Sagen Sie mal, Herr Korte: Verändert das Internet unser Gedächtnis?

Herr Professor Korte, können wir unseren Erinnerungen trauen?

Erinnerungen sind Re-Konstruktionen, die im Moment des Erinnerns geformt werden. Wir erinnern nie das eigentliche Ereignis, sondern nur den letzten Abruf. Dies bedeutet in der Konsequenz, dass wir unsere Erinnerungen hinterfragen und auch kritisch überprüfen sollten. Allerdings sind Erinnerungen auch keine feindlichen Agenten in unserem Kopf, die uns bei jeder Gelegenheit täuschen wollen. Erinnerungen sind eher wie liebenswerte, aber eben auch manchmal unzuverlässige Freunde, auf die man sich überraschend häufig, aber eben nicht immer verlassen kann.

Warum ist Schlaf im Hinblick auf das Gedächtnis so essenziell?

Im Schlaf wird aussortiert, was langfristig erinnert wird von den Tageserlebnissen. Zudem werden im Schlaf die Lernelemente eines Tages der Großhirnrinde immer wieder vorgespielt, Lernstoff wiederholen erfolgt also auch in der Nacht. Entsprechend sollte jeder, der intensiv lernt auch intensiv schlafen, da er so, quasi als Zugabe, die Lernzeit in der Nacht geschenkt bekommt.

Wie viel Multitasking verträgt unser Gedächtnis?

Im engeren Sinne des Wortes kann unser Gehirn überhaupt kein Multitasking. Wir können uns immer nur auf eine Aufgabe voll und ganz konzentrieren. Was wir mit dem Begriff meinen, ist, dass wir schnell zwischen zwei oder mehr Aufgaben hin und her wechseln können. Und auch hier ist das Gehirn überraschend limitiert, denn wenn wir zwei Aufgaben im schnellen Wechsel erledigen, wird die dafür notwendige Rechenkapazität auf das Arbeitsgedächtnis der linken und rechten Großhirnhemisphäre verteilt. Wollen wir mehr Aufgaben im schnellen Wechsel bewältigen, so muss sich schon die dritte Aufgabe den Rechenplatz mit einer Hemisphäre teilen, und wir werden langsamer und fehleranfälliger.

Was macht die Internetnutzung mit unserem Gehirn?

Immer, wenn wir etwas Neues lernen, verändert sich dabei das Gehirn in seiner Struktur und Funktion, dies gilt für das Erlernen digitaler Gewohnheiten genauso wie für jede andere menschliche Tätigkeit. Die Frage ist also mehr, was macht die Art und Weise, mit der wir digitale Medien nutzen, mit unseren Gehirnen? Gerade was Suchmaschinen im Internet angeht, verändert sich die Art und Weise, mit der wir Informationen verarbeiten: Digital Natives machen sich gar nicht mehr die Mühe, neues Wissen abzuspeichern, da sie davon ausgehen, dieses Wissen immer im Internet abrufen zu können. Sie speichern eher Suchstrategien als Inhalte.

Ein gutes autobiografisches Gedächtnis wünscht sich nahezu jeder. Es gibt aber auch Fälle, in denen es zum Fluch werden kann, wie Sie in Ihrem Buch beschreiben?

Ein Fluch wird es vor allem bei Menschen, die nicht mehr vergessen können. Bei jeder Gelegenheit werden in ihnen tausend Erinnerungen geweckt, ohne dass sich diese Menschen noch auf das Wesentliche konzentrieren können. Diese Art des nahezu perfekten autobiografischen Gedächtnisses haben aber bisher nachweislich nur eine Handvoll Menschen. Darüber hinaus gibt es noch Menschen mit einer posttraumatischen Belastungsstörung, allein in Deutschland Zehntausende. Diese Menschen würden gerne bestimmte Ereignisse in ihrem Leben vergessen (oder zumindest emotional mit geringerer Heftigkeit daran erinnert werden). Hier arbeiten klinische Psychologen und Neurowissenschaftler an Therapien, die helfen sollen, dass diese Menschen nicht bei den leichtesten Assoziationen von ihren zu starken Erinnerungen überwältigt und damit handlungsunfähig werden.

Interview: Katrin Brenner-Becker

Martin Korte ist Professor für Neurobiologie an der TU Braunschweig. Seine Forschungsschwerpunkte sind die zellulären Grundlagen von Lernen und Erinnern ebenso wie die Vorgänge des Vergessens.

Martin Kortes Buch Wir sind Gedächtnis. Wie unsere Erinnerungen bestimmen, wer wir sind ist bei DVA (384 S., € 20,–) erschienen.

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 3/2018: Heilkraft Meditation
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