Stellen Sie sich vor: Sie bewerben sich auf eine interessante Stelle, und die Personalleiterin konfrontiert Sie mit der Frage: „Was ist Ihre größte Stärke?“ Sie antworten: „Ich bin eigensinnig.“
Stellen Sie sich vor: Sie haben online einen interessanten Menschen kennengelernt und treffen diese Person nun zu einem ersten Date. Irgendwann kommt das Gespräch auf Ihre Charaktereigenschaften, und unter anderem offenbaren Sie Ihrem Gegenüber: „Ich bin eigensinnig.“
Stellen Sie sich vor: Die Klassenlehrerin Ihres…
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offenbaren Sie Ihrem Gegenüber: „Ich bin eigensinnig.“
Stellen Sie sich vor: Die Klassenlehrerin Ihres Grundschulkindes beklagt sich, Ihr Nachwuchs sei so eigensinnig, würde immer alles hinterfragen und sich immer wieder ihren Anweisungen widersetzen. Sie entschuldigen sich nicht etwa dafür, sondern sagen: „Das ist doch gut so!“
Was glauben Sie, wie diese drei Szenen enden? Bekommen Sie die Stelle? Wird aus dem Date eine Beziehung? Und zeigt die Lehrerin Einsicht? All das ist eher unwahrscheinlich. In allen drei Situationen müssten Sie wohl die Erfahrung machen: Eigensinn kommt nicht gut an; diese Eigenschaft hat kein gutes Image.
Der preußische General Carl Philipp von Clausewitz hielt den Eigensinn für einen „Fehler des Gemüts“. Eigensinnigen Menschen attestierte er einen unbeugsamen Willen und eine „Reizbarkeit gegen fremde Einrede“. Ursache des Eigensinns, so meinte der General, sei eine „besondere Art von Selbstsucht“. Verständlich, dass der Militär im Eigensinn nichts Gutes sehen konnte – im soldatischen Leben zählt Gehorsam, ein eigener Wille ist nicht erwünscht. Aber warum hat eigensinniges Verhalten auch im zivilen Alltag so ein schlechtes Ansehen? Warum empfinden viele Menschen die Zuschreibung „Du bist eigensinnig“ nicht als Lob?
Es war einmal ein eigensinniges Kind
Um zu verstehen, warum der Eigensinn so ein schlechtes Image hat, lohnt sich ein Blick in die Vergangenheit. Denn die Erlaubnis zum Eigensinn bekommt man in der Kindheit – oder besser gesagt: Man bekommt sie meist nicht, denn zu allen Zeiten hatten Erzieher ein Problem mit dem Eigensinn. So erzählten beispielsweise im 19. Jahrhundert Eltern, die ihre Kinder Gehorsam lehren wollten, dieses Märchen aus der Sammlung der Gebrüder Grimm:
„Es war einmal ein Kind eigensinnig und tat nicht, was seine Mutter haben wollte. Darum hatte der liebe Gott kein Wohlgefallen an ihm und ließ es krank werden, und kein Arzt konnte ihm helfen, und in kurzem lag es auf dem Totenbettchen. Als es nun ins Grab versenkt und die Erde über es hingedeckt war, so kam auf einmal sein Ärmchen wieder hervor und reichte in die Höhe, und wenn sie es hineinlegten und frische Erde darübertaten, so half das nicht, und das Ärmchen kam immer wieder heraus. Da musste die Mutter selbst zum Grabe gehen und mit der Rute aufs Ärmchen schlagen, und wie sie das getan hatte, zog es sich hinein, und das Kind hatte nun erst Ruhe unter der Erde.“
Aus heutiger Sicht empfindet man das Märchen vom eigensinnigen Kind als Ungeheuerlichkeit und ist ungemein erleichtert, dass es inzwischen nicht mehr zum Kanon der erzählten Geschichten gehört. Doch auch heute noch tun sich Eltern und Erzieher schwer mit dem Eigensinn. Zwar werten Eltern längst nicht mehr jedes Nein des Kindes als ungebührliches Benehmen und als Infragestellung ihrer elterlichen Macht, aber immer noch haben „es Kinder sehr schwer, ihr verbales Nein auf eine Art und Weise zu artikulieren, die von den Erwachsenen gehört und ernst genommen wird“, stellt der dänische Familientherapeut Jesper Juul fest.
Dabei ist das Nein der Heranwachsenden von elementarer Wichtigkeit. Nur wenn sie die Erfahrung machen dürfen, dass Widerstand nichts Verbotenes und Schlechtes ist, können sie lernen, eigenständig zu denken und zu handeln. Der Philosoph Karl Jaspers ist in einem solchen Erziehungsklima groß geworden. „Mein Vater, unbewusst für uns, unbeabsichtigt von ihm, war uns ein Vorbild. Ohne Kirche, ohne Bezugnahme auf eine objektive Autorität galt als das Böseste die Unwahrhaftigkeit. Und als fast ebenso schlimm: blinder Gehorsam. Beides darf es nicht geben! Daher war unser Vater unendlich geduldig gegenüber meinem Widerstand. Wenn ich widersprach, kam nicht der Befehl, sondern die Begründung, warum das unvernünftig sei.“
Wächst ein Kind in einem Elternhaus auf, in dem es seine Meinung und seinen Willen frei äußern darf, in dem es Unterstützung bekommt, wenn es sich gegen Ungerechtigkeit wehrt, und findet es in den Eltern gute Vorbilder für Eigensinn, sind wichtige Voraussetzungen für die Entwicklung autonomen Denkens und Handelns gegeben. Dann traut sich später der erwachsene Mensch etwas, und er traut sich selbst etwas zu: Dieser Mensch wagt dann, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, und wird sich dem Willen anderer nicht blind unterwerfen. Er bleibt sich selbst und seinen Vorstellungen treu und besitzt die Fähigkeit, „etwas einzusehen, zu sagen, was er einsieht, und sich zu weigern, etwas nachzureden, was er nicht einsieht“, so der Psychoanalytiker Erich Fromm.
Schutzschild gegen Stress
Eigensinn, so definierte Hermann Hesse diese Eigenschaft, ist alles, „was einen eigenen Sinn hat“. Er war überzeugt: „Alle Dinge, die man gegen sein Gefühl und gegen sein inneres Wissen tut, anderen zuliebe, sind nicht gut und müssen früher oder später teuer bezahlt werden.“ Zum Beispiel mit der eigenen Gesundheit. Studien belegen inzwischen eindrucksvoll, dass eigensinnige Menschen seltener krank sind als eher angepasste Zeitgenossen – und dass sie sogar länger leben. „Ich habe immer Dinge gemacht, die mir sinnvoll erschienen sind. Wenn etwas für mich nicht verständlich war, habe ich es gelassen. Es ist vielleicht die zentrale Aufgabe jedes Menschen, seinem Leben einen Sinn zu geben“, sagte einmal Reinhard Tausch in einem Interview. Der Wegbereiter der Gesprächstherapie starb 2013 im Alter von 91 Jahren.
So leben, dass es für einen selbst richtig und sinnvoll ist: Das ist ein hervorragender Schutzschild, um schädlichen Stress abzuwehren. Fehlt dieser Schutz, schwächt das die seelische und körperliche Stabilität und Gesundheit. Der Medizinsoziologe Aaron Antonovsky hat schon Ende der 1970er Jahre festgestellt: „Stark stressbelastete Personen mit einem Mangel an Widerstandsressourcen erkranken.“ Denn Angepasste gehen mit Stress selbstwertschädigend um. Weil sie zu viel darüber grübeln, was andere tun oder was diese von ihnen denken könnten, geraten sie schnell unter Druck. Eigensinnige dagegen stellen sich selten sorgenvolle Fragen wie „Was denken die anderen über mich?“ oder „Habe ich mich blamiert?“ oder „Bin ich gut genug?“. Das bedeutet: Sie sind mit sich selbst im Reinen, ihr seelisches Immunsystem bleibt intakt. Krankmachende Gefühle wie Resignation, Fatalismus, Hilflosigkeit angesichts von Herausforderungen oder auch Ärger können nicht überhandnehmen.
Fehlt es an Eigensinn, oder ist er zu schwach ausgebildet, hat das nicht nur Auswirkungen auf die Gesundheit, sondern auf viele Bereiche des Lebens. Allerdings wird der Zusammenhang zwischen den Schwierigkeiten, mit denen man zu kämpfen hat, und fehlendem Eigensinn häufig nicht gesehen. Wer sich ausgenutzt fühlt, sich nur schwer durchsetzen kann, sich ausgebrannt fühlt oder sein Leben gar als sinnlos empfindet, sollte prüfen, wie stark sein Eigensinn ausgeprägt ist. Auch ständige Zeitnot ist unter Umständen auf einen Mangel an Eigensinn zurückzuführen.
Mangelnder Mut zum Nein
Als Martin Liebmann, Vorstandsmitglied des Vereins zur Verzögerung der Zeit, im Supermarkt einen alten Kumpel trifft, den er lange nicht gesehen hat und der ihn fragt, ob man sich nicht mal auf einen Kaffee treffen wolle, reagiert er so: „Ich habe überlegt, ob mir das wirklich wichtig ist.“ Und er kommt zu dem Schluss, dass er sich dafür die Zeit nicht nehmen will. Martin Liebmann wacht offensichtlich eigensinnig über seine Zeit.
Wer das nicht tut, ist oftmals selbst verantwortlich dafür, wenn sie ihm fehlt. Dann hat er sich Zeit genommen für etwas, was er eigentlich nicht wollte, oder für Dinge investiert, die reine Zeitverschwendung waren. Der Philosoph und Managementberater Reinhard K. Sprenger stellt Führungskräften aus der Wirtschaft oft die Frage: „Was ist für Sie das Wichtigste im Leben?“ Und bekommt darauf die Antwort: „Meine Kinder.“ Wenn er dann weiterfragt, wie viel Zeit die Manager mit ihren Kindern verbringen, hört er häufig, dass dafür die Zeit fehle. Diese Führungskräfte haben eine Wahl getroffen, meint Sprenger. „Denn ,Keine Zeit‘ heißt: Anderes ist mir wichtiger.“ Nicht die Kinder sind das Wichtigste im Leben der Manager, sondern wichtig sind ihre Termine, ihre Meetings, ihre ständige Präsenz im Unternehmen. Konfrontiert Sprenger die Befragten mit dieser Feststellung, stößt er natürlich auf Widerspruch. Die Manager sprechen dann von Zwängen, von den Erwartungen, die sie erfüllen müssten, von dem Job, der so viel fordere. Sprengers unerbittliche Antwort lautet dann, „dass der Zeitdruck selbst produziert ist, dass er individuell gewählt wird, dass dahinter nicht selten mangelnder Mut zum Nein steht“.
Schluss mit den Folgsamkeitsreflexen
Eigentlich ist es ganz einfach, meint der Mediziner und Psychotherapeut Till Bastian. Wenn man Zeit für sich gewinnen will, muss man andere Dinge lassen. Zum Beispiel das Putzen. Oder das Aufräumen. Oder das Autowaschen. Wie viel Zeit geht drauf, weil wir es in Haus und Garten möglichst perfekt haben wollen? Oder weil wir glauben, wir müssten alles sofort und nach einem ungeschriebenen, aber strengen Zeitplan erledigen? Wenn wir an Leib und Seele gesund bleiben wollen, sollten wir etwas Unordnung und Chaos zulassen, meint Bastian. Alles, was wir dazu brauchen, ist ein subversiver Geist, der uns erlaubt, ganz bewusst gegen die Norm, gegen die geltende Ordnung zu handeln. Nicht um eine Revolution anzuzetteln, sondern um im eigenen Leben Freiräume zu schaffen, die dann eigensinnig genutzt und gestaltet werden. Ohne Rücksicht auf Dinge, die getan werden müssen, ohne Rücksicht auf Menschen, die etwas Bestimmtes von einem erwarten.
Was auch immer sie tun oder nicht tun: Eigensinnige Menschen wissen um die Selbstverantwortung im Umgang mit ihrer Zeit. Sie halten es mit dem Dichter und Historiker Carl Sandburg, der gesagt hat: „Zeit ist die Währung deines Lebens. Du gibst sie aus. Erlaube anderen nicht, sie für dich auszugeben.“
Wer zu einem eigensinnigeren Menschen werden will, muss seinen „Folgsamkeitsreflexen“, wie es der Pädagoge Kurt Singer nennt, auf die Schliche kommen und erkennen, in welchen Situationen und welchen Menschen gegenüber er sich in die Rolle des braven Kindes begibt. „Es geht um das Wagnis, echt zu sein, statt eine Rolle zu spielen, sich wahrnehmen zu lassen, statt zu taktieren, so deutlich wie möglich die Meinung mitzuteilen, statt die der anderen zu erraten“, so Kurt Singer. „Das vermindert die Gefahr, sich … seiner persönlichen Vorstellungen zu entfremden.“ Wer über Eigensinn verfügt, verliert nicht so schnell die Orientierung. Und was besonders wichtig ist: Er verliert sich selbst nicht aus den Augen.
Dieser Text ist ein bearbeiteter Auszug aus dem aktuellen Buch von Ursula Nuber: Eigensinn. Diestarke Strategie gegen Burn-out und Depression – für ein selbstbestimmtes Leben. Fischer, Frankfurt am Main 2016.
Ist das nicht egoistisch?
Eigensinn wird häufig mit Rücksichtslosigkeit und Egoismus in Verbindung gebracht. Das ist ein großes Missverständnis
Wer seine Interessen artikuliert und deutlich sagt, was er will und was nicht, wird schnell als aggressiv und egoistisch kritisiert. Eigensinn und Egoismus haben jedoch nichts miteinander zu tun. Der Psychologe Heinz Ryborz beschreibt einen egoistischen Menschen so: Dieser „ist überlegen auf Kosten anderer, setzt andere herab und erreicht sein Ziel durch Verletzung anderer“. Für einen egoistischen Menschen „ist es eine Katastrophe, wenn er seinen Willen nicht bekommt“. Dagegen bedeutet eigensinnig sein nicht, sich egoistisch über andere hinwegzusetzen und ohne Rücksicht auf Verluste nur seine Ziele zu verfolgen. Die Unterschiede zwischen Eigensinn und Egoismus sind deutlich:
• Ein eigensinniger Mensch setzt sich für seine Rechte und Interessen ein, aber in einer Art und Weise, die die Rechte anderer nicht verletzt und auch nicht deren Gefühle. Während Egoisten der Meinung sind: „Die Welt ist grundsätzlich feindlich, deshalb muss ich schauen, wo ich bleibe“, haben Eigensinnige eine ganz andere Haltung: „Ich habe Bedürfnisse und Wünsche. Andere haben auch Bedürfnisse und Wünsche. Ich habe Rechte und darf sie ausdrücken – andere haben auch Rechte.“ Sie respektieren ihre Rechte und die der anderen.
• Ein Eigensinniger hält mit seinen Ansichten nicht hinterm Berg. Aber anders als der Egoist erwartet er nicht, dass andere Menschen ihm zu Diensten sind. Wichtig ist ihm aber, dass der andere seinen Willen erfährt.
• Ein eigensinniger Mensch kennt keine falsche Bescheidenheit. Er ist stolz auf seine Leistung und sein Können – und zeigt das auch. Aber anders als ein egoistischer Zeitgenosse hält er sich nicht für den Nabel der Welt, sondern lässt auch die Leistungen anderer gelten.
EIGENSINNIG werden
Warum es ausreicht, erst mal so zu tun als ob
Der Hypnotherapeut Milton Erickson wurde von einem seiner Schüler gefragt, ob er ihn für einen guten Therapeuten halte. „Tun Sie einfach so, als wären Sie einer“, lautete Ericksons Antwort. Könnten wir den genialen Therapeuten heute fragen „Wie werde ich ein eigensinniger Mensch?“, dann würde er uns höchstwahrscheinlich ebenfalls empfehlen: „Tun Sie einfach so, als wären Sie einer.“
Dass dies kein billiger, unsinniger Trick ist, belegen sozialpsychologische Studien: Selbst wenn man zunächst nur „so tut, als ob“ – als ob man eigensinnig wäre, als ob man einen eigenen Willen hätte und diesen auch durchsetzen möchte, als ob man sich mutig gegen Zumutungen wehrt, als ob man seine eigenen Interessen wichtiger nimmt als die anderer –, irgendwann wird aus dem Rollenspiel eine tatsächliche Facette der eigenen Persönlichkeit. Man tut dann nicht mehr nur so, als ob man eigensinnig wäre – man ist es!
Für den Anfang reichen kleine Schritte. Suchen Sie sich Situationen, in denen Sie es sich zutrauen, anders als bisher zu handeln. Etwas anderes als das Übliche tun kann unter Umständen schon zu erstaunlichen Erfahrungen führen. Zum Beispiel:
• Achten Sie auf die relativierenden und abschwächenden Floskeln in Ihren Sätzen – und verzichten Sie darauf.
• Sagen Sie bewusst nein, auch wenn es kein Problem wäre, das Ansinnen des anderen zu erfüllen.
• Lehnen Sie zum Beispiel unerwünschte Einladungen oder Forderungen ab, ohne sich zu entschuldigen oder Gründe anzugeben. Verzichten Sie auf Rechtfertigungen.
• Folgen Sie nicht automatisch jedem Vorschlag anderer. Halten Sie einen Moment inne und fragen Sie sich: Will ich das wirklich?
• Üben Sie, in Gruppen auch einmal anderer Meinung zu sein und dies nicht zu verbergen.
• Äußern Sie einen Wunsch sofort und warten Sie nicht, bis andere ihre Wünsche genannt haben. Wiederholen Sie Ihre Wünsche oder Forderungen, wenn diese beim ersten Mal nicht beachtet wurden.