Herr Weibel, Sie haben einen bewegten Lebenslauf. Sie sind diplomierter Bergführer, Sie waren Chef der Schweizerischen Bundesbahnen, saßen unter anderem im Verwaltungsrat der französischen Staatsbahn und vieles mehr. Das ist eine sehr komplexe Berufskarriere. Nun veröffentlichten Sie ein Buch über Vereinfachung: Simplicity – die Kunst, die Komplexität zu reduzieren. Haben Sie diese Kunst auf den diversen Stationen Ihrer Karriere gelernt?
Meine erste Lektion habe ich als Bergführer gelernt. Man ist mit Gästen…
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Stationen Ihrer Karriere gelernt?
Meine erste Lektion habe ich als Bergführer gelernt. Man ist mit Gästen unterwegs, genießt die Natur und das Gipfelerlebnis. Plötzlich zieht ein Gewitter auf. Was vorher so schön war, kann innerhalb von Minuten zum Überlebenskampf werden. Nun verengt sich der Blick, und alles konzentriert sich auf die wenigen Faktoren, die für den sicheren Abstieg entscheidend sind. Später bin ich Bahnchef geworden. Die Schweizerischen Bundesbahnen befanden sich in einer tiefen Krise. Auch hier galt es, sich mit aller Konsequenz auf die wenigen, aber für die Zukunft der Unternehmung entscheidenden Punkte zu konzentrieren. Es wurde mir bewusst, dass der Fokus auf die wirklich bedeutenden Dinge nicht nur in der Krise, sondern in allen Lagen entscheidend ist. Zu dieser Zeit las ich ein Buch von Daniel Goleman, der mit seinem Konzept der emotionalen Intelligenz große Beachtung fand. Darin stand ein Satz, der sich in mein Gedächtnis einbrannte: “Just one cognitive ability distinguished star performers from average: pattern recognition, the big picture thinking” – „nur eine einzige kognitive Fähigkeit unterscheidet Höchstleistung vom Durchschnitt: Muster zu erkennen, das große Ganze im Blick zu behalten“. Ähnlich argumentiert auch der Psychologe Jerome S. Bruner. Er meint: „Wenn zwei Menschen den gleichen IQ haben, der eine aber ‚gescheit‘, der andere ‚dumm‘ ist, so liegt das daran, dass der erste gelernt hat, sein begrenztes geistiges Vermögen sinnvoll einzusetzen, sich nicht in Haarspaltereien zu verzetteln.“
Oftmals sehen wir den Wald vor lauter Bäumen nicht. Was bräuchten wir in solchen Situationen, um die wesentlichen Muster erkennen zu können?
Unser Gehirn, so der Hirnforscher Eric Kandel, ist eine Kreativitätsmaschine, die aus einem verwirrenden Durcheinander Muster herausfiltert. Es kann diese Aufgabe nur wahrnehmen, wenn es das Relevante vom Irrelevanten trennt. Neurowissenschaftler sind zu dem Schluss gekommen, dass das Vergessen die wichtigste Funktion des Gehirns ist. Nur wenn Unwichtiges vergessen wird, kann Typisches wahrgenommen werden. Damit hat die Neurowissenschaft „Ockhams Rasiermesser“ eine späte wissenschaftliche Begründung gegeben. Bereits vor 700 Jahren hat Wilhelm von Ockham, ein englischer Theologe und Philosoph, eine glasklare Handlungsanweisung formuliert: Suche den Kern des Problems. Konzentriere dich darauf. Schneide alles andere mit dem Rasiermesser ab. Ockham’s razor ist im angelsächsischen Sprachbereich ein stehender Begriff geblieben.
Das heißt, um Komplexität zu reduzieren, müssen wir Einzelheiten weglassen? Können Sie an einem Beispiel verdeutlichen, wie „Ockhams Rasiermesser“ arbeitet?
Nehmen wir eines aus meiner Zeit als Bergführer. Werner Munter, ein junger Bergführer, untersuchte Hunderte Lawinenunfälle und stellte fest, dass das Risiko einer Lawine durch wenige Variablen, zum Beispiel Hangneigung und -exposition, bestimmt wird. Seine Reduktionsmethode ist heute weltweiter Standard, und ihre Anwendung hat zu einer Halbierung der Unfälle geführt. Die Lawine ist ein Phänomen von unendlicher Komplexität. Das Risiko wird durch die Beschränkung auf wenige Schlüsselfaktoren zwar nicht eliminiert, aber auf einen akzeptablen Wert reduziert.
Kann „Ockhams Rasiermesser“ auch soziale Systeme von Ballast befreien?
Der Psychologe John Gottman, ein bekannter amerikanischer Paarforscher, hat Paare über kontroverse Themen diskutieren lassen und die Gespräche gefilmt. Er kam zu dem Schluss, dass jede der analysierten Paarbeziehungen ein unverwechselbares Muster, eine Art Ehe-DNA aufweist. Die erstaunliche Erkenntnis ist, dass es hauptsächlich vier Verhaltensweisen sind, die für die Qualität einer Beziehung relevant sind: Verteidigungshaltung, Blockade, Kritik und Verachtung. Gottman spricht von den „vier apokalyptischen Reitern“. Vor allem wenn „Verachtung“ vorkommt, ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Beziehung scheitert, signifikant hoch.
Das Prinzip von Ockhams Rasiermesser greift also selbst in einer so komplexen Frage wie der Qualität einer Paarbeziehung. Wenn es gelingt, das relevante Muster zu extrahieren, sind die Hebel zur Veränderung einer Situation gegeben.
Einfachheit zu erkennen, sagen Sie, ist nicht einfach. Den meisten Menschen fällt es nicht so leicht, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren.
Das ist richtig: Einfachheit ist nicht einfach, sie muss hart erarbeitet werden. Apple-Begründer Steve Jobs hat das mit seinem Satz „Einfachheit heißt, sich durch die Tiefen der Komplexität hindurchzuarbeiten“ verdeutlicht.
Was macht denn das Einfache so kompliziert?
Ein Hindernis ist der Fluch des Wissens. Je mehr wir wissen, desto schwerer fällt es, sich auf die wenigen wirklich wesentlichen Punkte zu konzentrieren. Ein weiteres Hindernis ist Fokusangst. Viele Menschen denken bei allem, was sie tun, an all das andere, das sie stattdessen tun könnten oder sollten. Durch die permanente Erreichbarkeit werden wir andauernd abgelenkt. Informationsflut und Hektik stören uns nicht nur in der Konzentration, sie verhindern auch, dass wir die notwendige Zeit für die Reflexion finden. Ein weiteres Hindernis auf dem Weg zur Einfachheit ist ein Statusproblem. In der akademischen Ausbildung lernt man eine Sprache, die Kompliziertheit zum Ritual erhebt. Die so verstandene wissenschaftliche Sprache gehört zum Imponiergehabe. Dass man nicht verstanden wird, unterstreicht die Exklusivität des Sprechenden oder Schreibenden.
Der Untertitel Ihres Buches lautet: Die Kunst, die Komplexität zu reduzieren. Kann man diese Kunst lernen?
Es ist schon viel erreicht, wenn Sie sich eine Haltung des „Weniger ist mehr“ aneignen.
Das wichtigste Instrument ist die gute alte To-do-Liste. Mindestens für eine Woche sollten Sie Ihre Prioritäten aufschreiben. Dabei sollten Sie Folgendes beachten: Beschränken Sie sich auf wenige Punkte. Platzieren Sie die Liste so, dass sie Ihnen immer wieder ins Auge fällt. Organisieren Sie sich so, dass Sie die Prioritäten Ende der Woche erfüllt haben. Sie werden entdecken, dass dadurch das Wochenende viel entspannter wird.
Oder ein anderes Beispiel: Wenn Sie einen Text schreiben, kopieren Sie ihn ins Textfeld von www.blablameter.de,Sie erhalten umgehend eine Bewertung mit dem Bullshit-Index, einem Wert zwischen null (gut) und eins (schlecht). Sollten Sie über 0.40 liegen, betätigen Sie die Taste „Entfernen“ und beginnen von vorne.
Und schließlich: Seien Sie mutig. Wie Mary Barra. Sie ist die erste Frau, die eine Automobilfirma führt. Die CEO von General Motors hat, als sie noch Personalchefin war, einen 15-seitigen Dresscode auf zwei Worte reduziert: angemessene Kleidung.
Dr. rer.pol. Benedikt Weibel ist Honorarprofessor an der Universität Bern, Publizist, Präsident und Mitglied verschiedener Verwaltungsräte. Veröffentlichung zum Thema: Simplicity – die Kunst, die Komplexität zu reduzieren. NZZ Libro, Zürich 2014.