Überraschung!

Ein unangemeldeter lästiger Besuch, der Lieblingsitaliener hat geschlossen, ein Plan lässt sich nicht realisieren – solche unangenehmen Überraschungen lieben wir gar nicht. Wir ziehen das Kalkulierbare dem Unwägbaren vor. Damit tun wir uns aber keinen Gefallen. Denn gerade das Unerwartete bereichert unser Leben

Vor vielen Überraschungen sind wir in der heutigen Welt relativ sicher. Der Fortschritt hat dafür gesorgt, dass wir uns auf so manches einstellen können: Wetterberichte sagen uns, ob der geplante Grillabend trocken über die Bühne gehen kann, Verkehrshinweise warnen uns vor Staus, die Bahn-App informiert uns über Zugverspätungen, Restaurant- und Hotelbewertungen im Internet vermitteln einen Eindruck davon, was uns erwartet. Wir kennen die Raumtemperatur, weil wir sie mit Heizung und Klimaanlage einstellen…

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weil wir sie mit Heizung und Klimaanlage einstellen können, und wissen jederzeit, wie es Freunden und Verwandten in der Ferne ergeht, weil wir nicht mehr auf Briefe angewiesen sind wie in früheren Jahrhunderten. Im Vergleich zu unseren Vorfahren ist unser Leben also in vielerlei Hinsicht ärmer an Überraschungen. Das aber ist nicht nur eine positive Entwicklung, meinen die amerikanischen Psychologinnen Tania Luna und LeeAnn Renninger und kritisieren in ihrem Buch Surprise, dass wir eine ungesunde Einstellung zu Unvorhergesehenem entwickelt haben.

Der Untertitel ihres Werkes verrät, was sie uns empfehlen: Embrace the unpredictable and engineer the unexpected – nimm das Unvorhersehbare freudig an und führe das Unerwartete herbei. Den beiden Überraschungsspezialistinnen geht es dabei um die positiven Seiten unvorhersehbarer Ereignisse, sie konzentrieren sich auf Unverhofftes in seiner weniger intensiven Form. Denn Extreme, etwa ein Sechser im Lotto, sind erstens selten, unterliegen zweitens in der Regel nicht unserer Kontrolle und können uns drittens überfordern.

Überraschung ist in mehrfacher Hinsicht ein ganz besonderes Gefühl. Sie kann positiv sein, negativ oder neutral. Sie „währt von allen Emotionen am kürzesten; sie dauert höchstens ein paar Sekunden“, sagt Paul Ekman, der renommierte amerikanische Psychologe und Spezialist für nonverbales Verhalten. Wenn wir überrascht sind, zeigen wir einen ganz typischen Gesichtsausdruck: Die Augenbrauen schnellen nach oben, wir reißen die Augen auf, öffnen den Mund, das heißt, uns fällt wortwörtlich die Kinnlade herunter, unter Umständen schnappen wir sogar nach Luft. Das ist allerdings die Maximalversion, denn nicht in jedem Fall weist unsere Mimik alle diese Anzeichen auf. Am häufigsten sind die hochgezogenen Augenbrauen anzutreffen.

Überraschung unterbricht, was wir gerade tun und denken, und fokussiert uns auf das unerwartete Geschehnis. Das ist aus evolutionärer Sicht auch gut so, denn unsere Vorfahren mussten schnell entscheiden, ob zum Beispiel ein plötzlich auftauchendes Tier eine Beute oder eine Gefahr war.

Ein kurzer Moment der Überraschung stellt laut Ekman fast immer eine „Zwischenstation“ auf dem Weg zu einer anderen Emotion dar. Das Bemerkenswerte ist, dass dadurch diese anderen Gefühle verstärkt werden können. Die meisten von uns wissen das intuitiv. Kein Mann käme auf die Idee, zu seiner Herzallerliebsten zu sagen: „Schatz, morgen bringe ich dir einen Strauß Rosen mit.“ Gerade das Unverhoffte erhöht die Freude. Das lässt sich auch wissenschaftlich belegen.

1997 zeigten beispielsweise Barbara Mellers von der University of Pennsylvania und ihre Kollegen, dass ein unerwarteter Gewinn von 5,40 Dollar den Studienteilnehmern mehr Freude bereitete als ein erwarteter von 9,70 Dollar. Fünf Jahre später fassten James A. Shepperd und James K. McNulty von der University of Florida die Ergebnisse eigener Versuche so zusammen: „Schlechte Nachrichten sind unangenehmer, und gute Nachrichten sind angenehmer, wenn sie überraschend kommen.“ Luna und Renninger vermuten, dass wir vielleicht deshalb versuchen, aus positiven Neuigkeiten eine Überraschung zu machen und andererseits die Empfänger schlechter Nachrichten schonend auf diese vorzubereiten.

Überraschungen machen Spaß

„Unsere glücklichsten Erinnerungen enthalten ein Element von Überraschung“, stellt LeeAnn Renninger fest. Vor einigen Jahren wertete sie für eine Studie an der Universität Wien gefilmte Aussagen von Menschen aus, die den glücklichsten Moment ihres Lebens schilderten. Diese Erlebnisse waren erstaunlicherweise meist nicht einhundertprozentig angenehm. Zum Beispiel berichtete eine Frau von ihrer Hochzeit und davon, wie sie mit einem Schuh, bei dem der Absatz abgebrochen war, den Mittelgang der Kirche entlanghumpelte. Freunde und Familie kicherten und lachten zuerst und brachen schließlich in Applaus aus, als sie bei ihrem Bräutigam angekommen war.

Nicht die perfekt ablaufenden Ereignisse machen uns am glücklichsten, sondern die, bei denen etwas Unerwartetes geschieht. Das mag damit zu tun haben, dass unser Gehirn eine Vorliebe für Ungewohntes hat und für Dinge, die es noch nicht kennt. Nicht immer, aber häufig, bereiten Überraschungen uns Vergnügen. Zum Beispiel waren Hotelgäste, deren Erwartungen übertroffen wurden, ausgesprochen erfreut. Die Forscher John Crotts und Vincent Magnini bezeichnen das als customer delight, Entzücken der Kunden. Gäste, die dies erlebt haben, kommen wieder und empfehlen das Hotel zudem weiter.

War eine Erfahrung zu unserem Erstaunen angenehm, so möchten wir sie wiederholen, erklären Luna und Renninger in ihrem Buch. Das gilt selbst für Aufgaben, die wir eigentlich nicht mögen. Auch ist typisch, dass wir über etwas, das uns verblüfft hat, mit anderen sprechen wollen. „Je überraschender ein Ereignis ist, desto schneller und häufiger teilen wir es“, schreiben sie. Kein Wunder, dass Videos und andere Internetinhalte eine größere Chance haben, sich viral zu verbreiten, wenn sie Unerwartetes zeigen.

Überraschungen machen klüger

Unvorhergesehene Ereignisse bieten uns außerdem Gelegenheit, dazuzulernen und uns weiterzuentwickeln. Sie sind ein Signal dafür, dass unsere vorgefasste Meinung oder unser angebliches Wissen nicht den Tatsachen entspricht. Dies und der Reiz des Neuen motivieren uns, Wissen und Fähigkeiten zu erwerben, ohne dass uns jemand dazu anhalten, uns Belohnungen bieten oder mit Bestrafung drohen muss. Sydney Finkelstein, Professor für Management am Dartmouth College, sieht darin sogar eine wichtige Voraussetzung für Erfolg: „Das Unerwartete anzunehmen statt zu fürchten ist entscheidend, um wirklich vorwärtszukommen und außerdem klüger und anpassungsfähiger zu sein.“

Schon elf Monate alte Babys lernen am besten, wenn eine neue Information nicht ihrem Verständnis von der Welt entspricht. Wenn ein Ball scheinbar durch eine Wand rollt, erweckt dies beispielsweise stärker ihr Interesse als ein Geschehnis, das sie nicht erstaunt. Das fanden Forscherinnen der Johns Hopkins University heraus. Übrigens verbinden Kinder im Vorschulalter mit dem Begriff Überraschung nur Freudiges und Wünschenswertes. Und auch im Erwachsenenalter lernt man Stoff besser, wenn man neue Informationen daruntermischt. Wer also Vokabeln oder für eine Prüfung paukt, sollte nicht stur immer dasselbe wiederholen, sondern hier und da Neues einstreuen.

Ein eindrucksvolles Beispiel für Lernen durch Überraschung lieferten Wissenschaftler der Universitäten von Kent und Sheffield. Probanden sollten sich fünf ungewöhnliche Kombinationen sozialer Kategorien ausdenken oder, in der Kontrollgruppe, Zusammenstellungen, wie man sie erwarten würde. Überraschend wäre etwa ein übergewichtiges Model, ein reicher Student oder eine männliche Hebamme. Wer sich solche Personen vorgestellt hatte, zeigte anschließend weniger Vorurteile gegenüber verschiedenen stigmatisierten Gruppen wie Behinderten, Asylsuchenden, Homosexuellen oder HIV-Patienten. Außerdem waren diese Personen allgemein toleranter und ihre Ansichten egalitärer. Das Erstaunlichste: Dies funktionierte nicht nur mit Studierenden im Experiment, sondern auch bei einem Feldversuch in Mazedonien.

Die Teilnehmer dort hatten anschließend gegenüber anderen Volksgruppen, zum Beispiel Serben oder Albanern, weniger Vorurteile und zeigten ein deutlich größeres Vertrauen zu diesen. Veröffentlicht haben die Forscher ihre Erkenntnisse unter dem Titel Tolerance by Surprise – Toleranz durch Überraschung.

Überraschungen stärken Beziehungen

Auch in anderer Weise profitiert das Zusammenleben mit unseren Mitmenschen vom Unerwarteten. „Überraschung vertieft unsere Beziehungen und verleiht ihnen Glanz“, sagen Luna und Renninger. Oder wie der inzwischen verstorbene Carl Apfel es ausdrückte, der mehr als 60 Jahre mit der New Yorker Stil-Ikone Iris Apfel verheiratet war: „Du weißt nie, was geschehen wird … Überraschung, Überraschung … Es ist keine langweilige Ehe, das kann ich Ihnen sagen.“ Wird eine Ehe als eintönig empfunden, führt das dazu, dass die Partner Jahre später weniger Nähe zueinander verspüren, und dies wiederum bewirkt, dass ihre Zufriedenheit in der Beziehung abnimmt. Das ergab eine Studie amerikanischer Forscher. Einer von ihnen, Arthur Aron von der Stony Brook University, hatte bereits zuvor in einer Untersuchung gezeigt, dass ein gutes Mittel gegen eheliche Langeweile aufregende gemeinsame Unternehmungen sind.

Es müssen also nicht unbedingt unüberwindbare Konflikte sein, die eine Beziehung scheitern lassen. Manchmal ist es die Eintönigkeit. Um sie zu vermeiden, reicht es nicht, regelmäßig beim selben Italiener nett essen zu gehen. Man sollte vielmehr gemeinsam Neues wagen, etwas, das in irgendeiner Weise spannend und ungewohnt ist. „Die erfülltesten Beziehungen besitzen genug Berechenbarkeit, sodass ein Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit entsteht, und sie weisen genug Überraschungen auf, um Leidenschaft und Verspieltheit auszulösen“, schreiben Luna und Renninger.

Wenn wir anderen Menschen mit Überraschungen eine Freude bereiten wollen, sollten wir dafür sorgen, dass unser Tun unerklärlich bleibt. Das bereitet mehr Vergnügen. Timothy Wilson von der University of Virginia und seine Kollegen, die darüber geforscht haben, nennen dies das pleasure paradox, Vergnügensparadox. Wir glauben nämlich, dass uns zum Beispiel Geschenke mehr Freude bereiten, wenn wir den Grund dafür verstehen. Paradoxerweise ist aber das Gegenteil der Fall: Das gute Gefühl hält » länger an, wenn dem Geschehen etwas Mysteriöses anhaftet. Wer einem anderen also „einfach so“ etwas Gutes tut, ohne es zu begründen, verstärkt die Wirkung der Überraschung.

Überraschungen sind nicht jedermanns Sache

Manche Menschen mögen Überraschungen mehr, andere schätzen sie weniger. Das ist vermutlich einerseits eine Frage der Persönlichkeit. Darauf deutet unter anderem eine Studie mit 84 deutschen Studierenden hin, die Silvia Knob-loch-Westerwick von der Ohio State University in Columbus und Caterina Keplinger von der Hochschule für Musik und Theater in Hannover durchgeführt haben. Mit Kurzgeschichten testeten sie, wer Krimis mit einem überraschenden und wer solche mit einem erwarteten Ende bevorzugte. Selbstbewussten Lesern gefiel die verblüffende Auflösung besser. Weniger selbstsichere hatten es dagegen lieber, wenn ihre Vermutung im Hinblick auf den Täter zutraf. Natürlich kann auch die jeweilige Situation eine Rolle spielen. „Wenn man bei der Arbeit einen schlechten Tag gehabt hat, der das Selbstwertgefühl bedroht, genießt man vielleicht mehr als sonst eine Krimiauflösung, die die eigenen Erwartungen bestätigt“, so Knobloch-Westerwick.

Allen, die ihren Mitmenschen eine Freude machen wollen, geben die beiden Psychologinnen Luna und Renninger diesen Rat: Man sollte beachten, dass eine zu gewaltige Überraschung dazu führen kann, dass jemand sich unwohl und überfordert fühlt. In einer Beziehung zum Beispiel sei es besser, öfter einmal eine unverhoffte Kleinigkeit einzustreuen, als auf wenige große Überraschungseffekte zu setzen.

Was können wir tun, um besser mit Unerwartetem umgehen zu lernen? Wie können wir die Chancen nutzen, die das Unbekannte uns bietet? Luna und Renninger liefern in ihrem Buch eine ganze Reihe von Vorschlägen (siehe das Interview links). Beispielsweise kann Umdenken in überraschenden Situationen hilfreich sein. Das Lieblingsrestaurant hat geschlossen? Prima. Das ist die Chance für ein kulinarisches Abenteuer. Dabei geht es nicht nur darum, ein Ereignis umzudeuten. Man sollte es vielmehr auch als Ausgangspunkt für etwas Neues nutzen.

Das Leben ist voller Überraschungen. Indem wir ihnen offen gegenüberstehen, sie zulassen oder sogar herbeiführen, können wir wachsen, intensiver leben und lieben. Lunas und Renningers Fazit: Wenn es keine Überraschungen gibt, ist es für uns am behaglichsten. Am lebendigsten fühlen wir uns jedoch, wenn etwas Unvorhergesehenes geschieht.

Ingrid Glomp ist promovierte Biologin und arbeitet seit vielen Jahren als freie Wissenschaftsjournalistin. Zum Ausgleich schreibt sie Krimis. Sie betreibt unter anderem ein Wissenschaftsblog (https://mehrwissenbesserleben.wordpress.com). Kurz: Sie hat Wege gefunden, immer wieder Neues und Überraschendes zu entdecken und auszuprobieren.

So bringen Sie mehr Überraschung in Ihr Leben

Sagen Sie ja zu neuen Gelegenheiten. Tania Luna empfiehlt, einen Tag pro Woche zum Ja-Tag zu machen– mehr könne uns überfordern.

Verlassen Sie Ihren Dunstkreis. Seien Sie offen dafür, mit Menschen, die Sie nicht oder weniger gut kennen, in Kontakt zu kommen. Setzen Sie sich mit anderen Lebensweisen und Meinungen auseinander. Sollte sich das im Alltag als schwierig erweisen: Auch in Büchern und im Internet können wir anderen Sichtweisen und Welten begegnen.

Planen Sie nicht zu viel. Verzichten Sie darauf, alles bis ins Kleinste kontrollieren zu wollen. Lassen Sie sich durch unbekannte Straßen oder einen Park treiben, anstatt dauernd auf den Stadtplan zu schauen. Verzichten Sie auch mal darauf, vorher im Internet nachzuschauen, wie die Zimmer in einem Hotel aussehen oder was auf der Speisekarte eines Restaurants angeboten wird.

Es gibt so vieles, worüber man sich wundern kann

Überraschungsexpertin Tania Luna über die Kunst, dem Unerwarteten offen zu begegnen

Frau Luna, Sie sagen, dass wir mehr Überraschungen in unserem Leben zulassen sollten. Warum ist das so wichtig?

Es führt heutzutage einfach kein Weg daran vorbei. Selbst wenn sich jemand entscheiden würde, sein Leben auf so vorhersehbare Weise wie möglich zu verbringen, kann er der Tatsache nicht entkommen, dass unsere Welt unglaublich viele Überraschungen und Unsicherheiten bereithält. Veränderungen finden heute so schnell statt, dass wir alle ein psychologisches Schleudertrauma haben. Das weckt bei einigen das Bedürfnis, so viel wie möglich zu kontrollieren, sie nisten sich in Routinen ein und versuchen, so wenig wie möglich dem Zufall zu überlassen.

Dabei sind alle, die sich in ihrer Komfortzone verstecken, Ihrer Meinung nach im Nachteil.

Wer nicht gut mit unvorhergesehenen Ereignissen umgehen kann, dürfte eher Schwierigkeiten haben, mit den Veränderungen in seinem Leben Schritt zu halten. Besonders in der Arbeitswelt merken viele, dass sich die Prioritäten geändert haben, in fast allen Branchen wird Kreativität wichtiger. Zudem vernachlässigen solche Menschen einen wichtigen Teil von sich: Haben wir zu viel Routine, Beständigkeit und Stabilität, verkümmert der Teil unserer Persönlichkeit, der nach Herausforderungen, neuen Entdeckungen und Spiel strebt.

Ich esse seit mindestens sechs Jahren jeden Tag exakt das Gleiche zum Frühstück. Habe ich ein Problem?

Das kommt darauf an, ob es in anderen Bereichen Ihres Lebens genug Platz für Überraschungen gibt. Wir müssen nicht sofort alle Beständigkeit aufgeben und uns ins Ungewisse stürzen. In schwierigen und wechselvollen Zeiten etwa ist es gut, ein paar Konstanten zu haben, die Stabilität und Rhythmus in den Tagesablauf bringen. Aber dann kann man sich fragen, wo sich die Ränder der Komfortzone ein bisschen verschieben lassen. Vielleicht verbringen wir unsere Zeit immer mit denselben Menschen und treffen so nur auf Ansichten, die wir schon kennen. Ein erster Schritt könnte sein, nur fünf Minuten lang mit jemandem zu sprechen, der andere Meinungen, Erfahrungen und Ideen hat.

Wie werden wir die Angst vor dem Unvorhersehbaren los?

Schritt für Schritt. Unser Gehirn reagiert stark auf Neues, bei der zweiten Begegnung mit einem Reiz ist die Reaktion aber schon viel weniger ausgeprägt. Aus der Kognitions- und Verhaltensforschung wissen wir, dass das sanfte Ausdehnen der Toleranzgrenzen bei vielen Menschen besser gegen Angst wirkt als Flooding, also eine massive Konfrontation mit der furchteinflößenden Situation. Jedes Mal, wenn wir die Grenzen des Gewohnten ein bisschen übertreten, reduzieren wir die Angst. Ich war früher selbst ein Kontrollfreak mit einer Abneigung gegen das Unvorhergesehene. Ich habe dann bewusst jeden Monat eine neue Erfahrung gesammelt, zum Beispiel einen Jonglierkurs besucht. Das war nicht weit entfernt von meiner sicheren Welt, aber es hat mir Selbstvertrauen gegeben.

Das Unerwartete im eigenen Leben akzeptieren zu können, ist eine Sache. Aber Sie sagen, dass es sich auch lohnt, andere zu überraschen. Kann ich damit zum Beispiel eine müde Beziehung wieder munter-machen?

Man muss nichts total Verrücktes machen, es kann auch etwas so Simples sein wie gemeinsam ein Viertel zu erkunden, in das man sonst nie geht. Man kann auch wieder anfangen, sich Fragen zu stellen – der Eindruck, schon alles vom Partner zu wissen, trügt. Eine Frage wie „Was ist das Erschreckendste, das dir im vergangenen Jahr passiert ist?“ kann zu interessanten Gesprächen führen. Es ist auch spannend herauszufinden, über welche Art Überraschung der andere sich am meisten freut – über Zettelbotschaften, ein Sandwich, einen Ausflug oder eine geputzte Wohnung? Außerdem lohnt es sich, seinem Partner Grund zur Neugierde zu lassen, indem man Erfahrungen sammelt, die Gelegenheiten bieten, etwas Neues über den anderen zu erfahren.

Können wir uns selbst überraschen?

Ein Weg ist zum Beispiel, mehr zu staunen. Wenn ich durch mein Viertel laufe, frage ich mich, warum die Bäume sind, wie sie sind, oder worüber die Menschen, die ich dort sehe, wohl gerade reden. Ich stelle mir neue Fragen und beschäftige mich mit neuen Ideen. Ein anderer Weg, sich selbst zu überraschen, sind ungewöhnliche Erlebnisse: Das kann eine Abwechslung beim Frühstück oder auch ein besonderes Event sein. Es geht darum, die eigenen Muster zu erkennen und dann zu unterbrechen.

INTERVIEW: YVONNE VÁVRA

Tania Luna hat gemeinsam mit LeeAnn Renninger das Buch Surprise: Embrace the Unpredictable and Engineer the Unexpected veröffentlicht. Die Psychologin trainiert in New York Führungskräfte und überrascht mit ihrem Unternehmen Surprise Industries seit 2008 Menschen professionell.

Literatur

Tania Luna, LeeAnn Renninger: Surprise: Embrace the Unpredictable and Engineer the Unexpected, TarcherPerigree, New York 2015

Gernot Horstmann, Arvid Herwig: Surprise attracts the eyes and binds the gaze. Psychol Bull Rev. 22(3), 2015, 743-9. Doi: 10.3758/s13423-014-0723-1

Barbara A. Mellers, Alan Schwartz, Katty Ho and Ilana Ritov: Decision Affect Theory: Emotional Reactions to the Outcomes of Risky Options. Psychological Science, Vol. 8, 6/1997, Stable URL: www.jstor.org/stable/40063228 ,

James Shepperd, James McNulty: The affective consequences of expected and unexpected outcomes. Psychological Science, Vol. 13, 1/2002, 85-88. Doi: 10.1111/1467-9280.00416

John Crotts, Vincent Magnini: The customer delight construct: is surprise essential? Annals of Tourism Research, Vol. 38, 2/2011,719-722. DOI 10.1016/j.annals.2010.03.004

Aimee E. Stahl, Lisa Feigenson: Observing the unexpected enhances infants’ learning and exploration. Science, Vol. 348, 6230, 2015, 91-94. DOI: 10.1126/science.aaa3799

Milica Vasiljevic, Richard J. Crisp: Tolerance by Surprise: Evidence for a Generalized Reduction in Prejudice and Increased Egalitarianism through Novel Category Combination. PLoS One, 8(3), e57106/2013- DOI: 10.1371/journal.pone.0057106

Irene Tsapelas, Arthur Aron und Terri Orbuch: Marital Boredom Now Predicts Less Satisfaction 9 Years Later. Psychological Science,20(5), 2009, 543-5. Doi: 10.1111/j.1467-9280.2009.02332.x

Silvia Knobloch-Westerwick, Caterina Keplinger: Mystery Appeal: Effects of Uncertainty and Resolution on the Enjoyment of Mystery. Media Psychology,Volume 8, Issue 3,2006. DOI: 10.1207/s1532785xmep0803_1

Timothy D. Wilson, David B. Centerbar, Deborah A. Kermer und Daniel T. Gilbert: The pleasures of uncertainty: prolonging positive moods in ways people do not anticipate. Journal of Personality and Social Psychology, 88(1),2005, 5-21. DOI: 10.1037/0022-3514.88.1.5

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 5/2016: Viel zu tun