Eines meiner Lieblingswörter ist „Unannehmlichkeit“. Obwohl es ja wortwörtlich etwas meint, das zu groß ist, um es einfach an- oder hinnehmen zu können, wird es heute vor allem als Bezeichnung für Kinkerlitzchen benutzt: Eine Unannehmlichkeit hat zum Beispiel eine Hochadlige, wenn sie damit klarkommen muss, dass man ihr zum Frühstück die falsche Konfitüre kredenzt hat.
Wenn die Deutsche Bahn Verspätung hat, entschuldigt sie sich bei den Reisenden stets standardmäßig für „die entstandenen Unannehmlichkeiten“…
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sie sich bei den Reisenden stets standardmäßig für „die entstandenen Unannehmlichkeiten“ und suggeriert damit, dass sie statt Schwierigkeiten bloß Geringfügigkeiten hat entstehen lassen. Ich fahre derzeit oft mit der Bahn, und meine standardmäßige Unannehmlichkeit ist, dass ich es bei Bahnverspätungen vor Veranstaltungen nicht mehr ins Hotel schaffe und mich auf dem Bahnhofsklo umziehe. Mittlerweile habe ich Übung darin: Ich weiß, wie ich den Koffer in der Kabine positionieren muss, ohne dass beim Öffnen das Klo im Weg ist, ich kann, auf Strümpfen im Koffer stehend, mittlerweile sogar recht würdevoll Hosen wechseln, und ich habe gelernt, dass man beim Umziehen auf Bahnhofstoiletten konsequent und von Anfang an durch den Mund atmen muss.
In der Kabine nebenan pinkelt eine Steuerberaterin
Heute ist es etwas anders. Heute ist einer der Tage, die von früh bis spät an einem herumnörgeln. Einer der Tage, in deren Augen man alles Mögliche nicht schnell und nicht gut genug macht – und das geheime Wissen, dass es gar nicht der Tag ist, der herumnörgelt, sondern man das ganze Genöle hauptsächlich selbst fabriziert, macht den Tag nicht ansehnlicher und die Bahnverspätung natürlich auch nicht.
Mein Koffer ist sehr groß und die Toilettenkabine dementsprechend kleiner als sonst. In der Kabine links von mir sitzt offenbar eine Steuerberaterin auf der Toilette; eine Frau jedenfalls, die mit lauter Stimme jemandem telefonisch eine Umsatzsteuervoranmeldung nebst Mahngebühr erläutert. „Umsatzsteuervoranmeldung“ ist keins meiner Lieblingswörter, „Mahngebühr“ erst recht nicht. „Mahngebühr“ ist eine Art Schlüsselreizwort, das – besonders an Tagen wie diesem – bei mir sofort ein Gefühl von Versäumnis und Lebensuntüchtigkeit auslöst. Ich fühle mich bei dem Wort „Mahngebühr“ immer gemeint, auch wenn es sich auf einer anderen Toilette befindet.
Die mutmaßliche Steuerberaterin hat von Berufs wegen keine Probleme mit der Mahngebühr. Sie kann sogar Wasser lassen, während sie darüber spricht, sie pinkelt mitten in das Wort „Mahngebühr“ hinein.
Während sie das tut, finde ich im Koffer meine Veranstaltungsbluse nicht, und als ich sie schließlich habe, fällt sie vor lauter Hektik auf die Klobrille, und bei dem Versuch, sie vor dem Hineingleiten in die Toilette zu bewahren, poltere ich gegen die Kabinentrennwand.
Die Steuerberaterin fragt: „Alles in Ordnung da drüben?“ „Ja“, antworte ich, „ich bin nur gerade etwas hektisch“. „In der Ruhe liegt die Kraft“, sagt die Steuerberaterin, sie sagt das zu mir, freundlicherweise, aber bestimmt hat auch der Mensch mit der Umsatzsteuervoranmeldungsmahnung etwas davon.
Ich setzte mich auf den Klodeckel und knöpfe meine Bluse zu. In der Ruhe liegt die Kraft, da liegt sie momentan nicht besonders günstig, denn die Ruhe habe ich offenbar zu Hause gelassen, deshalb habe ich auf die darin befindliche Kraft keinen Zugriff.
Dem unsinnigen Tag eine gute Geschichte abringen
Bei Hektik fühlt man sich gleichermaßen getrieben und vernagelt. Ich atme durch den Mund und sehe vermutlich aus wie ein Karpfen. Mein Nachbar Herr Pohl fällt mir ein, der vor einiger Zeit unter einer sozialen Phobie litt und deswegen das Haus nicht mehr verlassen konnte. Wen auf einem Bahnhofsklo, eingekeilt von einem Koffer und einer kapitalen Unrast, keine soziale Phobie anweht, dem ist nicht mehr zu helfen.
Als ich fertig umgezogen bin, steht die Steuerberaterin schon vor einem der Waschbecken und frischt ihr Gesicht auf. Ich erkenne sie an ihrer Stimme, denn sie redet immer noch mit dem umsatzsteuerlich angemahnten Jemand. Die Steuerberaterin ist gewieft im Schminken und bestens ausgerüstet, allein ihre Lippen bepinselt und besalbt sie gekonnt mit drei verschiedenen Produkten. Mein Gesicht hat die Farbe von jemandem, der den ganzen Sommer in einer Bahnhofstoilettenkabine verbracht hat – und jetzt reicht es mir. Ich beschließe, diesem unsinnigen Tag doch noch eine gute Geschichte abzuringen. Deshalb werde ich die Steuerberaterin jetzt fragen, wie man gekonnt Rouge aufträgt. Ich stelle mir vor, wie sie mir das geduldig erklärt, wie sie ihrem Schminkbeutel Sätze über Ruhe und Kraft entnimmt und andere edle Produkte, wie sie das alles auf mein Gesicht tut, bis es rosig aussieht und so, als habe es nie irgendwelche Mahnungen gegeben.
Ich stelle mir vor, wie sie mir, nachdem sie mir das Rouge erklärt hat, auch das Steuerwesen virtuos auseinandersetzt, wie sie sagt: „Übrigens, Mahnungen sind auch nur Menschen“, und über all dem vergessen wir Zeit und Gestank, und später kann ich zu Hause erzählen: „Stellt euch vor, heute hat mich auf dem Bahnhofsklo eine Steuerberaterin geschminkt.“
Die Steuerberaterin hat ihr Telefonat beendet. „Entschuldigen Sie“, sage ich, „könnten Sie mir vielleicht kurz erklären, wie man Rouge aufträgt?“ Die Steuerberaterin dreht sich zu mir um und schaut mich an, ihr Blick ist ausdruckslos, vielleicht, denke ich, störe ich sie, vielleicht telefoniert sie doch noch, bei Leuten mit Knopf im Ohr weiß man ja nie, ob sie gerade jemand Unsichtbarem zuhören.
„Na, auf die Wangen halt“, sagt die Steuerberaterin achselzuckend und geht davon. Ich schaue ihr nach, dann wieder in den Spiegel, ich sage: „Entschuldigen Sie bitte die Unannehmlichkeiten.“
Mariana Leky ist mit ihrem Roman Was man von hier aus sehen kann seit vielen Wochen in den Bestsellerlisten. In Psychologie Heute schreibt sie jeden Monat darüber, was die Menschen, die sie umgeben, bewegt. Mit psychologischen Themen kennt sich Leky aus: In ihrer Familie sind zehn Psychoanalytiker