Gelassener sein, sich nicht so schnell aufregen, ruhig bleiben, wenn andere hektisch werden – wir glauben längst zu wissen, wie das geht: tief durchatmen, bis zehn zählen, entspannende Atemübungen machen, regelmäßig Yoga, Tai-Chi oder Meditation praktizieren. An theoretischem Wissen mangelt es uns nicht, doch in der Praxis versagt dieses Wissen meist. Eher selten gelingt es uns, in stressigen Situationen den Blutdruck unten zu halten. Warum ist Gelassenheit so schwer zu erreichen?
Möglicherweise halten uns…
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Warum ist Gelassenheit so schwer zu erreichen?
Möglicherweise halten uns zwei Denkfehler davon ab: zum einen verstehen wir unter Gelassenheit meist einen Zustand, bei dem es vor allem darum geht, Ärger und Zumutungen mit Gleichmut zu begegnen. Unruhe, Nervosität, Selbstzweifel sollten gar nicht erst aufkommen. Solche Seelenruhe aber gelingt höchstens buddhistischen Mönchen und vielleicht noch sehr Meditationserfahrenen – aber niemandem, der mitten im Alltagstrubel seinen Mann oder seine Frau stehen muss.
Ein weiterer Denkfehler besteht darin, dass wir, wenn wir nach Gelassenheit streben, als Ziel einen Dauerzustand anpeilen. Doch eine durch und durch gelassene Gemütsverfassung kann es nicht geben. „Wir sind anfällig für Aufregung, weil unser Selbstwertgefühl abhängig ist von der Zuwendung und dem Wohlwollen anderer, weil sich die Dinge in unserer physischen Welt immer wieder gegen uns verschwören werden“, schreiben die Autoren des Buches Calm, das von der Londoner School of Life herausgegeben wurde. Deshalb ist die Akzeptanz der Tatsache, dass wir jederzeit unsere Gelassenheit verlieren können, ein erster wichtiger Schritt. Wenn wir dann trotz emotionalen Aufruhrs in der Lage sind, die Gelassenheitskiller zu identifizieren und zu verstehen, was uns in Aufruhr versetzt hat, werden wir nicht nur mit den Herausforderungen besser fertig – wir werden auch ruhiger. Wie kann das konkret gelingen?
1. Absichten und Motive erkennen
Eine Bemerkung hat uns verletzt, das Verhalten eines Freundes erleben wir als gedankenlos oder übergriffig, die Nichtbeachtung durch einen Vorgesetzten als bewusste Kränkung. Doch wir sind oft schlecht darin, die Motive der anderen zu erkennen, wir sehen Absichten, wo vielleicht gar keine sind. Warum tun wir das? „Wir schauen zu streng auf unsere Umgebung“, sagen die Autoren des Buches Calm. „Menschen sagen oft kränkende Dinge, ohne dass sie uns bewusst kränken wollen. Sie richten oft mehr Stress an, als sie glauben und wollen, weil sie nicht mit der Zerbrechlichkeit der menschlichen Seele rechnen.“
In der Tat ist unsere eigene seelische Verfassung oftmals der eigentliche Grund, warum wir die Fassung verlieren. Wir sind dünnhäutig, empfindlich, und unsere sozialen Antennen sind weit ausgefahren. Fällt in dieser Situation eine unbedachte Bemerkung, kann uns diese tief kränken – und das Fass läuft über.
Es ist nicht leicht, sich in die Motive anderer einzufühlen, wenn man selbst seelisch nicht stabil ist. Sich zu fragen, was andere an- und umtreibt, was die wirkliche Ursache einer aggressiven Bemerkung oder überzogenen Kritik ist, das ist eine reife Leistung. Doch wenn es gelingt, sich in die Schuhe des anderen zu stellen, kann das unsere Stressreaktion schnell dämpfen.
2. Unvermeidliches akzeptieren
Es gibt Situationen, in denen Einfühlung in die Motive anderer nicht funktioniert: wenn wir eine Auskunft brauchen und endlos am Telefon in einer Warteschleife hängen; wenn das Hotel, das wir übers Internet gefunden haben, überbucht ist; wenn die Bahn mal wieder 50 Minuten Verspätung hat. Um in solchen Situationen nicht aus der Haut zu fahren, sollten wir uns von der Erwartung verabschieden, dass die Welt und die Menschen in ihr perfekt funktionieren. Wer davon ausgeht, dass Situationen wie die erwähnten unvermeidbar sind, wird nicht kalt erwischt, wenn sie geschehen.
3. Erwartungen überprüfen
Wir brauchen dringend eine Auskunft von einem Kollegen, doch der ist an diesem Tag nicht da. Eine Konferenz dauert und dauert, ohne dass ein Ergebnis in Sicht ist. Der Partner hat immer noch nicht im Reisebüro angerufen, und auch die Garage wartet nach wie vor auf eine ordnende Hand. Frustration und Enttäuschung sind die Folge, wenn unsere Geduld auf die Probe gestellt wird. Versucht dann jemand, uns mit der Bemerkung „Gut Ding will Weile haben“ zu beruhigen, verärgert uns das nur noch mehr. Natürlich wissen wir, dass manche Projekte Zeit kosten. Das können wir aber nur dann akzeptieren, wenn wir keine andere Erwartung haben. Unsere Gelassenheit verlieren wir, wenn es sich um Dinge handelt, von denen wir denken, dass sie schnell erledigt werden könnten. Das Problem sind also unsere Erwartungen. In vielen Alltagssituationen lohnt es sich, sie zu überprüfen und herrunterzuschrauben. Denn Verzögerungen frustrieren uns nur dann, wenn wir denken, die Dinge sollten weniger lange dauern.
4. Bewertungen reduzieren
Vieles, was uns aus der Ruhe bringt, spielt sich in unserem Kopf ab. In unseren Selbstgesprächen sitzen wir oftmals zu Gericht: Wir bewerten andere Menschen, Situationen, aber auch uns selbst. Gelassenheit fördert das nicht. Deshalb raten die Psychologen Aljoscha Long und Ronald Schweppe in ihrem Buch Gelassenheit für Anfänger (Gräfe und Unzer, München 2015) beispielsweise zu „beruhigenden Mantras“ wie „Eigentlich gar nicht so wichtig“ oder „Auch das geht vorüber“. Und sie empfehlen, auf innere Distanz zu gehen, einen Schritt zurückzutreten und das innere Bild der Situation, die uns auf die Palme bringt, zu verändern. Konkret raten die Autoren: „Mache kurz die Augen zu und stelle dir die Szene in Schwarz-Weiß und weiter weg vor – und beobachte, wie die Gefühle sich beruhigen.“