Der Ballon und die Walnuss

Therapiestunde: Ein junger Mann verliert beide Elternteile in einem Jahr und überrascht den Therapeuten mit seiner Kreativität.

Die Illustration zeigt einen Mann in einem Heißluftballon in Form einer Walnuss
Ein Symbol, das die Verbundenheit mit den verstorbenen Eltern darstellt. © Michel Streich

Ich traf T. im Rahmen meiner Tätigkeit in einer integrierten Beratungsstelle mit den Themenschwerpunkten Stabilisierung und Trauerbegleitung. T. ist ein junger Mann Anfang zwanzig und seine Eltern sind innerhalb des letzten Jahres im Abstand von einigen Monaten verstorben. Im Rahmen einer psychologischen Diagnostik empfahl ihm eine Kollegin, dass er sich begleiten und unterstützen lassen solle, um seine aktuellen Belastungen und die sich zeigenden Traueraufgaben besser zu bewältigen.

T. ist ein intelligenter…

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Traueraufgaben besser zu bewältigen.

T. ist ein intelligenter Medizinstudent, der früh lernen musste, Verantwortung zu übernehmen. Im Kontakt strahlt er Freundlichkeit und Offenheit aus. Sein Vater erlitt vor fast zehn Jahren einen schweren Schlaganfall und wurde danach über viele Jahre von seiner Mutter gepflegt. Mitten in T.s Pubertät veränderte sich das Leben der Familie so von heute auf morgen und er wuchs im Laufe der Zeit immer mehr in eine verantwortliche Rolle an der Seite seiner Mutter hinein. Sie versuchte die Belastungen mit Alkohol zu kompensieren und zog sich sozial immer mehr zurück. T. war zugleich Teil und Zeuge dieser Entwicklung. Er beschrieb, dass er sich im Laufe der Zeit durch Freunde eine soziale Familie schuf, die ihn trug und ihm dabei half, mit den Entwicklungen zu Hause umzugehen.

Große Herausforderungen

Während der letzten drei Jahre studierte er im Ausland und begleitete die Folgen des Alkoholkonsums der Mutter und die fortschreitende Erkrankung des Vaters aus der räumlichen Distanz. Emotional blieb er als verantwortlicher Teil der Familie weiter verbunden und stark involviert. Seit drei Jahren lebt T. nun in einer festen Partnerschaft und erfährt durch seine Freundin und ihre Familie eine große Stütze und Halt.

Sein Vater verstarb nach langer Krankheit im Sommer letzten Jahres – er hatte das Jahr zuvor in einem Pflegeheim gelebt. Der Zustand von T.s Mutter verschlechterte sich während der letzten eineinhalb Jahre weiter. Auf Drängen des Sohnes hatte sie Anfang des Jahres zugestimmt, sich therapeutisch behandeln zu lassen. Hierzu kam es nicht mehr, weil sie im Frühjahr plötzlich ebenfalls verstarb. T. hatte danach nicht nur die emotionale Seite des Verlusts beider Eltern zu verarbeiten, sondern erbte auch ein volles Haus – und viele zu regelnde finanzielle und organisatorische Aufgaben. Ihm war es unter den gegebenen Umständen vorerst nicht möglich, sein Medizinstudium im Ausland fortzuführen. Die praktischen und psychischen Herausforderungen in seiner veränderten Lebenssituation in Deutschland forderten seine ganze Kraft.

Blick in die Zukunft

Bei Trauer geht es um eine Pendelbewegung zwischen zwei Polen: Auf der einen Seite muss der Trauernde den Verlust und Schmerz wahrnehmen und sich mit dem Tod und dem Verstorbenen beschäftigen. Auf der anderen Seite stehen das Verabschieden, die Verbindung mit dem Leben und der Blick in die Zukunft. Die wichtigsten Traueraufgaben, die sich in der Regel bei jedem Verlust einstellen, sind: den Verlust zu realisieren, die Vielfalt der damit verbundenen Gefühle zu erleben, sich an eine Welt ohne die verstorbene Person anzupassen und eine dauerhafte Beziehung zum Verstorbenen aufzubauen – im Aufbruch in ein neues Leben.

In der Trauerbegleitung geht es darum, den natürlichen Weg der Trauer wo nötig zu unterstützen, Blockaden zu lösen und manch­mal auftretendes einseitiges „Festhängen“ aufzuweichen und wieder in Bewegung zu bringen. Bei T. hatte ich den Eindruck gewonnen, dass er sich sehr stark auf die Gestaltung des neuen Lebens ohne seine Eltern fokussierte, dabei aber schmerzliche Gefühle offenbar kaum wahrnehmen konnte. Er war sehr mit der Entrümpelung des Hauses beschäftigt und es schien, dass es für Erinnerung oder Kontakt mit dem Vergangenen derzeit nur wenig Raum gab.

Tattoo als Erinnerung

Dieser Teil wirkte wie abgeschnitten. Daher hatte ich mir für die kommende Stunde vorgenommen, ihm anzubieten, auf kreative Weise daran zu arbeiten, mehr Zugang zu seinen Gefühlen und seiner inneren Verbundenheit zu seinen Eltern zu erhalten. Doch es kam anders: T. hatte bereits seinen ganz eigenen Weg gefunden, die Verbundenheit mit seinen Eltern zum Ausdruck zu bringen. Er überraschte mich zu Beginn der Stunde, indem er mir ein Tattoo oberhalb des Fußknöchels präsentierte.

T. erzählte mir davon, dass er schon länger darüber nachgedacht habe, sich ein Tattoo als Erinnerung an seine Eltern stechen zu lassen. Er habe lange nachgegrübelt, welches Motiv das richtige sein und wie er beide Eltern miteinander verbinden könne. Ihm sei einfach keine passende Idee gekommen. Eines Abends kurz vorm Einschlafen sei es geschehen: Er habe auf einmal ein Bild vor sich gesehen, das Vater und Mutter miteinander verbunden und ihn emotional berührt habe: einen Heißluftballon mit einem Ballon in Form und Struktur einer Walnuss. Es sei sofort klar gewesen – das ist es: Das ist mein Bild für meine Eltern.

Verbundenheit mit beiden ­Elternteilen

T. berichtete, dass sein Vater Ballonfahrer und ein sehr unabhängiger Mann gewesen sei. Der Ballon stehe für die starke Freiheitsliebe seines Vaters, der zeitlebens großen Wert auf ein selbstbestimmtes Leben legte und tragischerweise in den letzten Lebensjahren gelähmt und in seiner Freiheit stark eingeschränkt war.

Der Lieblingsort seiner Mutter im elterlichen Garten habe sich unter einem großen Walnussbaum befunden. Zudem habe sie noch aus ihrer Kindheit zwei Eichhörnchen als Handpuppen besessen, die ihr viel bedeutet hätten. T. hatte sich bei der Beerdigung entschieden, ihr eines dieser Eichhörnchen mit in den Sarg zu geben und eines zu behalten. Wir führten unser Gespräch im Kindertherapieraum der Beratungsstelle. Ich nutzte die Gelegenheit und gab T. eine unserer Handpuppen – ein flauschiges Stinktier, in dem man mit etwas Fantasie auch ein Eichhörnchen sehen könnte.

Ich ging aus dem Blickkontakt und bat ihn nachzuspüren, wie sich das Eichhörnchen zu Hause anfühle, wenn er es in der Hand halte. Wie die Struktur des Fells sei, wie es rieche, wie es aussehe. Das vertiefte T.s inneren Kontakt zu seiner Mutter. Ich setzte einen weiteren Anker für die Zukunft und bot Bilder und Sinneseindrücke unter dem Walnussbaum an: das Rauschen der Blätter, den Geruch des Gartens, das Lichtspiel durch die Baumkrone und das Berühren der rauen Rinde. Wann immer T. seiner Mutter nahe sein wolle, könne er das Eichhörnchen in die Hand nehmen oder den Baum nutzen, um die Verbundenheit mit ihr zu spüren, während das Leben weitergehe.

Ein großes Geschenk

Das plötzliche Auftauchen eines stimmigen inneren Bildes, das für ihn die Verbundenheit mit seinen verstorbenen Eltern verkörpert, ist ein gutes Beispiel dafür, wie beim Übergang vom Wachsein zum Schlaf sein Unbewusstes und Unwillkürliches eine Sprache gefunden haben, die über den Frontalkortex und konzentriertes Nachdenken nicht zu erreichen war.

Der Zugang zu unwillkürlichen und unbewussten Prozessen wird in der Hypnotherapie genutzt, um Verarbeitungs- und Entwicklungsprozesse von Menschen zu erweitern und zu vertiefen. Dies kann sowohl im Rahmen von expliziten Tranceinduktionen geschehen als auch durch das Nutzen spontan auftauchender Bilder wie in T.s Fall. Der Trancezustand wurde verstärkt, indem der Therapeut seine Stimme veränderte und den Klienten bat, das Stofftier zu berühren und innere Bilder auszubauen.

Die Stunde war sowohl für T. als auch für mich sehr berührend. Es bewegt mich immer besonders, wenn ich miterleben darf, wie lebendig und einfallsreich die Selbstheilungskräfte und das Unbewusste eines Menschen sind. Wenn es gelingt, Leben und Tod, Schmerz, Freiheit und liebevolle Verbindung so stimmig zu vereinen wie in T.s Tattoo, ist das ein großes Geschenk.

Markus Ecker-Haskaj, Diplomsozialpädagoge, ist als systemischer Familientherapeut in der Evangelischen ­Beratungsstelle Oberkassel der Diakonie Düsseldorf tätig

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 7/2020: Persönlichkeit: Histrionisch