Spät ist es geworden, man trinkt noch ein letztes Glas in der Freundes- und Bekanntenrunde und diskutiert über das Leben. Plötzlich sagt eine der Freundinnen: „Ich möchte euch was fragen, bitte antwortet spontan. Wie alt fühlt ihr euch eigentlich?“ Die Reaktionen sind überraschend: „Ich fühl mich wie einundzwanzig.“ „Ich bin grad sechzehn.“ „Ich kann das Jahr nicht sagen, aber ich fühl mich erwachsen.“
Eine Aussage, die aufhorchen lässt. Denn Positives über das Erwachsensein äußern wenige. Das Unbehagen am…
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über das Erwachsensein äußern wenige. Das Unbehagen am Erwachsensein hat sich fast wie ein Virus ausgebreitet. Viele verbinden damit Anpassung und Leben im Hamsterrad. Die Vorzüge dieses Lebensabschnittes werden unter den Tisch gekehrt. Warum ist das so? Und: Wann sind wir überhaupt erwachsen?
„Nach einer verbreiteten Ansicht heißt erwachsen sein, auf die eigenen Hoffnungen und Träume zu verzichten, die Grenzen, die uns die Realität setzt, zu akzeptieren und sich mit dem Leben abzufinden, das weniger abenteuerlich, interessant und bedeutsam ist, als man zu Beginn annahm“, schreibt die Philosophin Susan Neiman in ihrem Buch Warum erwachsen werden? (Hanser, 2015). Träume begraben, sich dem Realitätsprinzip unterordnen – wer will da schon erwachsen werden, wenn man sich „in Augenblicken großer Ehrlichkeit“ eingestehen muss, dass einen das Leben betrogen hat? „Ich wollte nie erwachsen sein“, singt Peter Maffay und beklagt, dass er seine Träume „unten auf dem Meeresgrund“ liegen sieht.
Susan Neiman analysiert in ihrem Buch, woher das negative Image des Erwachsenseins kommt, und stellt fest: Es ist nicht einfach, das Niemandsland des Peter Pan zu verlassen. Man braucht Standfestigkeit und Energie, um in der verkindlichten Gesellschaft erwachsen zu sein.
Wir sind geprägt von der Unterhaltungsindustrie und ihren vorgebeteten Zielen: präpubertäre Schönheitsideale, Karriere, Geld, Entertainment und die Auflösung der Grenzen zwischen den Generationen. Markt und Medien beschwören allgegenwärtig den süßen Vogel Jugend, suggerieren Jungbleiben als einzig erfolgversprechende Lebensform, als Schutz und Flucht vor der Unerträglichkeit des Seins. „Den Achtzehn- bis Dreißigjährigen wird ständig gesagt, dies seien die besten Jahre ihres Lebens, obwohl dieses Jahrzehnt oft das schwierigste ist – und es ist mit der Auflösung strukturierter Normen und wirtschaftlicher Stabilität noch schwieriger geworden“, schreibt Susan Neiman. „Aber statt der Ermutigung, auf die komplexen Kämpfe dieser Jahre mit Entschlossenheit zu reagieren, aus ihnen herauszuwachsen, hören die Jungen lediglich, dass keine Phase ihres Erwachsenenlebens besser wird.“ Die vielfach geäußerte Aufforderung „Genießt die besten Jahre eures Lebens“ hat einen Subtext, so die Philosophin. Sie transportiert „eine verhängnisvolle Botschaft: Alles andere wird noch schlimmer.“
Lieber andere für sich denken lassen?
Aufgrund der unterschwelligen Verachtung, die dem Erwachsensein entgegengebracht wird, vermeiden Ewigjugendliche, das Leben selbst in die Hand zu nehmen. Sie versuchen, am Erwachsenwerden möglichst cool vorbeizuschrammen: Sie wohnen im Hotel Mama, verbringen die Tage in der verlockenden Gegenwelt der bunten Computerspiele, bleiben als Dauerstudent an der Universität oder legen es darauf an, als Schwester der Tochter gesehen zu werden. Typisch dafür sind auch Filme wie Für immer Adaline, wo einer jungen Frau über Nacht widerfährt, dass sie nicht mehr altert, in strahlender Jugend buchstäblich verharrt und Kinder und Kindeskinder übertrumpft. Oder der Streifen Pan mit der Vorgeschichte des Jungen, der nicht erwachsen werden will. Pan entkommt seinem traurigen Waisenhausdasein, indem er eines Nachts im Land der Fantasie aufwacht und dort bleibt.
Einen weiteren Aspekt für die Infantilisierung der Gesellschaftsehen Psychologen in einer generellen Entwicklung, die eng mit der Überfürsorglichkeit von Eltern verbunden ist. „Vor 50 Jahren hat keiner groß nach Förderung gefragt, die Kinder wurden früh eingebunden und mussten arbeiten“, so Hanna Christiansen, Professorin für klinische Kinder- und Jugendpsychologie an der Philipps-Universität Marburg, in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung. Heute bekämen Frauen ihre Kinder später und gäben diesen einen höheren Stellenwert. „Mein Eindruck ist, dass Eltern ängstlicher sind. Gefahren, über die sich früher niemand Gedanken gemacht hat, werden antizipiert – und diese Ängste übertragen sich auf dieKinder.“ Da ist es nur logisch, dass Kinder, die überbeschützt aufwachsen,weniger in der Lage sind,Selbstvertrauen und Unabhängigkeit zu entwickeln (siehe den Kasten Die Noch-nicht-ganz-Erwachsenen).
„Weil es uns nicht gelungen ist, Gesellschaften zu schaffen, in die unsere Jugend gerne hineinwachsen möchte, idealisieren wir die Phasen der Kindheit und der Jugend“, so Susan Neiman. Das garantiere ein leichtes Spiel mit braven Konsumenten, so Neiman. Die politischen Systeme förderten gezielt den Infantilismus, denn infantilisierte Menschen lassen sich besser lenken. „Selbst denken ist weniger bequem als andere für sich denken lassen“, so Neiman. Doch wer in permanenter Unmündigkeit verharrt, leidet im Endeffekt und ist frustriert, weil er in einem unernsten Idealismus gefangen bleibt, in einer vergeblichen Empörung darüber, dass die Welt sich nicht seinem Willen und seiner Vorstellung unterordnet, und in Leidenschaften, die immer neue Objekte und Ziele brauchen. Entwicklung verlangt Zeit und Raum, und beides fehlt in der beschleunigten Gesellschaft des 21. Jahrhunderts. Außerdem sind uns entsprechende Übergangsriten in Gestalt von Mentoren und Initiationsritualen, wie sie in archaischen Kulturen üblich waren und sind, abhandengekommen.
Aber nicht nur fehlende Ideale und die Bürde täglicher Pflichten schrecken von dem Erwachsensein ab, der bittere Beigeschmack entspringt auch der unbewussten Assoziation mit dem Alter. Dieses wird als Kompendium aus Langeweile, Lustverlust und Aussichtslosigkeit fantasiert, obwohl diese Klischees in der Realität längst widerlegt wurden.
Nach dem Warum fragen, nicht alles stumm hinnehmen
Erwachsen sein, dem Leben gewachsen sein – wie lässt sich das jenseits der subjektiven Empfindung definieren? Schon die großen Philosophen haben sich den Kopf darüber zerbrochen. Aristoteles etwa sah die Reife darin, einen Mittelweg zu wählen, zu einem maßvollen Leben zu finden und Extreme zu meiden. Immanuel Kant definierte das Erwachsensein als die Fähigkeit, sowohl das Sein als auch das Sollen im Auge zu behalten. In einem Interview erklärt die Philosophin Neiman, was damit gemeint ist: „Zum Beispiel müssen wir irgendwie unseren Lebensunterhalt verdienen. Das ist das Sein. Aber es gibt noch andere Werte und Ideale. Das ist das Sollen. … Zum Erwachsenenleben gehört, sich mit einem Teil seines Lebens für etwas anderes einzusetzen als bloß für den Erwerb des eigenen Lebensunterhaltes.“ Entsprechendes ist auch bei Sigmund Freud zu lesen: „Zum Erwachsensein gehört die Überwindung der Klage und die Durchsetzung dessen, was eine Persönlichkeit ausmacht: Wünsche pflegen, Widerspruch hegen, nach dem ‚Warum‘ fragen und nicht alles stumm hinnehmen. Das, was einem wirklich wichtig ist, mit Bestimmtheit, Standfestigkeit und Ruhe durchsetzen.“
Wenn wir die Spur der Philosophen und Psychologen verlassen und uns in die Symbolwelt der Märchen, Mythen und Sagen begeben, finden wir viele Anhaltspunkte und Wegweiser für den Reifeprozess in den Heldenfiguren und den Abenteuern, man könnte auch sagen: den rites de passage, die sie bestehen müssen: Sie verlassen die Heimat, gehen allein in eine unbekannte Welt, kämpfen dort mit gefährlichen Tieren und Zauberern und kehren schließlich mit einem Schatz, einer wichtigen Erkenntnis oder einer befreiten Person in ihre Gemeinschaft zurück, nicht ohne mit den Tiefen des Menschseins – mit Licht und Schatten – in Berührung gekommen zu sein.
Die Noch-nicht-ganz- Erwachsenen
Warum das Erwachsenwerden der jungen Generation besonders schwergemacht wird
Ein neues Alter hat sich seit einigen Jahren in Soziologie und Psychologie etabliert: Die heute 18- bis 29-Jährigen werden als eine eigene Altersgruppe wahrgenommen – im Übergang zwischen Adoleszenten und „wirklich“ Erwachsenen. Für dieses Zwischenstadium des Noch-nicht-ganz-Erwachsenseins hat sich in den Sozialwissenschaften der Begriff emerging adulthood etabliert, den der Psychologe Jeffrey Arnett erfunden hat. Er bezeichnet das Phänomen der neuen, nur „allmählich auftauchenden“ Erwachsenen.
Diese Neuschöpfung impliziert, dass wir nicht mehr von einem schnellen Eintritt der heute Zwanzigjährigen in das volle Erwachsenendasein ausgehen können – wie es vor einigen Jahrzehnten noch der Fall gewesen sein soll. Das zieht sich jetzt hin, und zwar durchschnittlich ein Jahrzehnt lang.
Eine große amerikanische Studie, die auf Tiefeninterviews mit 230 Angehörigen der emerging adults basiert, hat die wichtigsten Faktoren und Veränderungen für diese Entwicklung identifiziert:
- Bessere, aber auch deutlich längere Bildung und Ausbildung. Immer mehr Jugendliche streben ein Hochschulstudium an. Das Berufseintrittsalter ist in den meisten westlichen Staaten deutlich angestiegen.
- Gleichzeitig stiegen die Jobchancen nicht in gleichem Maße. Instabile und prekäre Arbeitsverhältnisse sind weit verbreitet, längerfristige Karriereplanungen weniger möglich als in früheren Jahrzehnten. Diese mangelnde berufliche „Planungssicherheit“ führt unter anderem auch dazu, dass Familiengründungen deutlich später stattfinden.
- Verbesserte Methoden der Geburtenkontrolle haben es ermöglicht, die „Option Kind“ auf spätere Zeitpunkte zu verschieben.
Ein beachtlicher Teil der heute jungen Erwachsenen wird lange über die Adoleszenz hinaus, oft bis in die frühen 30er Jahre von den Eltern finanziell unterstützt. Der relative Wohlstand der Elterngeneration, die noch in stabileren Verhältnissen aufgewachsen ist, ermöglicht diese Hilfe. Sie erstreckt sich auch auf das Wohnen und Verköstigen (siehe Heft 2/2016: Hallo Mama, da bin ich wieder!).
Fazit der Studienautoren: Der heutige Weg ins Erwachsenenalter ist komplexer, unsicherer und weniger planbar und kohärent als jemals zuvor.
Axel Wolf
Wann fühlten Sie sich erwachsen?
Der Schweizer Künstler Mats Staub will für seine Videoinstallation von fremden Menschen wissen: „Was geschah an Ihrem 21. Geburtstag?“ „Wie haben Sie die Schwelle zum Erwachsenwerden gefeiert?“ „Wann fühlten Sie sich erwachsen?“
Dabei sei es nicht wichtig, dass das Erinnerte auch mit der Wirklichkeit übereinstimmt. „Erinnerung ist eine Konstruktion“, sagt der Künstler, „maßgeblich ist das Bewusstwerden des Prozesses, der das Erwachsenwerden eingeläutet hat.“ Die Antworten zeigen, dass das Erwachsenwerden sich schwierig, schmerzhaft und voller Widerstände gestaltet, dass das Bedürfnis, Kindheit und Jugend hinter sich zu lassen und zu einer reifen Menschlichkeit zu finden, trotzdem vorhanden ist:
„Ich bin 51, aber erwachsen? – Ich weiß nicht!“
„Ich glaube nicht, dass man irgendwann erwachsen ist und das aufhört, das wäre auch schade. Ich denke immer, dass man so am Werden ist.“
Ein weiteres Ergebnis des Kunstprojektes ist die Erkenntnis, dass man nicht selten auch ganz brutal zum Erwachsensein gezwungen wird. Es gibt Zäsuren, die mit persönlicher Erschütterung einhergehen: Verlust oder Tod eines nahen Menschen, das Verlassen der Heimat oder andere Trennungserlebnisse.
„21 – Erinnerungen ans Erwachsenwerden“ ist ein work in progress, das der Künstler von Deutschland über England, Holland und Südafrika fortsetzen wird. Die aktuelle Station der Wanderausstellung ist das Theater Freiburg. Vom 5. bis 19. März 2016 ist dort das Kunstprojekt zu erleben (www.theater.freiburg.de).
Erwachsen werden – ein Langzeitprojekt
Sechs Aufgaben gilt es zu bewältigen, um sich im besten Sinne erwachsen zu fühlen
Welche psychischen Qualitäten braucht ein Mensch, um als Erwachsener ein gelingendes, ein möglichst erfülltes Leben zu führen? Dieser Frage ging – neben vielen anderen – der Psychoanalytiker und Entwicklungspsychologe George E. Vaillant in einer der umfangreichsten Längsschnittstudien der Psychologiegeschichte nach. In der Study of Adult Development der Harvard-Universität, die im Jahre 1938 begann, wurden 724 Frauen und Männer von der Spätpubertät und vom jungen Erwachsenenalter bis ins hohe Alter begleitet. Alle zwei Jahre gaben sie Auskunft über ihr Leben und stellten sich umfangreichen psychologischen Tests und Interviews.
Die Ergebnisse flossen in ein entwicklungspsychologisches Modell, das Vaillant von dem dänischstämmigen Psychoanalytiker Erik H. Erikson übernommen und ausgebaut hat: Das menschliche Leben entwickelt sich danach über acht markante Phasen, von der frühen Kindheit bis ins Greisenalter. Für das Erwachsenenalter sind vier Phasen bedeutsam: Identität, Intimität, Generativität und Integrität. Vaillant hat zwei weitere Stufen (oder alterstypische Aufgaben) hinzugefügt: Konsolidierung und Bewahren des Sinns.
Was bedeuten diese Phasen im Einzelnen für den Prozess des Erwachsenwerdens?
Identität: Noch vor dem Eintritt ins eigentliche Erwachsenenalter muss ein Mensch sich von seinen Eltern lösen und eine eigene Identität entwickeln: Er muss zum Beispiel die Gewissheit haben, dass seine Werte, Leidenschaften, Lebensziele, Geschmacksurteile und so weiter wirklich seine und nicht die der Eltern sind. Identität bedeutet auch, wirtschaftlich unabhängig von den Eltern zu sein.
Intimität: Es gilt, bereits im frühen Erwachsenenleben zu lernen, stabile, von wechselseitiger Wertschätzung getragene Beziehungen zu anderen Menschen aufzubauen, vorzugsweise zu einem Lebenspartner, aber auch mit Freunden.
Konsolidierung der beruflichen Karriere: Es gilt, im fortgeschrittenen Erwachsenenleben eine stabile soziale Identität in der Arbeitswelt aufzubauen. Voraussetzung dafür ist, dass man ein bestimmtes Kompetenzniveau (und damit den Respekt anderer Menschen) erwirbt, dass man sich beruflich weiterentwickelt, sich langfristig in ernsthaften Projekten engagieren kann und mit der Arbeit im Großen und Ganzen zufrieden ist. Vaillant betont, dass auch „Hausfrau und Mutter“ eine Karriere in diesem Sinne sein kann.
Generativität: Diese spezifische Lebensaufgabe besteht darin, „das eigene Selbst selbstlos wegzugeben“ (Vaillant), vor allem an die jüngeren Generationen. Es geht um das ideelle und materielle Erbe, dass wir weitergeben – nicht nur den eigenen Kindern, sondern überhaupt der „Nachwelt“. Generativ sind wir, wenn wir als Ratgeber, Mentor, Lehrer, Coach, Trainer oder Führer aktiv werden und andere an unserem Erfahrungsschatz und Wissen teilhaben lassen.
Bewahren des Sinns: Es gilt nun als Nächstes, kulturelle Werte zu bewahren und wertvolle Institutionen in der Gesellschaft zu festigen – indem man als älterer Mensch die Tugenden von Weisheit und Gerechtigkeit praktiziert. Ein „Bewahrer des Sinns“ ist ein im besten Sinne „Wertkonservativer“, er übernimmt etwa die Rolle des weisen Richters, der Streit schlichtet und Feinde miteinander versöhnt, oder eines Bewahrers, der Traditionen rettet und dabei weit über den engeren persönlichen Radius hinauswirkt.
Integrität: Die letzte große Aufgabe im Leben ist, das eigene Leben zu akzeptieren (die Theologen pflegen zu sagen: anzunehmen), indem man das Gute und auch das weniger Gute in die eigene Lebensgeschichte integriert und seinen Frieden mit sich und der Welt machen kann.
Heiko Ernst