Alina Jansen, 23, spült schon wieder Geschirr, obwohl sie lernen wollte. Das kann nicht so weitergehen. Wie so vieles andere auch, denkt die Studentin, die in Wirklichkeit anders heißt. Im Studium etwa: Der Stundenplan scheint zu voll, häufig wird sie mit ihren Seminararbeiten nicht fertig. „Täglich schreibe ich in mein Tagebuch, was ich verändern will“, erzählt die junge Frau. Disziplinierter arbeiten. Mehr Sport machen. In der WG für mehr Verteilung der Hausarbeit sorgen. „Aber ich schaffe es einfach…
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einfach nicht.“ Das macht sie mutlos und traurig. „Ich glaube, ich bin depressiv.“ Ist sie das wirklich? Um es herauszufinden, geht sie seit einiger Zeit zu Friederike Potreck-Rose, einer psychologischen Psychotherapeutin in Freiburg. „Vordergründig leidet Alina an ihrem vollen Stundenplan und dem WG-Leben“, erklärt die Therapeutin. Doch dies sind letztlich nur die Auswirkungen einer grundlegenderen Schwierigkeit, glaubt Potreck-Rose: „Alinas Hauptproblem sind ein geringes Selbstwertgefühl und die Selbstzweifel.“
In ihrem Inneren nörgeln die immer gleichen Stimmen: Verhalte ich mich richtig? Strenge ich mich genug an? Was denken die anderen von mir? Sicherheitshalber spült sie darum immer prompt die dreckigen Teller und Tassen. Und wenn eine Mitbewohnerin am Küchentisch sitzt, fragt sie, wie es ihr gehe – auch wenn sie eigentlich auf dem Sprung zur Vorlesung ist. Ihre Seminararbeiten hingegen schreibt sie auf den letzten Drücker, für Korrekturen bleibt da keine Zeit. „Alina verbringt so viel Zeit und Kraft damit, ihre Unsicherheiten zu kompensieren, dass sie keine günstigen Prioritäten setzt und oftmals Dinge, die wirklich wichtig sind, vernachlässigt“, sagt Potreck-Rose.
Die meisten Menschen kennen Selbstzweifel, mal mehr, mal weniger ausgeprägt. Allgemein sind Frauen häufiger betroffen, doch auch Männer quälen Unsicherheiten. Wie eine Umfrage aus dem Jahr 2010 zeigt, plagen hierzulande jede fünfte Frau und jeden siebten Mann Selbstzweifel. Haupttrigger sind dabei Kritik und die bange Frage, was andere über uns denken. Das fühlt sich nicht nur unangenehm an, sondern hat auch langfristig seinen Preis: Wer immerzu an sich zweifelt, wagt nicht zu tun, was er eigentlich will, und wird langfristig unzufrieden. Kein Wunder, dass Ratgeberliteratur und Coaching zu dem Thema boomen. Aber: Kann man sich Unsicherheiten einfach so ausreden? Erzählen sie nicht auch etwas Wichtiges über die eigene Person?
Der Vergleich zwischen Real- und Ideal-Selbst
Selbstzweifel sind kein neues Phänomen. Bereits im Jahr 1890 beschrieb der US-amerikanische Psychologe und Philosoph William James in seinem Lebenswerk The Principles of Psychology die Grundlagen von Selbstwertgefühl und Selbstzweifel. Williams Gedanken haben bis heute Gültigkeit: Selbstzweifel entstehen aus der Diskrepanz zwischen dem Real-Selbst und dem Ideal-Selbst.
Sie sind also das Ergebnis des Vergleichs, wie man ist und wie man gerne wäre. Die einfache Formel dazu: Je größer der Unterschied zwischen Realität und Ideal, desto größer die Selbstzweifel. Ob wir uns zweifelsfrei richtig gut finden – oder all unser Tun und Dasein als verbesserungswürdig erachten –, ist das Resultat einer höchst subjektiven Bewertung.
Die Unsicherheiten, die auftreten, wenn ein Projekt oder eine Prüfung schiefläuft, man sich beim Festessen danebenbenommen hat oder eine Liebe zerbricht, sind völlig normal und sogar eine kostbare Fähigkeit. „Selbstzweifel sind ein wichtiges Signal, das man als Aufruf verstehen kann zu reflektieren“, erklärt Astrid Schütz, Professorin für Persönlichkeitspsychologie an der Universität Bamberg. Im besten Fall stellen wir fest, dass wir beim nächsten Mal sorgfältiger arbeiten, weniger trinken oder unserer Beziehung mehr Aufmerksamkeit schenken sollten. Ein äußerst hilfreicher Mechanismus, wie Schütz erklärt. Unsicherheiten können auch als Motivator für zukünftige Ereignisse nützlich sein. Beispielsweise vor einem wichtigen Gespräch: „Die Selbstzweifel führen dazu, dass man sich besser vorbereitet oder aber seine Erwartungen an die realistischen Möglichkeiten anpasst“, so Schütz. Solange uns Selbstzweifel dazu bringen, aus Niederlagen zu lernen, bezeichnen Psychologen sie als konstruktiv. Während sie auf diese Weise eine wertvolle Ressource darstellen, zieht die andere Erscheinungsform der Selbstzweifel durchaus Probleme nach sich: die destruktive. Im Alltagssprachgebrauch werden beide oft in einen Topf geworfen, das bringt den Selbstzweifeln wohl ihren schlechten Ruf.
Destruktive Selbstzweifel verunsichern – sonst nichts
Für destruktive Selbstzweifel ist typisch, dass sie keine persönliche Entwicklung anstoßen, sondern nur zu Unsicherheit und Selbstentwertung führen. So wie bei der Studentin Alina. Dabei gebe es grob unterschieden zwei Tendenzen, wie Menschen damit umgehen, sagt die Psychologin Marion Lemper-Pychlau aus Königstein im Taunus: „Es gibt diejenigen, die sie mit aller Macht abwehren. Sie sind sich in der Regel nicht einmal bewusst, dass sie starke Selbstzweifel hegen. Sie überkompensieren und machen sich selbst kurzerhand größer.“ Damit beschreibt Lemper-Pychlau Menschen, die stets darauf bedacht sind, schlauer, mächtiger als andere dazustehen – und Kritisches an sich selbst schlicht nicht sehen können. Auch Narzissten zählen zu dieser Kategorie.
Daneben gibt es nach ihrer Erfahrung diejenigen, „die sich mit ihren Selbstzweifeln herumquälen“. Damit beschreibt die Psychologin Menschen, die ständig grübeln, wie sie wirken oder ob sie gut genug sind – und deren innerer Vergleich stets ungünstig für sie ausfällt. Häufig führt das gegenüber anderen zu besonders freundlichem Verhalten, großem Fleiß und Angepasstheit. „Solche Menschen können nach außen sogar sehr erfolgreich sein. Aber innerlich treiben sie Angst und Zweifel an.“ Eine Extremform nimmt das beim sogenannten Hochstapler-Persönlichkeitskonzept an. Es beschreibt Menschen, die objektiv sehr gute Leistung zeigen und zugleich leiden, da sie davon überzeugt sind, den Erfolg nicht verdient zu haben und eines Tages als Prahler aufzufliegen (siehe unten das Interview zum „Impostor-Phänomen“).
Gene und Erziehung
Doch wie kommt es dazu, dass manche Menschen kaum Selbstzweifel kennen, andere stark unter ihnen leiden und wieder andere sie vorteilhaft nutzen? Ob jemand zu Selbstzweifeln neigt, scheint zu einem Drittel im Erbgut verankert zu sein – das ist das Ergebnis von Zwillingsstudien der Sozialpsychologin Michelle Neiss. Der Rest entwickelt sich in Abhängigkeit von unserer Umwelt, vor allem der elterlichen Erziehung. Etwa indem wir beobachten, dass auch unsere Eltern zweifeln – oder dies wiederum gar nicht tun. Unabhängig davon, wie viel wir an uns zweifeln: Wie wir das tun, also ob wir es in konstruktive Bahnen lenken können oder uns in Zweifeln verstricken, hat vor allem mit „der affektiven Bewertung des Wertes der eigenen Person“ zu tun – so definiert Psychologin Eva Asselmann von der Humboldt-Universität zu Berlin das Selbstwertgefühl. Auch hinter Alinas starken Selbstzweifeln stecke letztlich „das grundlegende Gefühl, nicht richtig oder nicht wertvoll zu sein“, vermutet Potreck-Rose. Wer hingegen ein hohes Selbstwertgefühl hat, achtet sich selbst und findet sich wertvoll. Diese grundlegende Einstellung entsteht während der Kindheit.
„Alle unsere Gefühle entstehen in der Beziehung zu anderen Menschen“, sagt die Schweizer Psychoanalytikerin Verena Kast. So auch das Selbstwertgefühl und die Selbstachtung. „Wenn es gut läuft, erfahre ich als Neugeborenes, dass mich meine Eltern liebevoll anschauen und umsorgen.“ Das Baby hat zwar zu diesem Zeitpunkt noch kein bewusstes Empfinden für sein Selbst, ist aber auf der Gefühlsebene eng mit seinen Eltern verbunden. „Das Kind fühlt sich so, wie die Eltern fühlen“, sagt die Professorin für Psychologie. „Manche sprechen von Gefühlssymbiose. Ich bezeichne es als Gefühlsansteckung.“
Bei liebevoller Fürsorge verinnerlicht das Kind also: Ich bin wichtig, ich bin ein erfreulicher Anblick, ich bin gewollt, so wie ich bin. Diese positive Erfahrung sinkt tief ins Unbewusste des kleinen Menschen: „Wir speichern diese Erfahrung als Grundvertrauen ab. Also als Gefühl, dass wir selbst einigermaßen okay sind und in einer Welt leben, die ebenfalls einigermaßen okay ist.“ Verena Kast ist wichtig, dass es hier nicht um Perfektion geht, deshalb nutzt sie das Wort „einigermaßen“. Eltern, die mal ärgerlich reagieren, weil der Kleine die Nacht durchschreit, zerstören demnach nicht sofort das Grundvertrauen des Nachwuchses.
Selbstvertrauen entsteht im Blick der Eltern
Mit anderthalb Jahren entwickelt das Kind ein Gefühl für sein „Ich“. Es erkennt sich erstmals im Spiegel als Person. Zeitgleich wird es mobiler, lernt laufen und sprechen. „Mit dem bereits erworbenen Vertrauen kann es diese Herausforderungen besser meistern und sein Selbstvertrauen entwickeln“, erklärt Kast. Stück für Stück erobert es sich neue Räume, stärkt seine Autonomie und seine Selbstwirksamkeitserwartung, das Zutrauen in das eigene Handeln. Wenn Selbstachtung – also die Überzeugung „Ich bin wertvoll, so wie ich bin“ – und Selbstvertrauen – also „Ich kann etwas bewirken“ – zusammenkommen, entsteht ein gutes Selbstwertgefühl. Kast erklärt es so: „Wenn es den Eltern gelingt, ihrem Kind von klein auf sowohl Geborgenheit zu geben als auch seine autonomen Bestrebungen zu unterstützen, wächst ein Mensch heran, der ein Selbstwertgefühl entwickelt, das relativ unabhängig von äußeren Faktoren ist.“ Man nennt dies auch „nichtkontingentes Selbstwertgefühl“.
„Das nichtkontingente Selbstwertgefühl, das vor allem auf Selbstachtung beruht, gilt als die stabilste Selbstwertquelle“, erklärt Persönlichkeitspsychologin Astrid Schütz. Menschen, die darüber verfügen, werden im Laufe ihres Lebens auch Selbstzweifel erleben. Doch in der Regel können sie diese konstruktiv für ihre persönliche Entwicklung nutzen. Auf Kritik reagieren sie eher mit Neugier als mit Abwehr, auf Niederlagen eher pragmatisch als panisch. Natürlich sind sie nicht gefeit vor Verletzungen wie Beschämung und Verrat oder vor Schicksalsschlägen. Auch Veränderungen im Leben, etwa ein Umzug oder das Elternwerden, können ihr Selbstwertgefühl durchaus ins Wanken bringen. „Doch wenn ich tief in mir drin das Gefühl habe, dass ich ein hinreichend guter Mensch in einer hinreichend guten Welt bin, pendelt es sich in einer gewissen Frist wieder ein“, sagt Psychoanalytikerin Kast.
Im Gegensatz dazu gibt es Menschen mit einem abhängigen oder auch kontingenten Selbstwertgefühl. Sie haben früh im Leben gelernt, dass Liebe nicht bedingungslos ist – weil sie im Elternhaus erlebten, dass es Zuwendung und Wertschätzung nur gab, wenn man brav war oder etwas leistete. Laut Astrid Schütz sind Leistung, Soziales und Körper die drei Felder, von denen Menschen ihr Selbstwertgefühl am häufigsten abhängig machen. „Das kontingente Selbstwertgefühl birgt die Gefahr, dass Selbstzweifel in bestimmten Bereichen dazu führen können, dass sie sich als gesamte Person infrage stellen“, erklärt Schütz. Wer seinen Selbstwert etwa vom Körper abhängig macht, ist verletzlich: Hat er drei Kilo mehr auf den Rippen, fühlt sich das eben nicht nur nach ein klein wenig mehr Körpergewicht an, sondern so, als habe er als ganzer Mensch versagt.
Verena Kast erklärt solch ein plötzliches Einbrechen des Selbstwertgefühls bei Leuten, die ansonsten ein intaktes Selbstbewusstsein haben, nach Carl Gustav Jung mit „Komplex-Episoden“. Der Begründer der analytischen Psychologie ging davon aus, dass wir gerade in unserer Kindheit besonders stark emotional gefärbte Situationen als geschlossene Beziehungserfahrung oder „Komplex-Episode“ im Gedächtnis abspeichern. Hat ein Kind beispielsweise erfahren, dass die Eltern ihm oft signalisierten „du störst“, verinnerlicht es diese Beziehungserfahrung. Erleben Betroffene später Situationen, die der frühen Komplex-Episode ähneln, wird das Gefühl der Ablehnung als Kind aktiviert. Tatsächlich beschreibt auch Alina, dass sie als kleines Mädchen oft das Gefühl hatte, ihre Mutter zu stören – heute leidet sie in der WG unter dem Gefühl, nicht dazuzugehören. Der Inhalt unserer Selbstzweifel kann uns also etwas darüber verraten, was uns in der frühen Kindheit geprägt hat.
Auch im Erwachsenenalter kann das Selbstwertgefühl wachsen
Inzwischen geht man davon aus, dass nicht nur die ersten Lebensjahre, sondern auch spätere Lebenserfahrungen großen Einfluss darauf haben, mit welch einer Intensität Menschen Selbstzweifel empfinden. „Manchmal hat das Elternhaus viel Stabilität mitgegeben. Und im therapeutischen Gespräch kommen dann die Mobbingerfahrungen in der Schule, eine tiefe Kränkung in einer Liebesbeziehung oder die schuldhaft verarbeitete Scheidung der Eltern ans Licht“, erklärt der tiefenpsychologische Psychotherapeut Burkhard Düssler. Die gute Nachricht: Wenn sie die Selbstachtung und das Selbstvertrauen stärken, können spätere Lebenserfahrungen Selbstzweifel auch besänftigen. „Die erste Liebesbeziehung, der erste Joberfolg oder auch ein erfolgreicher Auslandsaufenthalt können destruktive Selbstzweifel nachhaltig mindern“, sagt Düssler.
Ein Beispiel dafür, dass sich hinderliche Selbstzweifel auflösen können, zeigt sich an der Schauspielerin Maria Magdalena Rabl, 42. Sie war ein zweifelndes Kind, eine Jugendliche mit Komplexen, eine unsichere junge Erwachsene. Ihre Zweifel kompensierte sie mit Überengagement und dem Versuch, sich anzupassen. Beides ging regelmäßig nach hinten los und resultierte in Erschöpfung und Mobbing. „Ich blieb zu lange in Beziehungen und Arbeitsverhältnissen, die mir nicht guttaten, weil ich mich nicht traute, klar zu mir zu stehen.“ Heute arbeitet sie als selbständige Schauspielerin, Sprecherin und Autorin, ist derzeit für ein Tennessee-Williams-Stück am Theater on Podol in Kiew engagiert und nennt sich selbst einen „glücklichen Menschen, der wertschätzen kann, was er tut“.
Den Zweifel selbst anzweifeln
Bis dahin war es ein weiter Weg. „Erst durch Gespräche mit Therapeuten, Coaches und Freunden bekam ich einen anderen Blick für mich und das, was mir wichtig ist“, erzählt Rabl. „Ich lernte zu sehen, was ich beeinflussen kann und was nicht. Zu akzeptieren, was ich bin, und damit zu arbeiten“, erinnert sich die Schauspielerin. Ab da stand sie mehr und mehr zu ihrer expressiven Art, ihrer Charakternase, ihrem Bedürfnis nach einem guten Team und viel Lob. Zweifel hat sie immer noch. Aber sie halten sie nicht mehr davon ab, zu tun, was sie tun möchte. „Was mir dabei enorm hilft, ist der Trick, den Zweifel selbst anzuzweifeln.“ Als das Angebot aus Kiew kam, war ihr erster Gedanke beispielsweise: „Da muss ich hin.“ Doch diesem folgte der selbstkritische zweite: „Ob ich das schaffe?“ Letztlich hat sie sich getraut. Denn ihre Erfahrung zeigt ihr immer wieder, dass es sich lohnt. „Wenn ich etwas wirklich will, dann mache ich es“, beschreibt Rabl ihre heutige Einstellung.
Um einen konstruktiven Umgang mit Selbstzweifeln zu erreichen, genügen manchen Menschen Tipps (siehe unten: Selbstzweifel besänftigen), anderen hilft eher ein Coaching oder eine Psychotherapie. Viele wirkungsvolle Ansätze haben eines gemeinsam: Statt sich auf den Inhalt des Selbstzweifels zu konzentrieren, gehen sie eine Ebene tiefer. Sie stärken das Selbstwertgefühl, damit nehmen sie den Selbstzweifeln ihr zerstörerisches Potenzial.
Therapeut Burkhard Düssler rät Betroffenen im ersten Schritt zu einem Gedankenexperiment: „Machen Sie eine Realitätsprüfung. Stellen Sie sich ein paar einfache Fragen.“ Bin ich als Mensch wirklich weniger wert, wenn ich einen Fehler mache? Würde ich einen Freund als weniger liebenswert ansehen, weil seine Freundin ihn verlässt? „Wer sich mit solchen Fragen ernsthaft beschäftigt, wird herausfinden, dass unser Wert als Mensch völlig unabhängig von äußeren Einflüssen ist“, sagt Düssler. „Der Wert der Person ist sogar unabhängig von ihrem Selbstwertgefühl – sonst wären ja alle Menschen, die sich minderwertig fühlen, tatsächlich weniger wert“, führt Düssler sein Gedankenspiel fort. Ergo: Jeder Mensch ist zu jedem Zeitpunkt unermesslich wertvoll. Diese Erkenntnis sei für viele Klienten so banal wie bahnbrechend. Sie öffne das Tor für die weitere therapeutische Arbeit.
Bei Düssler lernen die Patienten die Ursprünge ihrer nagenden Selbstzweifel kennen – und entdecken, dass ihr innerer Kritiker keine böse Instanz ist, die sie fertigmachen will, sondern eine warnende innere Stimme, die im Laufe der Biografie entstanden ist (siehe auch „Das schaffst du nie“ in Psychologie Heute 11/2018). „Unser sehr engagierter kindlicher Aufpasser will uns davor schützen, schmerzliche Erfahrungen zu wiederholen“, erklärt Düssler. Nach seiner Erfahrung wirkt die Therapie, wenn es gelingt, den inneren Aufpasser liebevoll in das Selbstbild zu integrieren.
Die Stimmen anhören
Das haben auch die Studentin Alina und ihre Therapeutin Potreck-Rose gemacht. Sie haben sich die negativen Stimmen im Kopf der jungen Frau genauer angesehen. Die Patientin erkannte, dass sie ihr ständig soufflierten: „Du gehörst nicht dazu.“ Dieser Zweifel trieb sie an, sich selbst und anderen ständig das Gegenteil zu beweisen – indem sie putzte und sich nach den anderen richtete. Potreck-Rose und die Studentin nehmen die Unsicherheiten ernst, und die Patientin versucht nun, sie auszuhalten. „Sie lernt, darauf zu vertrauen, dass sie dazugehört“, erklärt Potreck-Rose. Der Fortschritt kommt mit der Übung. Eine Aufgabe war beispielsweise, dass Alina mit kurzem Gruß an ihrer Mitbewohnerin vorbeigeht, ohne sie ausführlich nach ihrem Befinden zu fragen. „Das ist nicht leicht. Aber die Gefühle und Gedanken, die im ersten Moment auftauchen, auszuhalten, ist ein wichtiger Schritt“, so die Therapeutin. „Das Ziel ist, sich selbst als wertvoll anzuerkennen.“ Das klingt leicht und ist doch sehr schwer. „Die Menschen haben die alten Muster ja über Jahrzehnte eingeübt.“ Was hilft? „Mit einem wohlwollenden Blick auf sich selbst üben, üben und nochmals üben.“
Glücklicherweise steht uns im Ringen mit unseren Selbstzweifeln auch unsere ganz normale Entwicklung zur Seite. Denn die Selbstachtung nimmt mit dem Alter tendenziell zu: „Das durchschnittliche Selbstwertgefühl steigt ab der Jugend kontinuierlich an und erreicht im Alter von etwa 60 bis 70 Jahren den Höhepunkt“, erklärt Ulrich Orth, Entwicklungspsychologe an der Universität Bern.
Außerdem erleben wir in jungen Jahren häufig größere Selbstwertschwankungen. Während bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen das Selbstwertgefühl von Tag zu Tag recht unterschiedlich hoch ausfallen kann, ist es bei älteren Menschen häufig über Tage hinweg sehr stabil. Und für das Wohlbefinden ist weniger die absolute Höhe des Selbstwertgefühls wichtig als vielmehr die Stabilität, wie laut Astrid Schütz viele Studien zeigen. Menschen, die ein recht hohes allgemeines Selbstwertgefühl haben, aber durch Kritik ein starkes Tief erleben, gehen demnach weniger erfolgreich durchs Leben als Personen, die ein weniger ausgeprägtes, dafür aber stabiles Selbstbewusstsein haben, das auch bei Pleiten, Pech und Pannen nicht wegbricht. Zudem wird unser Selbstwertgefühl tendenziell mit den Jahren weniger abhängig von äußeren Faktoren. Bei jungen Menschen ist es nicht ungewöhnlich, dass ein Streit mit Freunden starke Selbstzweifel hervorrufen und das Selbstwertgefühl in Sekundenschnelle ins Bodenlos fallen lassen kann. Ältere lassen sich meist nicht so leicht verunsichern.
Die Unsicherheit mit Mitgefühl bezähmen
Für einen guten Umgang mit Selbstzweifeln geht es nicht darum, im Idealfall alle abzustreifen. Vielmehr ist es hilfreich, zu prüfen, wann sie sinnvoll sind, und in diesem Fall einen konstruktiven Umgang mit ihnen zu finden. Werden sie hingegen vernichtend, sollte man sie stoppen. Wenn das gelingt, stürzen einen selbst berechtigte Selbstzweifel nicht mehr ins Bodenlose. „Jeder hat mal einen schlechten Tag, ein Gespräch versemmelt oder ist einfach müde“, sagt Potreck-Rose. Doch wer sich wohlwollend gegenübersteht, fällt auch in solchen Situationen nicht mehr ins Selbstwertloch, sondern kann ganz wertfrei sehen: Heute läuft es nicht so gut. Und – so kontraintuitiv das auch sein mag – sich genau deshalb gut um sich kümmern, statt sich weiter abzuwerten. Auch die Psychotherapeutin kennt solche Tage: „Wenn ich sehr müde bin, arrangiere ich morgens in der Praxis erst einmal einen schönen Blumenstrauß und bereite mir den besonders guten Tee. Ich stärke mich selbst, bevor ich mich in die Flut des Lebens stürze.“ Das bringt sie auch ihren Klienten bei.
Viele Studien bestätigen, dass Selbstmitgefühl einer der stärksten Schutzmäntel gegen zerstörerische Selbstzweifel ist. So wies Sarah L. Marshall von der University of Wollongong in Australien in einer einjährigen Längsschnittstudie mit knapp 2500 Jugendlichen nach, dass die Jugendlichen, die zwar ein niedriges Selbstwertgefühl, aber zugleich ein ausgeprägtes Selbstmitgefühl hatten – also sich für ihre Selbstzweifel nicht schämten oder sich dafür hassten, sondern sie als menschlich und normal betrachteten –, seelisch gesünder waren als ihre Mitschüler ohne Mitgefühl für sich selbst.
Hinter den Zweifeln: Ein Mensch, der sich entwickelt
Wer nun meint, dass ein Leben ohne Selbstzweifel ein Leben sei, in dem man reibungslos funktioniere, der irrt. Die Psychologin Marion Lemper-Pychlau hat viele Klienten, die genau in dem Moment, in dem sie ihre Selbstzweifel hinter sich lassen, bemerken, was in ihrem Leben alles eigentlich nicht mehr passt. „Wer sich selbst nah ist, spürt natürlich auch viel stärker, was ihm wirklich wichtig ist – und wohin er seine Kräfte lenken möchte“, sagt Lemper-Pychlau. „Es reicht nicht, die Selbstzweifel nur so weit zur Seite zu schieben, dass das Ego – also das Leistungs-Ich – endlich ungestört funktioniert.“ Für sie gehört zu einem guten Leben, dass das Selbst seine Stärken und Schwächen akzeptiert. „Wer sich dieser Entwicklung widmet, entwickelt eine ganz eigene Sicht der Welt, kann hinter Entscheidungen stehen, auch wenn sie unkonventionell sind“, sagt Lemper-Pychlau. „Er kann wirklich Verantwortung für sich und auch für das Umfeld übernehmen, in dem er agiert.“
So erging es auch Alina. Nicht nur laufe es im Studium jetzt besser: Bei der Arbeit an den Selbstzweifeln wurde ihr bewusst, dass sie auch ihr Umfeld ganz schön strapaziert hatte. Weil sie keine Entscheidungen treffen wollte, weil sie nicht sagte, was sie wirklich dachte, weil sie auf Kritik extrem empfindlich reagierte. „Diese Erkenntnis war neben dem besseren Lebensgefühl die größte Veränderung für mich“, erzählt die 23-Jährige. Jetzt hingegen habe sie mehr und mehr das Gefühl, wirklich in Kontakt mit den anderen zu sein. Und damit dazuzugehören.
Selbstzweifel besänftigen
Ein gutes Selbstwertgefühl und ein Maß an Selbstzweifeln, das Entwicklung nicht entmutigt, sondern anstößt, kann man üben: mithilfe von Achtsamkeit und einer guten Balance des Dreierteams aus wohlwollendem Begleiter, Kritiker und Faulpelz
1 Innehalten
Wer starke Selbstzweifel hat, ist sich oft gar nicht wertvoll genug, um sich wirklich mit sich selbst zu beschäftigen“, erklärt Psychotherapeutin Friederike Potreck-Rose. Die Selbstzweifel haben die Betroffenen zwar jahrzehntelang zu vielen verschiedenen Handlungen veranlasst, aber der wertfreie Blick auf die ganz objektiven Eigenheiten, Fähigkeiten oder Bedürfnisse war völlig versperrt. „Diese Menschen müssen erst einmal lernen, es mit sich auszuhalten, so wie sie sind.“ Wer das lernt, kommt aus dem Druck heraus, immer auf ein bestimmtes Ziel hinarbeiten zu müssen. Wenn wir in uns ruhen, können wir mit einer gewissen Gelassenheit entscheiden, ob wir uns in einem bestimmten Bereich weiterentwickeln möchten oder nicht. – Das hilft: Achtsamkeit, sie gilt als Schlüssel für mehr Selbstmitgefühl. Üben kann man Achtsamkeit, wenn man sich fünf Minuten lang ganz auf die Körperwahrnehmung konzentriert – egal ob man dabei sitzt, liegt oder geht.
2 Wohlwollen in uns selbst kultivieren
Das hilft: Wählen Sie in Ihrer Fantasie einen wohlwollenden Begleiter oder eine wohlwollende Begleiterin. Ein kleines Stofftier kann ein stärkender Anker sein. Immer wenn Sie bei einer Aufgabe wieder Selbstzweifel plagen, stellen Sie sich vor, dass der wohlwollende Begleiter Sie ermutigt. Ihr wohlwollender Begleiter kann Ihnen zusätzlich jeden Abend fünf Minuten lang erzählen, was Sie am Tag alles gut gemacht haben, worüber Sie sich gefreut haben und dankbar sind. Auch regelmäßige Tagebucheinträge, in denen man sich lobt und explizit auf die Dinge achtet, die gut geklappt haben, können helfen.
3 Den inneren Kritiker mäßigen
Welche abwertenden Sätze sagen Sie sich besonders häufig, wenn Selbstzweifel Sie plagen oder Sie innerlich antreiben? Achten Sie einige Tage auf den konkreten Wortlaut. – Das hilft: Entwickeln Sie nun Sätze, die Ihre wohlwollende Begleitung auf so einen Angriff erwidern würde. Setzen Sie diese Sätze der nächsten Kritik entgegen. Dadurch stärken Sie Ihre innere Distanz zu den destruktiven Selbstzweifeln, machen sich selbst immer wieder klar, dass sie keine reale Basis haben, und üben ein neues Denken ein. Mit der Zeit schlägt sich das auch im Fühlen und Verhalten nieder.
4 Dem Faulpelz Platz einräumen
Wenn man müde und erschöpft ist, werden Selbstzweifel besonders laut. Zudem fängt man an, sich Pausen zu „stehlen“, indem man sich ablenkt und etwa die Wohnung putzt, statt sich Erholung zu gönnen. Das verstärkt das Gefühl, zu wenig zu leisten, und damit die Selbstzweifel. – Das hilft: Machen Sie sich eine Liste Ihrer Lieblingsbeschäftigungen. Richten Sie sich feste Faulpelzzeiten ein.
Carola Kleinschmidt
Quelle: Friederike Potreck-Rose: Von der Freude, den Selbstwert zu stärken. Klett-Cotta, Stuttgart 2018
„Sie fürchten ständig, als Hochstapler entlarvt zu werden“
Manche Menschen sind überzeugt, dass sie ihre Erfolge nicht verdient haben. Psychologin Sonja Rohrmann über das sogenannte impostor syndrome
Frau Rohrmann, was unterscheidet normale Selbstzweifel und Hochstaplergefühle?
Gewisse Selbstzweifel hat fast jeder, was aber nicht unbedingt mit Leidensdruck einhergeht und darüber hinaus manchmal auch angemessen ist. Menschen mit Impostor-Persönlichkeit hingegen erbringen objektiv hervorragende Leistungen, sind aber subjektiv davon überzeugt, ihre Erfolge nicht verdient zu haben. Sie führen gute Ergebnisse nicht auf ihre Fähigkeiten zurück, sondern auf externale, also äußere Faktoren wie Glück, Zufall oder gutes Networking. Nicht einmal akademische Grade oder Auszeichnungen bringen sie von dieser Ansicht ab. Sie leiden unter ihrem Erfolg und fürchten ständig, als Hochstapler entlarvt zu werden.
Kein Erfolg durchbricht die falsche Selbstsicht?
Im Gegenteil. Jede leistungsbezogene Aufgabe schürt erneut die Selbstzweifel und die Angst vor einer Demaskierung. Dabei bezieht sich das Impostor-Gefühl meist ausschließlich auf den beruflichen Bereich. Also den Teil der Lebenswelt, der auch gesellschaftlich am stärksten mit dem Leistungsideal verknüpft ist. Damit befinden sie sich in einem Teufelskreis überzogener Leistungsansprüche und Versagensängste.
Warum machen Betroffene dann weiter?
Die Leistungsorientierung gehört zu ihrem Selbstbild. Die Angst treibt sie an. Sie sind ja wirklich kompetent und perfektionistisch. Deshalb kommen sie immer weiter, werden befördert. Doch die Freude darüber hält nur kurz an, wenn sie eine Aufgabe erfolgreich erledigt haben. Dann greift wieder ihr Attributionsfehler, und sie ordnen die Gründe für ihren Erfolg falsch ein. Sie denken: Alle haben sich geirrt. Bestimmt werden sie mich diesmal durchschauen und meine Unfähigkeit aufdecken oder in Zukunft noch höhere Erwartungen an mich stellen, die ich nicht erfüllen kann. Um diese Angst abzuwehren, arbeiten sie noch härter.
Das klingt nach einer tristen Karriere.
Tatsächlich. Der hohe Anspruch an sich selbst, der stets mit Angst verbunden ist, führt zu charakteristischen Arbeitsstilen. Das ist einerseits Perfektionismus – also übertriebener Arbeitsaufwand – andererseits Prokrastination – also anfänglich langes Hinausschieben bis zur Grenze des noch Bewältigbaren. Beides dient dazu, den Selbstwert zu schützen, indem Misserfolg durch enormen Fleiß und Zeitaufwand vermieden [Perfektionismus] beziehungsweise durch Zeitmangel entschuldbar wird [Prokrastination]. Infolge dieser Arbeitsstile treten häufig Erschöpfung und Burnout auf. Oftmals leiden auch die Familien: Menschen mit Hochstapler-Selbstkonzept neigen dazu, fast ihre gesamte Zeit in die Arbeit zu investieren. Außerdem bleiben sie in der Regel unter ihren Möglichkeiten – auch wenn sie objektiv gute Positionen bekleiden. Sie könnten mit ihren Fähigkeiten häufig einfach viel mehr erreichen. Sie studieren zum Beispiel eher etwas, das ihnen sehr leichtfällt, statt ihr Wunschstudium, das fordernder wäre. Oder sie schlagen Aufstiegsangebote ab und wechseln gar den Job, wenn sie in einer Position einiges aufgebaut haben und dadurch die irrationale Angst, dass auffliegt, dass sie Blender seien, auf dieser Position zu groß wird.
Gibt es Branchen, die es besonders trifft?
Unabhängig vom Beruf kennt etwa die Hälfte aller erfolgreichen Personen Impostor-Gefühle. Besonders betroffen sind Menschen mit höherem Bildungsniveau, qualifizierten Abschlüssen und insbesondere Wissenschaftler.
Wie sind Menschen mit Hochstapler-Selbstkonzept als Führungskraft?
Sie verlangen von sich und anderen viel, lassen sich aber von Selbstzweifeln ihrer Mitarbeiter nicht im Vertrauen auf deren Kompetenz beirren. In unserer Studie konnten wir zeigen, dass Betroffene andere Leute mit Impostor-Selbstkonzept offensichtlich erkennen. Sie übertragen ihnen, weil sie ihnen vertrauen, gern viele – auch anspruchsvolle – Aufgaben, belasten sie dadurch aber auch stärker.
Sie sprechen nicht vom Hochstaplersyndrom, sondern vom Hochstapler-Selbstkonzept. Warum?
Der Begriff Syndrom weckt die Assoziation mit einer psychischen Störung. Das Hochstapler-Selbstkonzept ist jedoch keine Krankheit, sondern vielmehr ein Persönlichkeitsmerkmal. Eine Störung liegt dann vor, wenn erheblicher Leidensdruck entsteht und es zu starken Beeinträchtigungen im Alltag kommt – etwa Schlafstörungen, Ängsten, Burnout oder Depressionen. Dann ist eine Psychotherapie ratsam. Leuten, die nicht so stark betroffen sind, genügen Selbsthilfemaßnahmen, Coaching oder Supervision. Ziel ist, eingefahrene und dysfunktionale Denk- und Verhaltensmuster zu korrigieren und zu lernen, sich selbst und seine Fähigkeiten realistisch und wohlwollend zu sehen und sich von den Bewertungen anderer unabhängig zu machen.
Wie entsteht das Impostor-Selbstkonzept?
Die Entstehungsbedingungen sind komplex und multifaktoriell, eine Kombination aus Anlage und Umwelt. Die emotionale Labilität bringen die Menschen bereits mit auf die Welt. Ein Elternhaus, in dem eine ausgeprägte Leistungs- und Wettbewerbsorientierung herrscht, kann dann den Grundstein für die Überzeugung legen, dass ich nur etwas wert bin, wenn ich viel leiste. Eine weitere Gruppe von Menschen, die häufig ein Impostor-Selbstkonzept entwickelt, sind Leute aus einem nichtakademischen Elternhaus, die anfangen zu studieren oder sogar eine Unikarriere einschlagen. Der Grund: Sie werden das Gefühl nicht los, dass sie sich in einem unpassenden Feld bewegen.Manchmal entwickeln auch Studierende, die von ihren Eltern, Lehrkräften oder auch Mitschülern stets übermäßig gelobt wurden, Impostor-Gefühle, wenn sie an der Uni beispielsweise feststellen, dass viele Mitstudierende genauso gut oder besser sind.
Interview: Carola Kleinschmidt