„Die Frage ist: Will ich mich weiter als Opfer fühlen?“

Die Psychotherapeutin Bärbel Wardetzki weiß, wie tief manche Verletzungen gehen. Dennoch meint sie: Wir sollten unsere Lebenszeit nicht an Ohnmacht und Wut verschwenden

Frau Wardetzki, in Ihrem Buch Mich kränkt so schnell keiner! zeigen Sie Wege auf, mit Kränkungen besser umzugehen und nicht alles persönlich zu nehmen. Wenn wir gekränkt sind, fühlen wir uns aber im Kern getroffen und haben den Eindruck, dass andere uns übel mitspielen. Wie kommen wir da heraus?

Bevor ich mich aus dem Kränkungssumpf herausziehen kann, muss ich mir erst mal eingestehen, dass ich gekränkt bin, und anerkennen, ja, diese Kritik hat mich sehr getroffen, diese Reaktion tut mir weh, und ich bin…

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bin, und anerkennen, ja, diese Kritik hat mich sehr getroffen, diese Reaktion tut mir weh, und ich bin völlig von der Rolle. Meist wehren wir jedoch unsere Scham, unseren Schmerz oder unsere Angst ab und reagieren sofort mit Schuldzuweisungen. Der andere ist gemein und böse, und ich armer Tropf muss leiden. Statt zu sagen: Ich bin gerade sehr getroffen und komme damit nicht klar. Das ist eine ganz andere Dimension. Wenn ich meine Gefühle wahrnehme, bin ich nicht mehr gekränkt, sondern ängstlich, traurig, wütend oder beschämt. Daraus erwächst die Kraft, mich zu wehren und innerlich wieder stabil zu werden. Ziehe ich mich beleidigt zurück und lecke meine Kränkungswunden, kann ich das nicht.

Wenn wir gekränkt sind, wollen wir dies aber oft nicht eingestehen. Diese Blöße wollen wir uns nicht geben. Ist das nicht verständlich?

Verständlich ist es, aber nicht hilfreich. Mit dieser Abwehrstrategie schwächen wir uns und machen alles nur noch schlimmer. Wenn ich meine Verletzung gelten lassen und vielleicht sogar aussprechen kann, kommt sofort Ruhe in mein inneres System, weil ich plötzlich kongruent bin. Und von da aus kann ich schauen, ob ich in diesem unangenehmen Gefühl der Kränkung drinbleiben möchte oder mir das irgendwann zu anstrengend wird. Die häufigsten Zustände in Kränkungssituationen sind Ohnmacht, Minderwertigkeitsgefühle, Racheimpulse, Trotz, Empörung und Wut. Vielleicht kommt der Punkt, an dem ich keine Lust mehr habe, mir meine schöne Lebenszeit damit kaputtzumachen. Dann kann ich anfangen zu sortieren. Bin ich überhaupt gemeint? Muss ich mich persönlich getroffen fühlen? Oder hat das, was mich so trifft, vielleicht gar nichts mit mir zu tun?

Das ist manchmal nicht so leicht zu erkennen. Woran merken wir, dass uns etwas verletzt, was gar nicht persönlich gemeint ist?

Oft brauchen wir dafür einen Impuls von außen. Ich hatte vor kurzem eine Situation, in der ich durch eine gesetzliche Regelung sehr benachteiligt wurde. Ich fühlte mich gekränkt und zurückgesetzt, war auf der einen Seite stinksauer und erlebte mich auf der anderen Seite hilflos ausgeliefert. So eine himmelschreiende Ungerechtigkeit passierte gerade mir. Was für eine Zumutung! Eine Freundin machte mich darauf aufmerksam, dass ich die Situation persönlich nehme. Da wurde mir erst klar, dass diese blödsinnige Regelung mit mir als Person überhaupt nichts zu tun hat und andere genauso betrifft. Was rege ich mich also auf? Ich kann mich noch weiter festbeißen, gegen Windmühlen kämpfen und so richtig mies draufkommen oder loslassen und dafür sorgen, dass es mir besser geht. Die Regelung werde ich auch weiter kritisieren, aber ich habe mich davon nicht weiter runterziehen lassen und das Beste aus der Situation gemacht. Heute kann ich darüber lachen. Sie sehen, auch als Kränkungsexpertin bin ich voll in den Schlamassel reingerasselt, aber zum Glück habe ich auch schnell wieder herausgefunden.

Was ist entscheidend, um das Ruder herumzureißen und nicht noch tiefer im Kränkungssumpf zu versinken?

Ganz wesentlich ist, dass ich die Verantwortung wieder zu mir nehme. Wenn ich gekränkt bin, gebe ich meist automatisch anderen die Verantwortung für mein Leid: dem unsensiblen Partner, der ignoranten Chefin, der treulosen Freundin oder in meinem Fall dem ungerechten Versorgungssystem. Doch wenn ich das tue, habe ich keine Chance, etwas zu verändern. Der Umkehrschluss, um aus den Kränkungen herauszukommen, ist, zu sagen, hier geschieht etwas, was mich tief erschüttert und aus der Bahn wirft, und ich übernehme die Verantwortung für das, was in mir passiert und wie ich damit umgehe. Ich sorge dafür, dass es mir wieder besser geht. Wenn ich die Verantwortung beim anderen lasse, habe ich diese Option nicht.

Sie sagen, es ist eine Frage der Entscheidung, ob wir gekränkt bleiben oder eine Kränkung überwinden. Haben wir wirklich immer die Wahl?

Die haben wir in jeder Situation, aber es ist natürlich sehr verführerisch, darüber zu jammern, wie gemein die anderen sind. Ich habe mich früher selbst gerne beklagt, statt konstruktiv etwas zu unternehmen. Die Opferrolle erscheint zunächst attraktiv, aber sie führt psychologisch in die Sackgasse, denn als Opfer kann ich nichts tun. Die Frage ist: Will ich mich weiter als Opfer fühlen oder den Racheengel spielen? Oder will ich mich wieder gut und integriert fühlen und versuchen, das Problem, das mit der Kränkung zusammenhängt, konstruktiv zu lösen? Ich finde es auch völlig in Ordnung, zu sagen, im Moment geht es mir so schlecht, und ich kann gerade nichts dagegen tun. Niemand verlangt, dass wir in jeder Kränkungssituation sofort den Durchblick haben und den Schalter umlegen können.

Genau das hätten wir aber gerne. Ist die Sehnsucht nach dem dicken Fell nicht genau deshalb so groß, weil wir uns wünschen, ganz schnell wieder selbstbewusst und obenauf zu sein?

Es reicht aber nicht, das Fell einmal anzuziehen; ich muss jeden Tag darauf achten, dass ich mich nicht zu sehr von dem beeinflussen lasse, was mir nicht guttut und nicht gefällt. Für mich ist das Fell die Haut. Die Haut ist neben der Lunge das einzige Organ, das direkt im Kontakt mit der Umwelt steht. Darf ich meine eigenen Entscheidungen treffen? Darf ich bei mir bleiben? Muss ich mich anpassen? Darf ich Aggressionen nach außen zeigen? Mit diesen Fragen müssen wir uns auseinandersetzen, wenn wir uns ein dickeres Fell zulegen und weniger kränkbar sein möchten. Das ist tägliche Arbeit. Und dieser Arbeit stellen wir uns nicht so gerne.

Bärbel Wardetzki ist Psychotherapeutin und Supervisorin in München und hat mehrere erfolgreiche Sachbücher zum Thema Kränkung veröffentlicht.

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 6/2016: Drüber stehn!