Ihr Lebensgefährte wollte abends nur eine Videokassette zum Verleih zurückbringen. „Als er nicht wiederkam, ahnte ich schon Schlimmes“, erinnert sich Patricia Gerstendörfer. Im Briefkasten findet sie einen Abschiedsbrief. Einen Tag lang bleibt ihr Partner unauffindbar. Dann entdeckt ihn die Polizei in seinem Wagen außerhalb von Berlin. Er hat versucht, sich das Leben zu nehmen. Und überlebt.
Seit sieben Jahren kennen sich Gerstendörfer und ihr Lebensgefährte da. Mit einer Brieffreundschaft hatte es…
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da. Mit einer Brieffreundschaft hatte es angefangen. Dann zog sie zu ihm nach Berlin. „Er hat immer zu mir gesagt, er braucht nur den einen wichtigen Menschen an seiner Seite, um leben zu können. Das sei ich für ihn“, erinnert sie sich.
An diesen Gedanken klammert sich die junge Frau in der schweren Zeit nach dem Suizidversuch, der, wie sie erfährt, nicht sein erster war. Und auch nicht sein letzter sein wird: Drei Jahre später tötet er sich in der gemeinsamen Wohnung. Patricia Gerstendörfer findet den leblosen Körper. Auch ihr bisheriges Leben endet an diesem Tag. Sie stürzt in eine tiefe Depression. Der Suizid wird sie so schnell nicht loslassen.
Pro Jahr sterben in Deutschland etwa 10 000 Menschen durch einen Suizid. Die Weltgesundheitsorganisation schätzt, dass von jeder Selbsttötung 6 bis 23 weitere Menschen mitbetroffen sind, deren Leben durch den Todesfall erschüttert wird: Eltern, Kinder, Partner oder Ehegatten, Freunde, Klassenkameraden, Kommilitonen, Arbeitskollegen, aber auch behandelnde Ärzte, Pfleger und Sozialarbeiter. Folglich sind es Millionen Menschen, die hierzulande unter den Folgen eines solchen Verlustes leiden.
Breite Schneise psychologischer Trümmer
Der Tod kommt für viele unerwartet. Und er hinterlässt oft eine tonnenschwere psychische Last, die die Hinterbliebenen mit sich schleppen, nicht selten für Jahrzehnte. „Wie ein Wirbelsturm, der durch eine Gemeinde fegt, kann ein Suizid in seiner Folge eine breite Schneise psychologischer Trümmer hinterlassen: Schock, Verwirrung, Horror, tiefe Schuld, Ärger und Vorwürfe und natürlich Trauer“, schreibt der amerikanische Psychologe und Trauertherapeut John Jordan. Doch was ein Suizid mit Hinterbliebenen macht, findet noch immer kaum Beachtung. Auf ihre Bedürfnisse zugeschnittene Hilfsprogramme sind rar. Immerhin: Die Aufmerksamkeit für ihr Leid wächst.
„Suizid hat eine andere Qualität als jeder andere Verlust“, sagt der Psychiater und Psychotherapeut Manfred Wolfersdorf. Solch ein Todesfall stürze die Mitmenschen in ein emotionales Chaos. Natürlich herrsche Trauer. Dazu mische sich aber noch viel mehr. Das Erdrückendste: das Gefühl, schuld zu sein oder zumindest eine Teilschuld an dem Tod zu tragen. Dazu kommen nicht selten direkte oder unterschwellige Schuldzuweisungen von anderen. In einer Erhebung mit knapp 400 Erwachsenen, die eine nahestehende Person verloren hatten, meinten 85 Prozent der Hinterbliebenen, sie hätten den Suizid verhindern müssen. Sie gingen akribisch alle Momente der vorangegangenen Wochen durch, um zu prüfen, ob sie an einer Stelle hätten anders handeln, hätten den Tod verhindern können. Oft immer wieder, in einer gedanklichen Endlosschleife.
„Einem Suizid geht oft bereits eine schwierige Lebenssituation voraus. Der Verstorbene hatte vielleicht eine psychische Erkrankung, Suchtprobleme oder die Beziehung zu anderen war konfliktgeladen“, sagt die Psychiaterin Anette Kersting, Direktorin der psychosomatischen Klinik am Universitätsklinikum Leipzig. Für die Hinterbliebenen sei es dann schwer, mit dieser Bürde zurückzubleiben. „Es gibt ja keine Chance mehr, diese Konflikte aufzulösen“, so Kersting. „Die Hinterbliebenen müssen mit ungeteilten Gedanken und all den Fragen an den anderen weiterleben, ohne eine Antwort zu erhalten.“
„Ich kann ihm nicht verzeihen“
Unter anderem deshalb verspüren viele Ärger, Ärger auf den Verstorbenen. Sie fragen sich: Hatte er kein Vertrauen zu mir, oder warum hat er mich nicht helfen lassen? Wollte er mich bestrafen, sich für etwas an mir rächen? „Über allem steht die große Frage: Warum?“, sagt auch Patricia Gerstendörfer. Seit acht Jahren leitet sie nun die Selbsthilfegruppe des Vereines AGUS (Angehörige um Suizid) in Berlin. Einmal im Monat treffen sich hier Väter, Mütter, Geschwister, beste Freunde, Lebenspartner von Menschen, die sich das Leben genommen haben. Es fließen Tränen der Trauer, Tränen der Wut.
„Mein Mann schrieb in seinem Abschiedsbrief an mich: ‚Verzeih mir!‘ Aber ich kann es nicht“, sagt eine ältere Dame der Gruppe. „Könnt ihr das?“, fragt sie die anderen. Einige schütteln den Kopf, viele schauen betroffen zu Boden. Fragen bleiben für immer unbeantwortet: War seine Liebe zu mir nicht größer als der Wunsch zu sterben? Wollte er nicht mit mir alt werden? Warum hat er dann nicht mit mir darüber gesprochen?
Manche Angehörigen erfahren erst im Nachhinein, in welcher seelischen Notlage der andere gesteckt hat. „Meine Frau war manisch-depressiv und in professioneller Behandlung. Es ging ihr immer wieder sehr schlecht. Aber sie hatte auch gute Zeiten“, sagt ein Witwer, Ende 30. Ihr Suizid kam für ihn sehr überraschend. Doch als er ihre Sachen aufräumte, fand er Abschiedsbriefe. Aus den vergangenen elf Jahren. „Erst da erfuhr ich, wie schlecht es ihr wirklich ging und wie sehr sie mit dem Leben rang“, sagt er.
„Ich dachte, ich kann es nicht aushalten“
Der Suizid eines geliebten Mitmenschen stürzt die Hinterbliebenen nicht selten in eine eigene seelische Krise. In der englischsprachigen Literatur heißen sie suicide survivors. Sie sind die Überlebenden. In der Selbsthilfegruppe ist der Wunsch, ebenfalls zu sterben, ein wiederkehrendes Thema. Auch Patricia Gerstendörfer kennt ihn: „In dem ersten Jahr nach dem Suizid war ich ein einziges Schuldgefühl. Ich dachte, ich habe versagt und kein Recht weiterzuleben.“ Sie hatte nicht nur darüber nachgedacht, sich selbst zu töten, sondern bereits Vorkehrungen getroffen. „Ich dachte, ich kann es nicht aushalten, diesen Schmerz, diese Verzweiflung“, sagt sie.
Studien bestätigen: Suizidhinterbliebene haben ein erhöhtes Risiko für psychische Erkrankungen sowie für Suizidgedanken und -handlungen. In einer aktuellen dänischen Studie begleiteten Wissenschaftler 35 Jahre lang mehr als 15 000 Männer und Frauen, deren Ehepartner durch Suizid verstorben war. Die Betroffenen erkrankten deutlich häufiger an Depressionen, Angststörungen oder einer Alkoholabhängigkeit als die Durchschnittsbevölkerung. Sie litten öfter an Schlafstörungen und fügten sich selbst häufiger Schaden zu als Vergleichspersonen.
„Wir sollten aus Angehörigen aber nicht per se Patienten machen“, mahnt Wolfersdorf. Diese Menschen befänden sich in einer Notsituation, in der Professionelle oder andere Betroffene sie unterstützen könnten und sollten. Schlaflose Nächte, Appetitverlust, tiefe Traurigkeit oder Selbstzweifel: Die akuten Beschwerden einer Trauer halten oftmals sechs bis acht Wochen an und flauen dann langsam ab. Nach einem Dreivierteljahr ist nur noch ein kleiner Teil der Betroffenen weiterhin psychisch stark belastet.
Psychiater sprechen von einer „komplizierten Trauer“, wenn jemand auch nach sechs Monaten noch leidet wie am ersten Tag des Verlusts. Wenn sie oder er Orte meidet, die an den anderen erinnern. Wenn das Gefühl aufkommt, als sei ein Teil von einem selbst mit dem anderen verstorben. Aber: „Auch wer ein ganzes Jahr trauert, ist nicht auch immer gleich krank“, sagt die Leipziger Psychiaterin Kersting. Ein schwerer Verlust brauche nun mal Zeit, um verarbeitet zu werden.
„Ich denke täglich an ihn“
Inzwischen ist es elf Jahre her, dass sich Patricia Gerstendörfers Lebensgefährte das Leben nahm. Sie hat es überlebt. Heute fühlt sie sich besser, doch unbeschwert ist sie nicht. Der Verlust habe ihre Lebensgeschichte komplett umgeschrieben – und bestimmt sie noch immer. „Ich denke täglich an ihn.“ Die neu gewonnene Kraft will Gerstendörfer weitergeben. Die studierte Sonderpädagogin bietet im Rahmen des Vereins AGUS in Berlin einmal in der Woche eine Beratung und Gespräche zur Bewältigung der Trauer an.
AGUS organisiert bundesweit Selbsthilfegruppen. Jeder kann sich an den Verein wenden. „Einige kommen in die Gruppe, kurz nachdem der Suizid stattfand, andere Jahre später. Manche bleiben nur wenige Sitzungen, andere viele Jahre“, berichtet Gerstendörfer. „Meine Seele fühlt sich hier zu Hause“, sagt eine Teilnehmerin, die seit einigen Monaten zu den Treffen kommt. Sie hat ihren besten Freund tot in seinem Zimmer gefunden. „Viele meiner Freunde können es schon nicht mehr hören, aber ich möchte noch immer viel über ihn und seinen Tod sprechen. Hier in der Selbsthilfegruppe finde ich Menschen, die mich verstehen – und weiterhin zuhören“, sagt sie.
Nicht für alle sind Selbsthilfegruppen das Passende. Manche scheuen die Gruppe, andere haben gar keine in ihrer Nähe. Sie können unter anderem im Internet Hilfe finden, etwa in Chatforen mit anderen Betroffenen. Anette Kersting hat mit ihrer Forschungsgruppe sogar erstmals eine Internettherapie für Hinterbliebene von Suizidopfern entwickelt und erprobt. Die 50 Teilnehmer arbeiteten über fünf Wochen hinweg schriftlich ihren Verlust auf und erhielten darauf eine Rückmeldung von geschulten Psychotherapeuten. Im ersten Teil sollten sie sich konkret an den Todesfall erinnern und Gedanken dazu einfach ungebremst aufschreiben. Später baten die Therapeuten sie, einen Brief an eine ausgedachte Freundin zu schreiben, die dasselbe erlebt hat, und ihr Ratschläge zu geben, was ihr helfen könnte. Schließlich sollten sie einen Abschiedsbrief an den Verstorbenen schreiben. Die Befunde zeigen: Die Trauer ließ mithilfe der Onlinetherapie schneller nach als ohne eine solche Unterstützung, zugleich gingen die depressive Stimmung und auch eventuelle Suizidgedanken zurück.
„Ich hätte nicht mehr für ihn tun können“
Falls der Verstorbene in psychologischer oder psychiatrischer Behandlung war, können Hinterbliebene auch das Gespräch mit den Behandlern suchen. Kliniken wird mittlerweile von Fachverbänden empfohlen, einen sogenannten Postventionsplan zu erstellen, also eine Art Notfallplan, falls sich ein Patient im Haus das Leben nimmt. Damit sollen die Angehörigen des Verstorbenen, aber auch Behandler und Mitpatienten aufgefangen werden. „Für den Fall eines Klinikbrandes ist einmal im Jahr eine Schulung Vorschrift, für Suizide nicht. Doch beide Notfälle sind möglich, wenn auch selten“, sagt Katja Becker, Direktorin der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie am Universitätsklinikum Marburg. Mit Kollegen hat sie daher eigens eine Leitlinie für diese Situationen formuliert.
Psychologische Beratungsstellen, Psychotherapeuten oder der eigene Hausarzt sind ebenso mögliche Ansprechpartner. „Der Bedarf ist groß. Denn die Betroffenen sind in etwas hineingeraten, aus dem sie es meist aus eigener Kraft nicht herausschaffen“, erklärt Gerstendörfer. Das Problem sei aber, dass viele der professionellen Helfer kaum Erfahrung mit Trauer oder gar mit Trauer nach einem Suizid hätten. Trauertherapeut John Jordan empfiehlt: „Die Überlebenden müssen Wege finden, sich an den Verstorbenen zu erinnern und sein gesamtes Leben zu würdigen, und zugleich den Suizid in einen Kontext mit diesem Leben stellen.“ Bei Suizidopfern werde das Leben viel zu oft nur über ihre Todesart definiert.
Patricia Gerstendörfer hat mit den Jahren gelernt, ihren verstorbenen Partner als Teil ihrer eigenen Geschichte zu verstehen und ihm in ihrem Alltag Platz zu geben. Anfangs hat sie lange Zeit seine Tagebuchaufzeichnungen gelesen. Sie geht zwar nicht zum Friedhof, aber sie hört weiterhin gern die Musik, die sie beide verband. Manchmal steht sie im Hof ihrer alten Wohnung unter dem Fenster und blickt dorthin hinauf, wo sie ihren Lebensgefährten tot auffand. Sie hat all seine Sachen aufgehoben und auf dem Dachboden gelagert. Schuld ist immer noch ein Thema für sie. Zwar sagt sie heute: „Ich glaube, ich hätte nicht mehr für ihn tun können.“ Doch dieser Gedanke, ergänzt sie, sei noch immer ein fragiles Geschöpf.
Was Hinterbliebene tun können
Gefühle zulassen. Nimmt sich in der Familie, Partnerschaft oder im engen Freundeskreis ein Mensch das Leben, kommt nicht nur Trauer auf, sondern oft auch Wut auf den Verstorbenen: Warum hat er sich mir nicht anvertraut? Therapeuten raten, all diese Gefühle zuzulassen, so widersprüchlich sie auch sind: Sie dürfen das fühlen! Das ist normal!
Schuld abstreifen. Ein Suizid hat meist viele Ursachen und eine Vorgeschichte. Selbst wenn Sie kurz vorher mit dem Suizidenten gestritten haben, war das nicht der Grund für seinen Schritt. Auch ist Suizid selten eine freie Entscheidung, sondern geschieht zu 90 Prozent im Kontext von psychischen Erkrankungen.
Sich selbst helfen. Trauer lähmt. Versuchen Sie, sich selbst zu helfen. Suchen Sie Kontakt, verabreden Sie sich. Nehmen Sie sich etwas vor, bei dem Sie vor die Tür müssen. Tun Sie sich Gutes. Nehmen Sie sich die Zeit, die Sie brauchen.
Hilfsangebote annehmen. Nehmen Sie die Unterstützung von Freunden und Familie an. Genügt Ihnen das nicht, können Gespräche mit anderen Betroffenen in Selbsthilfegruppen – etwa der AGUS oder der Arbeitskreise Leben – guttun. Auch der Austausch in Internetforen wie www.agus-selbsthilfe.de/forum oder www.hoffnungsschimmer-forum.de ist für viele entlastend. Ist das Leid dauerhaft sehr stark, ist psychologische Hilfe angeraten.
Weiterleben. Wenn die akute Trauer verebbt ist, scheuen sich viele, ihr Leben wieder in vollem Maße zu genießen, daran wirklich teilzuhaben. Gestatten Sie sich das. Es ist Ihr Leben, Sie dürfen es leben.
Was andere für Hinterbliebene tun können
Kontakt halten. Melden Sie sich bei den Betroffenen. Haben Sie keine Angst davor, nicht zu wissen, was Sie sagen sollen. Wichtiger für Hinterbliebene ist, dass sie sich nicht gemieden und ausgeschlossen fühlen und dass das Mitgefühl der anderen echt ist.
Zuhören. Beschwichtigende Kommentare wie „Das wird schon wieder“ oder zu viele Fragen zum Suizid helfen Hinterbliebenen wenig. Die beste Unterstützung ist, wenn ihnen jemand zuhört, egal ob es um den Suizid, den Verstorbenen oder die eigenen Gefühle geht. Seien Sie weiterhin für die Hinterbliebenen da, wenn die akute Trauer abgeebbt ist. Auch dann haben viele noch Redebedarf.
Praktisch helfen. Die Trauernden sind oft wie gelähmt. Freunde und Familie können dann im Alltag eine wichtige Stütze sein. Fragen Sie also nach, ob Sie bei Behördengängen helfen, die Kinderbetreuung übernehmen oder bei anderen praktischen Aktivitäten zur Seite stehen können.