Vor wenigen Wochen meldete sich ein neuer Patient bei Thomas Wagner. Der tiefenpsychologische Psychotherapeut, dessen Name hier geändert ist, hat Räume in der Münchner Innenstadt. Zu ihm kommen vorwiegend Männer, die in klassischen Wirtschaftsberufen arbeiten, die also gewohnt sind, die Dinge unter Kontrolle zu haben. Der neue Patient berichtete am Telefon über Schlafstörungen und kam drei Tage später zum Erstgespräch, ein großgewachsener Mann im teuren Anzug mit tiefen Schatten unter den Augen. Er setzte…
Sie wollen den ganzen Artikel downloaden? Mit der PH+-Flatrate haben Sie unbegrenzten Zugriff auf über 2.000 Artikel. Jetzt bestellen
Mann im teuren Anzug mit tiefen Schatten unter den Augen. Er setzte sich und legte Portemonnaie, Handy und seinen prallen Terminkalender vor sich auf den Tisch. „Ich habe leider wenig Zeit“, begann er, „ich bin beruflich sehr stark eingebunden. Nur damit Sie das schon mal wissen.“ Dieser Einstieg sei ganz typisch für die Männer, mit denen er in seiner Praxis zu tun hat, erzählt Wagner. „Viele meiner Patienten haben Schwierigkeiten damit, eine Psychotherapie mit ihrem Selbstverständnis zu vereinbaren“, erklärt er. „Sie spüren einen großen Leidensdruck, kommen aber zu mir wie zu einem Geschäftstermin. Über diesen Punkt hinwegzukommen nimmt sehr viel Zeit in Anspruch. Aber wenn wir das überstehen, kann den Patienten oft geholfen werden.“
Bis heute haben viele Männer Vorbehalte, in Psychotherapie zu gehen. Das zeigt sich auch an den Zahlen: Die Psychotherapie ist nach wie vor eine weibliche Domäne, drei Viertel aller Psychotherapeuten und zwei Drittel aller Patienten sind Frauen. Dabei sind Männer nicht seelisch gesünder, sondern mindestens genauso belastet und psychisch krank. Nur zeigen sich ihre Leiden anders: Ihre Themen sind vordergründig Stress und agitiertes Verhalten. Während bei Frauen häufiger Angststörung und Depression diagnostiziert werden, werden diese bei Männern oft gar nicht erkannt. Dabei suizidieren Männer sich viel häufiger: Von den etwa 10 000 Selbsttötungen in Deutschland pro Jahr werden knapp drei Viertel von Männern begangen. „Das ist paradox“, erklärt die Soziologin Anne-Maria Möller-Leimkühler von der Universität München, die über Depression bei Männern forscht. „70 Prozent der Selbsttötungen stehen in Zusammenhang mit einer Depression, aber Männer sind nur halb so häufig depressiv wie Frauen. Daran kann man ablesen, wie hoch die Dunkelziffer von Depressionen in der männlichen Bevölkerung sein muss. Statt Hilfe zu suchen, bringen Männer sich um.“ Inzwischen weiß man: Depressionen äußern sich bei Männern oft anders als bei Frauen: Statt klassischer Symptome wie Niedergeschlagenheit, Erschöpfung und Schuldgefühlen treten bei Männern oft Gereiztheit, Aggressivität oder antisoziales Verhalten auf. Mittlerweile werden diese Symptome von Fachleuten als typisch männliche Abwehrstrategien einer Depression interpretiert.
Gut funktionierende Abwehr
Oft suchen Männer allerdings keine Behandlung. Anne-Maria Möller-Leimkühler glaubt, dass sie weniger Krankheitseinsicht als Frauen haben und ihre Leiden so lange bagatellisieren, bis sie nicht mehr können – und dann plötzlich den Boden unter den Füßen verlieren. Zudem werden psychische Störungen bei ihnen seltener diagnostiziert und seltener behandelt: Das hat Chronifizierungen und körperliche Erkrankungen zur Folge. Nach Möller-Leimkühler werden achtzig Prozent der psychisch kranken Männer bei niedergelassenen Ärzten wegen somatischer Erkrankungen behandelt, 35 Prozent in Allgemeinkrankenhäusern, zehn Prozent in suchttherapeutischen Einrichtungen und nur 0,5 bis ein Prozent bei Psychotherapeuten. Männer mit psychischen Erkrankungen landen also in der Regel nicht beim Psychotherapeuten.
Auch Thomas Wagner fällt es manchmal nicht leicht, die Depression seiner Patienten zu fassen zu bekommen. „Die Patienten kommen zum Teil mit einer recht gut funktionierenden Abwehr“, erklärt er, „sie tun so, als ob sie alles im Griff haben und ihre Probleme nicht so schlimm sind. Manchmal muss ich höllisch aufpassen, dass ich Suizidalität nicht übersehe.“ Der Psychotherapeut beobachtet, dass hinter der Fassade seiner Patienten oft starke Selbstwertprobleme stecken, die durch eine hohe Leistungsorientierung im Beruf kompensiert werden. Tief dahinter verbergen sich oft internalisierte Vaterbilder, etwa von unnahbaren Kriegsvätern oder abwesenden Vätern. Wagner glaubt, dass Frauen insgesamt mehr dafür sozialisiert sind, über sich zu sprechen: Ihnen falle es oft nicht so schwer, eine Sprache für ihre Gefühle zu finden, Männer hingegen hätten häufig – aber nicht immer – Schwierigkeiten, sich als schwach oder bedürftig zu zeigen. „Psychotherapie kommt Frauen einfach mehr entgegen“, erklärt Wagner, „sie ist viel stärker auf weibliche als auf männliche Bedürfnisse zugeschnitten. Deshalb ist es für viele Männer auch so schwierig, den Weg dorthin zu finden.“
Der Düsseldorfer Psychoanalytiker und Buchautor Mathias Hirsch ist Spezialist für traumatische Familiendynamiken und seit vierzig Jahren in eigener Praxis tätig. Er glaubt, dass Patienten auf Konflikte häufig mit erlernten speziell weiblichen oder speziell männlichen Formen der Identifikation reagieren, die sich wiederum auch in der Psychotherapie zeigen. Frauen neigten kulturell bedingt eher dazu, sich mit der Opferposition zu identifizieren und dem Täter recht zu geben. „In der therapeutischen Situation heißt das überspitzt: Wenn ich als Kind geschlagen worden bin, dann bin ich vielleicht selbst daran schuld. Ich liebe den Täter weiter, obwohl der mich missbraucht hat“, erklärt Hirsch. „Die männliche Form der Identifikation hingegen ist eine andere: Das männliche Opfer identifiziert sich lieber mit dem Täter, um nicht schwach sein zu müssen. Seine Form der Abwehr ist also, andere ebenfalls zu dominieren und Stärke zu zeigen. Wenn wir den absoluten Extremfall dieser weiblichen und männlichen Opferidentifikation denken, denken wir an die weibliche Prostituierte, die Opfer sexueller Gewalt war, und den brutalen Skinhead, der Opfer körperlicher Gewalt war.“
Männer haben etwas zu verlieren
Entwickele nun eine Frau aufgrund einer seelischen Belastung Symptome, so falle es ihr viel leichter, psychotherapeutische Hilfe anzunehmen und ihre Problematik zu verstehen. „Sie begreift schneller, wie die Symptome mit ihrer weiblichen Identität zusammenhängen, und kann sich dann gut aus der Opferrolle herausentwickeln.“ Viele Männer hingegen hätten eher etwas zu verlieren in der Psychotherapie – nämlich ihre Täteridentifikation, mit der sie gelernt hätten, sich stark und unangreifbar zu fühlen. „Sie sagen dann: Ich denke nicht daran, mir das wegnehmen zu lassen. Im Grunde bin ich okay, nur die Probleme sollen verschwinden.“ Das mache die therapeutische Arbeit für viele Männer verständlicherweise unattraktiv und schwieriger. Gerade die Depression sei aufgrund dieses Musters bei Männern auch schwerer zu behandeln. „Männer neigen eher dazu, die Depression abzuwehren, als Frauen“, erklärt Hirsch. „Mit Alkohol oder anderen Drogen können sie ihre Depression zumindest eine Weile auf Abstand halten und weiterhin fantasieren, dass sie alles unter Kontrolle haben. Frauen tun das nicht so häufig. Sie haben anscheinend eine größere Fähigkeit, ihre Ohnmacht in der Depression auszuhalten.“
Wenn Männer und Frauen so unterschiedlich in ihrem Krankheitsempfinden und auch ihren Symptomen sind – braucht es dann nicht männerspezifische Strategien und Behandlungstechniken in der Psychotherapie? Viele Studien haben gezeigt, dass Männern der Bezug zu den eigenen Gefühlen tendenziell eher schwerfällt und sie sich stärker am Außen und an konkreten Ergebnissen orientieren. Häufig kommunizieren sie nicht gern, sondern handeln lieber gleich. Auch Hilfe zu suchen fällt ihnen oft schwer: Wer ein stereotypes Männlichkeitsverständnis hat, für den bedeutet Hilfe nicht Problemlösung, sondern vielmehr eigenes Versagen und Unmännlichkeit. Den Zusammenhang zwischen stereotyper Männlichkeit, Depression und Therapieangst belegte jüngst eine von der American Psychological Association publizierte Studie unter 19 000 Männern: Je mehr sich die befragten Männer nach stereotyp maskulinen Rollenbildern ausrichteten, umso stärker stieg ihr Risiko für Depression und umso seltener suchten sie therapeutische Unterstützung. In der Arbeitswelt jedoch – ob in Handwerksbetrieben, Großkanzleien oder den Vorstandsriegen von Konzernen – sind die Mechanismen stereotyper Männlichkeit inklusive eines extremen Leistungs- und Konkurrenzverhaltens häufig noch gefragt. Umso schwerer ist es für viele Patienten, diese dann beim Psychotherapeuten abzulegen.
Zu viel Gefühlsduselei ist hinderlich
Wie also sollen Psychotherapeuten umgehen mit Patienten, die sich schwer damit tun, ein vertrauensvolles Arbeitsbündnis mit dem Therapeuten einzugehen? Die den Gang zum Psychotherapeuten bereits als Kränkung empfinden und ihre Macht demonstrieren müssen, um sich nicht allzu klein zu fühlen? Die auf eine schnelle Lösung ihrer Probleme hoffen und erstmal Widerstand leisten, wenn es ans Eingemachte geht? Der Psychologieprofessor Glenn Good von der University of Florida, Autor des New Handbook of Psychotherapy and Counseling with Men, kritisiert, dass die herkömmliche Psychotherapie die männliche Gefühlswelt und den geschlechtsspezifischen Umgang mit Problemen zu wenig berücksichtige. Er schlägt vor, die Skepsis männlicher Patienten angesichts einer Psychotherapie in der Therapie klar anzusprechen und auch ernst zu nehmen: „Männer sollten dort abgeholt werden, wo sie sich im Hinblick auf ihre Einstellung gegenüber Psychotherapie gerade befinden.“ Der Weg sei dann, das Misstrauen langsam abzubauen. Good fordert außerdem, dass Therapeuten sich verstärkt auf die Lebenswelt von Männern einlassen sollten und ihnen so konkret wie möglich Ziele, Handlungsstrategien und Zukunftsperspektiven aufzeigen sollten – zu viel „Gefühlsduselei“ sei hier eher hinderlich. Um das Vertrauen von Patienten zu gewinnen, empfiehlt der Psychologieprofessor außerdem, dass Therapeuten sich gezielt auf Männerthemen spezialisieren sollten, um ihren Patienten das Gefühl zu vermitteln, beim richtigen Therapeuten gelandet zu sein.
All das würde auch der Münchner Psychotherapeut Thomas Wagner sofort unterschreiben. „Viele Männer brauchen eine andere Ansprache“, erklärt er. „Man muss sie lange ans Setting gewöhnen und darf am Anfang nicht zu viel deuten. Fragen wie ‚Was haben Sie gefühlt?‘ stelle ich nie. Ihre Abwehr muss man erstmal akzeptieren. Erst wenn sie ganz sicher wissen, dass ihnen nichts passiert, können sie sich öffnen.“ Er hat nicht wenige Patienten, die weit über dreißig Stunden brauchen, bis sie das erste Mal über ihre Befürchtungen oder Ängste sprechen können. Bis sie so weit sind, muss der Psychotherapeut aber oft viel einstecken. „Verbale Angriffe, Abwertungen, Provokationen, das ganze Programm“, sagt Wagner. „Ein Therapeut, der ein bisschen alternativ ist, hat dann gleich verloren. Davon darf man sich aber nicht irritieren lassen, man muss das aussitzen. Gegen Ende der Therapie sind viele dankbar und erkennen, dass sie die Therapie gut für sich nutzen konnten. Für Männer ist die Therapie eben ein Auswärtsspiel.“
Misstrauen abbauen, Sicherheit spenden, nicht zu schnell über Gefühle sprechen, konkrete Ziele und Perspektiven anbieten – all das kommt Männern in Psychotherapien also entgegen. Und doch gibt es viele Patienten, die eine Psychotherapie nicht schaffen. Dominant auftretende Männer etwa, die sich nicht vorstellen können, sich zu hinterfragen. Die zwar ihre Symptome wegtherapiert haben wollen, dafür aber ihren oft selbstschädigenden Lebensstil nicht aufgeben wollen. Die etwa nach einer Trennung zusammenbrechen und in Therapie gehen, aber wieder abbrechen, sobald sie eine neue Frau kennengelernt haben und ihr altes Muster wieder funktioniert. „Es läuft darauf hinaus, ob ein Patient in der Lage ist, sich zu öffnen“, sagt auch Mathias Hirsch, „ob er irgendwann seinem inneren Kind die Hand reichen kann. Manchmal geht das nicht.“ In der Regel zeige sich schon in den Vorgesprächen, ob eine gemeinsame Psychotherapie möglich sei. Wenn die emotionalen Herausforderungen einer tiefenpsychologischen oder psychoanalytischen Behandlung zu groß seien, sei manchmal eine streng lösungsorientierte Verhaltenstherapie der bessere Plan. „Wenn ein Manager mit wiederkehrenden Depressionen mir erzählt, dass er eine glückliche Kindheit hatte, und der Patient meine Probedeutungen überhaupt nicht aufgreift, dann sage ich gelegentlich, ich bin nicht der Richtige für Sie“, sagt Hirsch.
Lieber von Mann zu Mann
Immerhin steigt die Zahl der Männer in Therapie seit Jahrzehnten kontinuierlich. Spätestens seit dem Suizid von Robert Enke im November 2009 suchen Männer bei psychischen Beschwerden bereitwilliger Psychotherapeuten auf: Daten des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung in Deutschland belegen, dass die Zahl männlicher Patienten zwischen 2009 und 2014 stärker angestiegen ist als die Zahl der weiblicher Patienten. Gerade junge Männer haben inzwischen weniger Hemmungen, in Therapie zu gehen und sich verletzlich zu zeigen. Viele Männer besprechen ihre Probleme allerdings lieber von Mann zu Mann. „Ich habe fast achtzig Prozent Männer in Therapie und nur noch zwanzig Prozent Frauen“, sagt Thomas Wagner, „früher war das Verhältnis umgekehrt.“ Zwar haben Studien gezeigt, dass der Erfolg einer Psychotherapie nicht vom Geschlecht des Therapeuten abhängt, sondern vielmehr von der fachlichen Kompetenz sowie der individuellen Passung zwischen Therapeut und Patient – gute Psychotherapeutinnen können in einer Therapie durchaus väterliche Anteile übernehmen, genau wie männliche Therapeuten im Therapiegeschehen vom Patienten auch als mütterlich erlebt werden können. Und doch fühlen sich Männer – gerade bei Schwierigkeiten, die Partnerschaften oder die Sexualität betreffen – oft bei männlichen Psychotherapeuten besser aufgehoben. „In der Tat gibt es bestimmte Konstellationen oder Psychodynamiken, wo man sagen würde, für diesen oder jenen Patienten wäre ein Mann besser“, erklärt der Psychoanalytiker Rainer Richter, bis 2015 Präsident der Bundespsychotherapeutenkammer, „das Problem ist, dass es – wenn wir in den Bereich von weniger als 20 Prozent Männer in der Ausbildung zum Psychotherapeuten kommen – kaum noch diese Auswahlmöglichkeiten gibt.“ Denn in der Psychologie findet, wie in den Gesundheitsberufen generell, schon seit einigen Jahrzehnten eine Femininisierung statt: 75 Prozent der Erstsemesterstudierenden sind derzeit weiblich.
Es scheint also sinnvoll, dass nicht nur Psychotherapeuten, sondern auch Psychotherapeutinnen sich des Faktors Geschlecht in der Psychotherapie bewusster sind. Denn Männer zeigen oft nicht nur andere Symptome als Frauen, sie sind es auch weniger gewohnt, über ihre Gefühle zu sprechen und sich verletzlich zu zeigen. Eine direkte Ansprache, konkrete Therapieziele und eine Halt gebende, authentische therapeutische Haltung kann für männliche Patienten also besonders wichtig sein. Denn der Behandlungsbedarf ist ungebrochen: Die Stiftung Männergesundheit erklärte 2010 in ihrem ersten sogenannten Männergesundheitsbericht, dass Fälle von Arbeitsunfähigkeit wegen psychischer Probleme bei männlichen Angestellten in den letzten zwei Jahrzehnten um 82 Prozent gestiegen seien. Dem Mann geht es in unserer Gesellschaft also nicht besonders gut. Der Sänger Herbert Grönemeyer wusste das schon 1984 in seinem Song Männer: „Männer haben’s schwer, nehmen’s leicht. Außen hart und innen ganz weich. Werden als Kind schon auf Mann geeicht. Wann ist ein Mann ein Mann?“ Eine psychotherapeutische Praxis ist nicht der schlechteste Ort, um diese Frage für sich zu klären.
Literatur
Glenn E. Good, Gary R. Brooks: The New Handbook of Psychotherapy and Counseling with Men. A Comprehensive Guide to Settings, Problems, and Treatment Approaches. Wiley & Sons, Hoboken 2005
Mathias Hirsch: Mütter und Söhne – blasse Väter. Sexualisierte und andere Dreiecksverhältnisse. Psychosozial, Gießen 2016
Mathias Hirsch: Trauma. Psychosozial, Gießen 2011
Anne-Maria Möller-Leimkühler: Vom Dauerstress zur Depression. Wie Männer mit psychischen Belastungen umgehen und sie besser bewältigen können. Fischer & Gann, Munderfing 2016