Wir stecken in einem Dilemma fest und haben uns so sehr daran gewöhnt, dass wir keinen Ausweg sehen. Wir sehnen uns nach freien Zeiten, in denen wir zu uns kommen und in Seelenruhe Dinge tun, die uns Freude machen, oder in denen wir einfach nur dasitzen und in den Himmel schauen. Und gleichzeitig tun wir konsequent alles, um uns genau daran zu hindern: Unsere Terminkalender sind voll, die To-do-Listen werden länger.
Ergibt sich spontan eine Zeitlücke, quetschen wir noch einen Termin oder eine Besorgung…
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zusätzlich hinein. Der Satz „Ich muss noch schnell…“ läuft als Endlosschleife im Kopf. Und ebenso oft taucht der Satz auf: „Ich würde ja so gerne mal in Ruhe, aber…“ Der Pflichterfüllungsmodus, in dem wir gefangen sind und der uns alternativlos erscheint, versperrt den Blick auf die zahlreichen Türen im Alltag, hinter denen Erfahrungen von Muße warten. Wir sehen sie nicht und verschieben das Projekt auf den nächsten Urlaub.
Meist machen wir äußere Umstände für unseren Mangel verantwortlich: den fordernden Chef, die Menge der Aufgaben auf dem Schreibtisch, die Kinder, die dauernd etwas wollen, die unerledigte Steuererklärung, die Nachrichtenanzeige auf dem Smartphone. Und tatsächlich leben wir in herausfordernden Zeiten von Arbeits- und Informationsverdichtung und Beschleunigung.
Die Angst vor uns selbst
Doch das eigentliche Hindernis liegt in uns selbst. Unsere innere Unruhe hält uns davon ab, gelegentlich innezuhalten und im gegenwärtigen Moment wirklich anzukommen. Und so ist unser Verhältnis zur Muße ambivalent. Sie ist wie eine Geliebte, deren Gegenwart herbeigesehnt wird, doch wenn sie tatsächlich vor der Tür steht, wird es uns schnell zu nah und wir schicken sie weg und verscheuchen sie mit Aktionismus. Denn Muße ist auch herausfordernd. In freien, nicht verplanten Momenten, in denen wir einmal keine Agenda haben, begegnen wir uns selbst mit allem, was in uns ist. Das kann uns Angst machen und so verhindern wir unbewusst, wonach wir uns sehnen.
Doch was ist es eigentlich genau, was uns lockt und gleichzeitig Angst macht? Muße, dieses altertümliche Wort, das allmählich aus dem Sprachgebrauch verschwindet, klingt zunächst verheißungsvoll. Das lang gezogene „u“ weckt Assoziationen von Entschleunigung, gedehnter Zeit und genussvollen Momenten. Die ursprüngliche Bedeutung dieses Wortes (Althochdeutsch muoza) war „Gelegenheit“, „Möglichkeit“.
Ein Privileg der Oberschicht
Schon in der Antike spielte der Begriff Muße, Lateinisch otium, eine herausragende Rolle und wurde mit Ruhe, Studium, Verzögerung und Langsamkeit in Verbindung gebracht. Für Aristoteles gab es Arbeit, Erholung von der Arbeit und Muße: „glückliches, selbsterfülltes Sein“. Sokrates sah in der Muße „die Schwester der Freiheit“. Auch Seneca empfahl in seiner Schrift De otio ein mußevolles Leben in Gleichmäßigkeit. Epikur sprach von der „Windstille der Seele“ und riet seinen Schülern, die Gegenwart voll auszukosten, statt immer neuen Erlebnissen in der Zukunft entgegenzujagen.
Allerdings war Muße ein Privileg der Oberschicht. Der Lebenskünstler, der sich in Muße tiefgründigen philosophischen Fragen widmete, war der Gegenentwurf zum fremdbestimmten Sklaven. Heute sind wir scheinbar selbstbestimmt, haben deutlich mehr Freizeit als vorherige Generationen, leiden jedoch unter der Tyrannei der Effizienz, die uns antreibt, mit allem schnell fertig zu werden, um uns dann endlich ausruhen zu können.
Doch da wir nie fertig werden, wird daraus nichts. „In der Multioptionsgesellschaft müssen wir uns dauernd entscheiden: fotografieren, klettern, Rad fahren, meditieren, Fitnessstudio, und schon sind wir wieder im Stress und weit entfernt von entspanntem Sein oder Tun, weil wir die Balance zwischen Aktivität und Ruhe verlieren“, sagt Stefan Schmidt, Diplompsychologe und Professor am Universitätsklinikum Freiburg in der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie.
Der Herrschaft der Zeit entzogen
Hilfe, ich kann mich gar nicht entscheiden, ist alles so schön bunt hier! Was zunächst nach einem Luxusproblem klingt, hat drastische Folgen für die seelische Gesundheit. Die Zahl der psychischen Erkrankungen hat ein beängstigendes Ausmaß erreicht. Ein Mangel an Muße könnte eine der Ursachen dafür sein. Stefan Schmidt forscht in dem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten interdisziplinären Sonderforschungsbereich „Muße. Konzepte, Räume, Figuren“, der seit 2013 läuft und 2017 um weitere vier Jahre verlängert wurde.
Die Beobachtung, dass durch die soziale Beschleunigung eine wichtige Seinsqualität unter die Räder kommt, die Voraussetzung für ein erfülltes Leben ist, brachte die Forscher dazu, Muße auch als eine wichtige Bedingung für seelische Gesundheit und Glück zu betrachten und von allen Seiten zu beleuchten. Durch die Erfahrung von Zeitverdichtung, so der Ansatz der Forscher, gewinne Muße eine neue gesellschaftliche Bedeutung.
Am Anfang stand die Frage nach einer Definition. Kein leichtes Unterfangen, denn die Psychologie hat den Begriff Muße bisher nicht definiert. Muße ist eng verwandt mit Qualitäten wie Achtsamkeit, Gegenwärtigkeit, Akzeptanz, Kontemplation, Genuss und Flow. In Muße findet sich etwas von all diesen Qualitäten und doch scheint Muße noch eine andere, ganz eigene Kategorie zu sein, die sich nur schwer in ein Schema pressen lässt. Nach langem Ringen orientieren sich Schmidt und sein Team an zwei Beschreibungen.
Vom Nichtstun und Tun
Die erste besagt: „In der Muße sind wir der Herrschaft der Zeit entzogen.“ Psychologisch ausgedrückt: Wir sind gegenwartsorientiert und erleben, dass die Zeit sich dehnt, oder haben das Gefühl, aus der Zeit herauszufallen. Eine zweite Beschreibung stammt vom Philosophen Günter Figal: „Muße ist erfülltes Tun in Freiheit und Gelassenheit.“ Dieser Ansatz ist interessant, denn gewöhnlich assoziieren wir mit Muße Nichtstun, in der Hängematte baumeln, auf dem Sofa liegen, am Pool sitzen und einen Cocktail trinken. Doch genau diese Spaltung in Nichtstun und Tun, in Ruhe und Hektik, Arbeit und Freizeit bringt uns in Schwierigkeiten und lässt uns am Ende rastlos bei allem sein, weil wir in der Ruhe nicht von der Arbeit abschalten können und uns beim Arbeiten die Ruhe fehlt.
Die Kunst, so Stefan Schmidt, besteht darin, darüber hinauszugehen. „Denken wir in Entweder-oder-Kategorien, bleiben wir immer gefangen. Wenn wir von Entschleunigung sprechen, denken wir automatisch Beschleunigung mit. Sprechen wir von Freizeit, schwingt immer Arbeit mit. Mit Muße begeben wir uns in einen Raum jenseits dieser Unterteilung.
Wir sprechen deshalb vom transgressiven Charakter der Muße.“ Muße, glaubt Schmidt, können wir nicht willentlich herbeiführen und einfach einschalten, aber wir können Bedingungen schaffen, die Mußeerfahrungen ermöglichen oder fördern. Löcher im Kalender lassen, täglich Zeit für sich selbst reservieren, in der nichts Bestimmtes passieren muss. Uns für eine Weile freimachen von Plänen, Zielen und Zwängen, aussteigen aus der Nützlichkeitslogik, uns treiben lassen oder etwas tun, was keinen direkten Nutzen hat.
Museen, Parks, Gärten, Konzertsäle und Kinosessel sind Orte, an denen man wunderbar aus der Zeit fallen kann. Aufhören zu hetzen, bewusst den Schritt verlangsamen, eine Arbeit in Ruhe zu Ende bringen. Erfülltes Tun sei während der Arbeit genauso möglich wie in der Freizeit. „Es geht um einen Erlebenszustand.“
Muße für Ärzte und Pfleger im Krankenhaus?
Die Literaturwissenschaftlerin Gisela Dischner, die sich seit mehr als dreißig Jahren mit der Theorie des Müßiggangs beschäftigt, versteht Muße als „freie, bewusste Tätigkeit“. „Muße ist heitere spielerische Gelassenheit und vollzieht sich in einem Spannungsfeld zwischen Konzentration und Entspannung.“ Heiter, gelassen, spielerisch. An diese Begriffe denkt vermutlich niemand, wenn es um die Atmosphäre in einem Krankenhaus geht. Genau deshalb hat sich Stefan Schmidt im Rahmen seines DFG-Projekts für die Erforschung von Muße im Krankenhaus entschieden. Gemeinsam mit seiner Kollegin Anja Göritz will er herausfinden, ob Mußeerfahrungen in einem mußefeindlichen Umfeld möglich sind.
„Was brauchen Menschen neben einer guten medizinischen Behandlung, um gesund zu werden?“, fragten sich die Forscher. Die Antwort war schnell gefunden: dass sich jemand Zeit nimmt und ihnen mitfühlend begegnet. Doch in den Krankenhäusern ist Zeit Mangelware. Ärzte und Pfleger hetzen von einem Patienten zum nächsten und haben kaum Zeit, jemandem in die Augen zu schauen, zuzuhören oder tröstend eine Hand zu halten. Durch den Zeitdruck und den dadurch entstehenden Stress geht ein wesentlicher Faktor von Heilung verloren: das Mitgefühl.
Wie können wir in einem Umfeld, in dem die Zeit knapp ist und der Stress hoch, innere Freiräume finden, die es ermöglichen, offen und ruhig mit Patienten zu sprechen? Aus dieser Frage entwickelten Schmidt und Göritz ein Forschungsprojekt mit Assistenzärzten. Diese Berufsgruppe hat im Krankenhaus nachweislich den größten Stress, ist am meisten burnoutgefährdet und hat absurderweise besonders ungesunde Bewältigungsstrategien wie Rauchen, hohen Alkohol- und Beruhigungsmittelkonsum.
Transfer in den Alltag
Die Probanden nehmen an einem achtwöchigen Achtsamkeitskurs teil. Das Kernprogramm orientiert sich an einem Kurs zu achtsamkeitsbasierter Stressreduktion (mindfulness-based stress reduction). Die Teilnehmer lernen in jeweils zweistündigen Gruppentreffen Sitzmeditation, achtsame Körperwahrnehmung, Gehmeditation, Yogahaltungen und kleine Achtsamkeitsübungen für den Alltag. Ergänzt wird der Kurs durch Themen, die Assistenzärzte besonders beschäftigen – Zeitnot, die Angst, Fehler zu machen, Konfrontation mit Leiden und Sterben, die Fragen: Warum bin ich Arzt geworden? Was war meine ursprüngliche Motivation?
„Wir legen großen Wert auf den Transfer in den Klinikalltag“, betont Stefan Schmidt. Denn was nutzt ein schöner Abendkurs, in dem man entspannt üben kann, weil kein Piepser klingelt, wenn am nächsten Morgen auf der Station die Hölle los ist? Die Probanden werden angeregt, die kleinen Pausen, die zum Arbeitstag gehören, bewusst zu nutzen, um innezuhalten.
Zum Beispiel beim Händedesinfizieren. „In diesen 30 Sekunden kann ich darüber nachdenken, was ich als Nächstes machen muss. Ich kann aber auch die Flüssigkeit auf der Haut spüren, das Händereiben spüren, wahrnehmen, wie ich im Augenblick stehe.“ Auch der Gang über den Krankenhausflur kann mit den Qualitäten der Muße verbunden werden. „Wenn ich merke, dass ich renne, kann ich kurz innehalten und mich fragen: Muss ich rennen? Kann ich auch langsam und bewusst gehen? Und wenn ich mich wirklich beeilen muss: Wie kann ich körperlich präsent sein in meiner Eile und innerlich verlangsamen?“
Diese Anregungen sind nicht nur für den Klinikalltag interessant, sie lassen sich in jedem Büro umsetzen. Das Telefon dreimal klingeln lassen und den Körper spüren, bevor man abhebt. Dreimal tief durchatmen, bevor man das Büro des Kollegen oder des Kunden betritt. Morgens auf dem Weg ins Büro beim Treppensteigen jeden Schritt wahrnehmen und den Atem spüren. Während der Computer hochfährt, in sich hineinhorchen, welche Gefühle gerade da sind. Stefan Schmidt spricht von „Musterunterbrechungen“, die klarmachen, dass etwas Neues beginnt. Diese kleinen Unterbrechungen bieten auch die Chance, Zeit anders zu erleben, sie innerlich zu verlangsamen, wenn sie äußerlich zu rasen scheint.
Die Selbstoptimierungsfalle
„In der Muße geht es darum, an einen Ort zu gelangen, an dem das Dasein spürbar wird“, sagt die Philosophin Natalie Knapp. Doch was ist der Schlüssel, um an diesen Ort zu gelangen? Ein Schlüssel ist, die Dinge um ihrer selbst willen zu tun und sich ihnen ganz hinzugeben. Die Tätigkeit selbst zum Zweck machen und sich von der Idee befreien, schnell ein Ziel erreichen zu müssen. Die Teetasse spülen, um die Teetasse zu spülen, und es genießen.
Die Hand des Patienten halten und den Kontakt spüren, ohne daran zu denken, was man in der Zeit alles stattdessen tun könnte. Insgesamt nehmen mehr als 150 Assistenzärzte an dem Projekt teil. Mithilfe von Fragebögen, qualitativen Interviews und Tests untersuchen die Forscher, ob und wie sich Arbeits- und Lebenszufriedenheit, Sinnerleben und Selbstfürsorge durch das Training verändern. Und sie analysieren Haarproben der Probanden, denn dort lagert sich das Stresshormon Kortisol ab.
Ziel des Trainings ist jedoch nicht Stressbewältigung, sondern die Entwicklung von inneren Freiräumen. „Wir sprechen bewusst von Muße, um nicht in die Selbstoptimierungsfalle zu tappen. Wenn Stressbewältigung das Ziel ist, entsteht der Eindruck, man könne durch Achtsamkeit noch schneller und effektiver arbeiten. Doch uns geht es um eine ganz andere Qualität“, sagt Stefan Schmidt: „Stell dir vor, du liegst sonntags auf der Wiese und lässt dir die Sonne ins Gesicht scheinen und alles ist gut. Und genau in dieser entspannten Haltung begegnest du deinen Patienten. Das ist der Zielhorizont. Der ist im Krankenhaus nur in Bruchteilen zu erreichen, aber das ist das Bild, an dem du dich innerlich orientierst.“
Wer noch Zweifel am Sinn der Muße hegt, bekommt Argumentationshilfe aus der Neurowissenschaft. Denn auch unser Gehirn, das scheinbar rund um die Uhr auf Hochtouren laufen kann, braucht Freiräume. In seinem Buch Öfter mal auf Autopilot. Warum Nichtstun so wichtig ist plädiert der Kognitionswissenschaftler Andrew Smart dafür, dem Gehirn möglichst oft Ruhepausen zu gönnen. „Auch wenn unser Geist für intensive Aktivitäten außerordentlich gut entwickelt ist, muss unser Gehirn, um normal funktionieren zu können, auch müßig sein, und das sogar sehr häufig“ schreibt Smart. Chronische Geschäftigkeit sei schlecht für das Gehirn und könne auf lange Sicht der Gesundheit schaden (siehe Nichtstun. Die unverzichtbare Strategie für Vielbeschäftigte in Psychologie Heute 5/2015).
Auf ins „Mußeum“
Doch die Fähigkeit, geistig offline zu gehen, kommt uns zunehmend abhanden, weil die natürlichen Freiräume fehlen. Und wenn sie unverhofft auftauchen, füllen wir sie mit Aktivitäten. Früher war es abends dunkel und man konnte nicht mehr arbeiten. Durch künstliches Licht ist es uns möglich, auch nachts noch zu lesen oder am Computer zu sitzen.
Seit wir rund um die Uhr im Internet shoppen können, gibt es auch keine verkaufsfreien Zeiten mehr. Vor fünfzig Jahren brauchte es keine Entschlossenheit, sonntags zur Ruhe zu kommen. Mangels Angeboten blieb gar nichts anderes, als den Gottesdienst zu besuchen und sich nach dem Sonntagsbraten der Langeweile hinzugeben. Heute gleicht es einem heroischen Akt, sonntags das Smartphone auszuschalten.
Natürlich lässt sich das Rad nicht zurückgedrehen. Es war auch nicht früher alles besser. Doch die veränderten Rahmenbedingungen verlangen neue Strategien, Vita activa und Vita contemplativa im Gleichgewicht zu halten. „Wir müssen eine Kultur schaffen, in der es akzeptiert ist, zum Beispiel dienstagsnachmittags keine Mails zu beantworten, sonntags nicht ans Telefon zu gehen und im Urlaub offline zu sein“, meint Stefan Schmidt.
Orte der Muße
Muße als gesellschaftlich akzeptierter und sogar gewünschter Modus. Das ist seine Vision. Dazu gehört auch, Orte aufzusuchen und zu pflegen, die zur Muße einladen. Museen zum Beispiel. Während dieses Jahres wird das Literaturmuseum Baden-Baden zu einem Museum der Muße und Literatur umgestaltet. Im „Mußeum“ soll veranschaulicht werden, wie Schriftsteller des 19. Jahrhunderts in der Kurstadt Baden-Baden Muße erlebt und künstlerisch gestaltet haben. Die Besucher sollen die Kunst gehend, liegend und sitzend genießen können und so animiert werden, länger zu bleiben, sich mehr Zeit zu nehmen und noch einen Spaziergang zu ausgewählten Orten anzuschließen.
Auch Kirchen, Kapellen und Konzertsäle sind wunderbare Orte der Muße. Doch auch hier stellt sich Muße nicht von selbst ein. Wer hektisch nach der Arbeit ins Konzert eilt, hat oft Kopf und Herz nicht frei, um tief in die Musik einzutauchen und sie wirklich zu genießen. Der Kunstpädagoge und Achtsamkeitsforscher Nico Rönpagel und der damalige Direktor des Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin, Adrian Jones, starteten im Oktober 2018 ein spannendes Experiment.
Sie luden an ausgewählten Terminen zu einer meditativen Einstimmung für Interessierte eine Stunde vor Konzertbeginn ein. Solche Initiativen findet Stefan Schmidt inspirierend. „Oft wird Muße zu Unrecht mit Müßiggang und Faulheit assoziiert. Ich wünsche mir, dass wir den Wert der Muße erkennen und ihn schützen.“ Es müsse normal sein, ein Sabbatjahr oder einen Sabbattag in der Woche zu nehmen und sich regelmäßig zurückzuziehen an einen stillen Ort: in ein Museum, eine Kirche, ein Meditationszentrum oder in die Natur.
Literatur
Ulrich Schnabel: Muße. Vom Glück des Nichtstuns. Pantheon, München 2012
Nicole Stern: Das Muße-Prinzip. Wie wir wirklich im Jetzt ankommen. Arkana, München 2016
Silvia Wetzel: Achtsamkeit und Mitgefühl. Mut zur Muße statt Hektik und Burnout, Klett-Cotta, Stuttgart 2019 (4. Auflage)
„Dann ist es Ihnen nicht wichtig genug“
Die Zeit für sich selbst muss man sich nehmen. Wie schaffen wir es, Muße in unseren Alltag einzubauen? Ein Gespräch mit der Meditationslehrerin und Unternehmensberaterin Nicole Stern
Immer wieder nehmen wir uns vor, nicht mehr so durch unser Leben zu hetzen und mit mehr Muße zu leben, aber es gelingt uns nicht. Warum fällt es uns so schwer?
Viele haben unbewusst ein Mußeverbot verinnerlicht und tragen Glaubenssätze wie „Ich darf nicht rasten“, „Ich muss immer in Aktion sein“ mit sich herum, ohne sie jemals zu hinterfragen. Diese Kindheitsmuster sind so stark, dass sie, selbst wenn sie krank werden und der Körper eindeutig Ruhe braucht, noch ein schlechtes Gewissen haben. Für mich war der frühe Krebstod meiner Mutter ein Weckruf, mich intensiv mit dem Thema Muße zu beschäftigen. Vor ihrer Krankheit konnte meine Mutter sich keine Pause gönnen. Doch irgendwann, unterstützt durch eine Freundin, legte sie den inneren Schalter um. Sie saß manchmal einfach im Garten und freute sich über das Grün des Rasens oder sah den herumtollenden Hunden beim Spielen zu. Sie nahm Reitstunden und fing an zu meditieren. Das wäre vorher undenkbar gewesen. So hatte sie in den letzten Monaten noch ein erfülltes Leben. Ich habe mir damals fest vorgenommen, es nicht so weit kommen zu lassen und schon vorher ein mußevolles Leben zu leben.
Der erste Schritt ist also die innere Erlaubnis. Wie gelingt eine andere innere Haltung?
Zunächst ist es hilfreich, die eigene Haltung fragend zu erforschen. Lasse ich mich unbewusst von alten Bewertungen leiten, die ich in der Kindheit gehört habe, wie „Schau nicht in die Luft“, „Lass dich nicht so treiben, sondern tue endlich was“? War Nichtstun in meiner Familie erlaubt oder unerwünscht? Spüre ich subtile Widerstände beim Nichtstun? Meine eigene Suche nach einem gelassenen, mußevollen Leben hat mich zur Meditation geführt. Erst durch eine intensive Meditationspraxis konnte ich innere Ruhe und gelassenes, gelöstes Sein erfahren. Leider gönnen wir uns Ruhe meist nur, wenn es nicht mehr anders geht. Fühlen wir uns gesund und fit, gestehen wir uns nicht zu, mal nichts zu tun und einfach nur zu sein. In meinen Meditationsretreats nehme ich diese Erfahrung als Aufhänger und sage: Ergreife jetzt die Chance zu entschleunigen, gönne dir jetzt, wo du gesund bist, diese Mußezeit.
Muße als Prävention?
Und als ein Erfahrungsraum, in dem wir andere Facetten von uns kennenlernen, die in der Hektik untergehen. Die Herausforderung ist, schon in guten Zeiten Bilanz zu ziehen und sich zu fragen: Habe ich noch unverplante Zeiten in meinem Leben, in meiner Woche, in meinem Tagesablauf? Gibt es jenseits vom Urlaub, der ja auch schon oft verplant ist, Zeiten, in denen ich weder für mich selbst noch für andere eine Leistung erbringen muss? Das bedeutet nicht zwangsläufig, in der Hängematte zu liegen. Dieses verbreitete Sinnbild für Muße greift viel zu kurz. Es geht um erfülltes, gelassenes Sein, auch im Tun. Die Zeitung in Ruhe lesen, das Mittagessen voll auskosten, einen genussvollen Spaziergang machen.
Viele beklagen, dass sie innerlich zu unruhig sind, um freie Zeiten genießen zu können. Der innere Antreiber ist so stark, dass sie nicht mehr wissen, wie das geht, einfach zu sein.
Für mich ist Meditation der beste Weg, dieses Hindernis zu überwinden. Wenn es uns gelingt, täglich eine Weile in Stille zu sitzen, schaffen wir uns auf diese Weise einen Freiraum. Muße bedeutet für mich erfülltes, gelassenes Sein in einem Zustand von innerer Freiheit, das ist auch eine Absicht in der Meditation. Wir beruhigen den Atem, lassen den Körper zur Ruhe kommen, dann kann der Geist folgen und wir können unsere Verhaltensmuster klar sehen. Meditation ist nicht gleichbedeutend mit Muße. In der Meditation kultivieren wir einen Zustand von Präsenz und Wachheit, das ist auch mit Anstrengung verbunden, doch die Anstrengung lässt irgendwann nach, es wird leichter. So kommen wir in einen Zustand, der Muße erst möglich macht.
Viele sagen: Ich habe keine Zeit dafür, das geht in meinem Alltag nicht.
Dann ist es ihnen nicht wichtig genug. Einen täglichen Raum für Stille und nicht verplante Zeit können wir nur schaffen, wenn wir uns fragen: Wie wichtig ist es mir, Raum in meinem Leben zu haben für etwas, was mir am Herzen liegt? Die meisten Menschen, die sich auf eine tiefe Reflexion einlassen, was ihnen wirklich wichtig ist, erkennen, dass sie sich nach Gelassenheit und innerer Ruhe sehnen und danach, Raum und Zeit für sich selbst zu haben. Wenn man diese Reflexion auslässt und den Stellenwert von Meditation und Muße nicht erkennt, wird der Raum dafür immer auf der Strecke bleiben. Wollen wir wirklich ein gelassenes, glückliches Leben führen, braucht diese Priorität einen Anker. Ich muss wissen, wofür ich das tue. Wenn das klar ist, geht es darum, Formen dafür zu finden.
Und was ist mit denen, die nichts mit Meditation anfangen können?
Es gibt noch andere Zugänge. Ein Musikstück hören und in den Klängen schwelgen, im Museum tief in ein Bild eintauchen und Raum und Zeit vergessen, auf einen Gipfel wandern und die grandiose Aussicht genießen. Für viele ist die Natur ein Tor zur Muße, das sich wie von selbst öffnet. Im Wald, an einem See oder auf einer Parkbank finden sie von ganz allein in einen Zustand, in dem die Belastungen des Alltags abfallen. Natürlich kommt es auch hier auf die innere Haltung an. Ich kann mit gesenktem Kopf durch den Wald rennen und über meine Probleme grübeln oder langsam mit offenem Herzen gehen, den Waldboden unter den Füßen spüren und die würzige Luft riechen.
Sie sprechen von innerer und äußerer Muße. Was bedeutet das für Sie?
Die meisten Menschen verbinden Muße mit einem freien Zeitraum, den sie ihrem durchgetakteten Leben abtrotzen. Sie glauben, wenn sie sich einen freien Sonntagnachmittag ohne Pflichtbesuche schaffen, sind sie schon in der Muße. Doch das ist zunächst nur ein äußerer Raum. Die innere Muße ist für mich verbunden mit einer Haltung von Offenheit und Gelassenheit, in der wir an nichts festhalten. Sie kann sich auch einstellen, wenn wir etwas tun. Ich kann meine Wohnung widerstrebend putzen und innerlich schimpfen oder innerlich umschalten und jede Wischbewegung mit Freude und Gelassenheit ausführen, meinen Atem wahrnehmen, spüren, wie ich den Stiel anfasse, und so in einen Flow kommen.
Was ist Ihre größte Herausforderung beim Versuch, ein mußevolles Leben zu leben?
Dass ich mich vom Leben überrollen lasse und es wieder vergesse. Wir brauchen immer wieder eine Erinnerung oder ein Aufmerken: Ich bin gerade wieder dabei, etwas zu schnell oder unbewusst zu tun. Ich schütte den Tee in mich hinein, ohne ihn zu schmecken. Ich sitze im Auto und bin im Geiste schon bei meiner To-do-Liste im Büro und verpasse den Sonnenaufgang. Deshalb ist es wertvoll, immer wieder innezuhalten. Erst dann haben wir die Chance zu merken: Bin ich verrückt, so durch mein Leben zu hetzen? Wofür eigentlich?
Und wie geht das in einem Hochdruckumfeld, wo alles schnell gehen muss und man schräg angeschaut wird, wenn man mal zwei Minuten Löcher in die Luft starrt?
Ich empfehle, genau hinzuschauen und zu prüfen: Würde mir diese neue Aufgabe jetzt schneller gelingen, wenn ich viel Druck hineingebe? Oder bin ich vielleicht sogar effektiver, wenn ich mir in Ruhe einen Kaffee mache, dreimal tief durchatme und mich dann konzentriert an die Aufgabe setze? Die meisten kommen zu dem Schluss, dass die zweite Variante mehr Erfolg verspricht. Wenn wir gewohnheitsmäßig im Modus des Getriebenseins bleiben, haben wir fünf unerledigte Aufgaben auf dem Tisch, sind innerlich zerrissen und werden mit keiner Sache fertig. Gerade in Hochleistungskulturen sind Mußemomente und Minipausen wichtig, damit sich unser System wieder regenerieren kann. PHInterview: Birgit Schönberger
Nicole Stern ist Meditationslehrerin und Führungskraft in einer Unternehmensberatung. Ihr Buch Das Muße-Prinzip. Wie wir wirklich im Jetzt ankommen ist bei Arkana erschienen