlt Plutarch, ausgiebig Sport zu treiben, sich dann vor ein üppiges Bankett zu setzen. Nachdem man es genau betrachtet hat, verspeist man allerdings – anstatt sich auf das Festmahl zu stürzen – das Gericht der Armen und verteilt das eigene Essen an seine Diener.

Seneca empfiehlt, gelegentlich das Leben eines Mittellosen zu führen. Auf hartem Lager zu schlafen, trockenes Brot zu essen, grobes Gewand zu tragen. Dadurch erkennen wir, dass Armut nichts Verwerfliches ist. Außerdem erlernen wir, unsere Sinneslüste zu kontrollieren. Es schult uns in der Unabhängigkeit gegenüber der äußeren Welt, was schließlich auch zu einer vorurteilsloseren Sicht der Dinge führt.

Wenn wir an uns arbeiten, dürfen wir nie den moralischen Aspekt vergessen. In der Antike wie in den östlichen Philosophien macht die Sorge um sich nicht bei einem selbst halt. Man arbeitet an sich, um den anderen Menschen moralisch entgegenzutreten, gar um sich um sie zu kümmern. Selbstsorge hat auch nichts mit der Selbstoptimierung der Moderne zu tun. Schrittmesser und Kalorienzähler-App sind nicht die Instrumente der Übung. Zumindest nicht der philosophischen. Weder geht es darum, mehr zu produzieren, noch darum, besser zu funktionieren. Nein, es dreht sich um das eigene und folglich das Wohlbefinden aller.

Krisha Kops, deutsch-indischer Abstammung, studierte Philosophie und internationalen Journalismus an der Londoner Westminster University. Er promoviert derzeit in interkultureller Philosophie und ist in Deutschland sowie Indien als freiberuflicher Journalist tätig.

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 4/2017: Lebenskunst