Das Erwachsensein genießt keinen so guten Ruf. Es ist die Rede von ständigem Leistungs- und Verantwortungsdruck, erschöpfendem Leerlauf, Stress und chronischen Erkrankungen, Verlust von Spontaneität und Kreativität, von Erstarrung in Traditionen und Konventionen oder von quälender Sinnleere.
„Das vorherrschende Bild des Erwachsenseins vermengt all diese Bedeutungen zu einem einzigen sauren Gebräu“, schreibt die US-amerikanische Philosophin Susan Neiman. Und tatsächlich leben wir als Erwachsene allzu oft in…
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US-amerikanische Philosophin Susan Neiman. Und tatsächlich leben wir als Erwachsene allzu oft in dieser Verfassung.
Bei genauerem Hinschauen aber kann uns nichts Besseres, nichts Beglückenderes widerfahren als das Erwachsensein. Denn wenn wir erwachsen werden, führt dieser Prozess unser Bewusstsein aus der Enge und der Gefangenschaft der kindlichen Vorstellungen heraus.
Kinder haben oft viel weniger zu lachen als Erwachsene. Sie deuten in ihren Bewusstseinsgrenzen ihre Lebenswirklichkeit immer wieder zu ihren Ungunsten und verknüpfen Ursachen und Wirkungen oft auf eine Weise, die für sie belastend oder gar ängstigend ist. Wenn wir die viel größeren Möglichkeiten unseres erwachsenen Bewusstseins nutzen und ausschöpfen, so lebt es sich freier, als das vielen von uns als Kind möglich war.
Das geschieht natürlich nicht von selbst, sondern braucht Einsicht, Förderung und Übung. Unser Bewusstsein wachsen und erwachsen werden zu lassen ist wie das Erlernen eines Musikinstruments, auf dem wir mit der Zeit immer schönere Töne hervorbringen.
Der erwachsene Umgang mit kindlichen Illusionen
Am Ende einer Selbsterfahrungsgruppe kam in der Abschlussrunde die Reihe an einen Mann, der strahlend feststellte: „Es geht mir sehr gut. Ich habe hier alle Hoffnung verloren.“ Seine Ausstrahlung war so positiv und seine Wärme so ansteckend, dass wir mit ihm zu dem Schluss kamen, er sei nun wohl „positiv hoffnungslos“. Gemeint war damit ein Zustand, der eintreten kann, wenn wir alle kindlichen illusionären Hoffnungen aufgeben können. Die Freiheit, die wir damit gewinnen, lohnt es, die Voraussetzungen dafür genauer zu untersuchen.
In den ersten Lebensjahren entstehen unsere Selbstbilder, das heißt unsere Überzeugungen und Gewissheiten, die Art, wie wir uns selbst sehen und wer wir zu sein glauben. Wir nennen diese seelische Struktur auch „Ich“ oder „Ego“. Die Selbstbilder sind das Resultat unserer Erfahrungen und unserer Bemühungen darum, sicher dazugehören zu können.
Zum Beispiel können wir überzeugt sein, wir würden wirklich nur dann akzeptiert, wenn wir immer erst das Wohl aller anderen sehen und uns selbst stets hintanstellen. Selbstbilder wie dieses garantieren unsere „sichere“ Zugehörigkeit.
Wenn Eltern durch eigenes Schicksal und Leiden belastet sind und sich deshalb ihrem Kind nur eingeschränkt oder gar nicht zuwenden können oder es missbrauchen, entstehen im Kind machtvolle Überzeugungen und Selbstbilder, um mit dieser unerträglichen Realität umzugehen. Das in dem späteren Erwachsenen fortlebende Kind ist dann unter Umständen für sein ganzes Leben von Illusionen wie den folgenden überzeugt: „Irgendwie liegt es auch an mir, und ich bin mit daran schuld, dass Mutter/Vater mich nicht sehen und mich so behandeln. Irgendetwas ist an mir nicht richtig, stimmt nicht. Es ist also meine Aufgabe und meine Verantwortung, mich so zu ändern, dass Mutter/Vater erleichtert sind, es ihnen bessergeht und sie sich dann auch mir zuwenden können. Ich muss herausfinden, was an mir nicht in Ordnung ist, und es dann ändern. Wenn ich mich nur genügend anstrenge, wenn ich mir alle Mühe gebe, mich zu ändern, so wie meine Eltern das möchten und brauchen, dann werden sie mich endlich sehen und annehmen und mich lieben.“
Die Hoffnung auf eine bessere Vergangenheit aufgeben
Die Angst, unsere ursprüngliche Zugehörigkeit zu verlieren, kann uns das ganze Leben lang begleiten. Da wir aber Bewusstsein besitzen und entwickeln können – Selbstreflexion, Einsicht und Weisheit –, sind wir zu dieser Angst nicht „auf lebenslänglich“ verurteilt, sondern imstande, davon frei zu werden. Wir können die Hoffnung auf eine bessere Vergangenheit aufgeben. Allerdings stoßen wir bei diesem Prozess auf den Wächter, eine aus Kinderangst genährte Struktur unseres Bewusstseins, die unser kindliches Selbstbild und damit unsere sichere Zugehörigkeit mit aller Macht und unter Strafandrohung bewahren will. Wir kennen diesen Wächter auch als „strenges Gewissen“ oder als das „Über-Ich“ der Psychoanalyse. Der gesunde Anteil des Wächters besteht in Orientierung und Schutz, die unsere Eltern und Nächsten uns mitgegeben haben, zum Beispiel beim Umgang mit Feuer, beim Verhalten im Straßenverkehr und bei vielen anderen Gefahren. Der ungesunde Anteil des Wächters aber insistiert auf Stillstand und Nichtentwicklung, auf Kindbleiben und Nichterwachsenwerden. Immer dann, wenn wir uns aus dem Kraftfeld unserer Eltern und Herkunft lösen wollen, meldet sich der Wächter und will uns aufhalten. Angst ist sein mächtigstes Mittel: die Angst, im Leben die falsche Richtung einzuschlagen, zu versagen und zu scheitern, die Angst, den eigenen Wahrnehmungen, Gefühlen und Wünschen nach Veränderung nicht trauen zu können und ‚verrückt‘ zu sein, die Angst, dass es nicht gutgehen wird.
Die einschüchternden und lähmenden Argumente des Wächters sind ausschließlich gespeist aus den ersten Kindheitsjahren, der damals realen Abhängigkeit, den daraus entstandenen Selbstbildern und der Überzeugung, dass diese vergangenen Verhältnisse noch immer Gültigkeit haben. Wir leben dann in einer Art ewig gegenwärtiger Vergangenheit, in einem schweren Irrtum in der Zeit und abgeschnitten von der Wirklichkeit der aktuell gegebenen Lebensumstände. Wenn wir unsere Selbstentfaltung und Lebensfreude dem Wächter opfern, um illusionäre Liebesziele bei unseren Eltern und bei denen zu erreichen, die später für sie stehen – zum Beispiel Partnern –, können daraus nicht nur seelische, sondern auch ernste körperliche Krankheiten resultieren. Dazu muss es aber nicht kommen.
„Willst du mich überwinden, so musst du wachsen.“ So könnte der Wächter zu uns sprechen, wenn er sein Geheimnis preisgäbe. Wie also sehen die Schritte auf unserem Weg zur erwachsenen positiven Hoffnungslosigkeit aus?
Wir sind schon erwachsen – auch wenn wir das noch nicht fühlen. Dieser Schritt beinhaltet die Einsicht, dass ein kleines Kind sein Leben sehr wohl bedroht sieht, wenn es nicht liebevoll wahrgenommen, nicht genügend gesehen oder sogar abgelehnt wird; dass diese Zeit für den Erwachsenen nun aber vorbei ist, der ganz andere Möglichkeiten als das Kind hat. Auch wenn der Erwachsene sich noch so wie das damalige Kind fühlen mag.
Verzicht – der Schlüssel zur Gefängnistür. Mit „Verzicht“ verbinden wir oft etwas Negatives, Schmerzliches und Schales. Verzicht kann aber der „Königsweg in die Freiheit“ sein. Bildlich gesprochen stehen viele Menschen vor ihren Eltern – und warten. Sie warten darauf, dass von den Eltern endlich noch das kommt, was gefehlt hat: liebevolle Zuneigung, Schutz, Unterstützung, Trost, Anerkennung, Stolz, Bekenntnis eigener Schuld, Bedauern … So als sagten die schon längst erwachsenen Kinder zu ihren Eltern: „Erst wenn ich das endlich von euch bekomme, bin ich fähig und frei, mein eigenes Leben zu leben. So lange muss ich eben warten.“ Dieser Ort– vor den Eltern stehen und warten – ist ein Gefängnis, man kann dort lebenslänglich einsitzen. Das Leben rauscht an diesem Ort vorbei.
Verzicht fällt uns nicht in den Schoß, er ist das Resultat von viel Arbeit. Die nach langer Zeit errungene Einsicht, dass die Eltern nicht in der Lage waren, uns, dem Kind das Entbehrte zu geben, kann schließlich ermöglichen, die Eltern und uns selbst nicht mehr länger mit illusionären Erwartungen und Hoffnungen zu bedrängen.
Verzicht ist das Gegenteil von Resignation. Wer eines Tages bewusst verzichten und positiv hoffnungslos werden kann, der richtet sich auf, erlebt mehr Weite und atmet die frische Luft von Freiheit. Wer resigniert bleibt und vielleicht sagt: „Na ja, okay, es hat keinen Sinn, ich lasse halt los“, der sinkt dabei zusammen, fühlt sich matt und ist untergründig wütend.
Verzicht ist also die Befreiung aus dem Gefängnis illusionärer Hoffnungen und nicht etwa der endgültige Absturz in die Hölle ewigen Mangels – so fürchten wir als Kinder. Die Welt in ihrem Reichtum und ihrer Schönheit kann sich uns erst zeigen, wenn wir die Eltern mit allem Respekt zurücklassen. Erst dann können wir die früher erlebte Not heute im Zusammensein mit anderen Menschen und in besseren Umständen ausgleichen und befrieden.
Geschichte verstehen. Unterstützend für diesen Prozess des Verzichtens sind natürlich all die Einsichten, die uns die eingehende Beschäftigung mit der Familiengeschichte geben kann: die eigenen Verstrickungen der Eltern über die Generationen und ihre Schicksalsbindungen aus Krieg, Vertreibung, schwerem Verlust und anderen großen Ereignissen. Diese sind ja nicht durch uns, die Kinder unserer Eltern, verursacht, sodass wir zwar davon berührt, aber nicht für deren Lösung zuständig und verantwortlich sind.
Erwachsener Umgang mit dem Wächter. Wir haben von der Bedeutung und den Wirkungen des Wächters gehört, dessen Funktion sich zum Beispiel in ständiger Unruhe, Gefühlen wie „Es ist nie genug“, geringem Selbstwert oder Freudlosigkeit äußern sowie zu körperlichen Beschwerden und Krankheiten führen kann. Zwei Dinge beim erwachsenen Umgang mit dem Wächter sind besonders wichtig: Erstens liegt es in seiner Natur, dass er immer dann aktiviert wird, wenn wir den Entschluss fassen, uns weiterzuentwickeln. Wir provozieren damit die kindliche Angst, die Bedingungen unserer Zugehörigkeit zu verletzen, und fürchten dann Ablehnung, Verurteilung und Einsamkeit. Als Erwachsene wissen wir: Diese Gefühle sind zu erwarten, sie gehören zum Wachsen dazu und bedeuten keinesfalls, dass ich etwas falsch mache, dass ich immer scheitern muss oder etwas Ähnliches. Sondern vielmehr, dass ich auf dem richtigen Weg bin. Angenehm ist das nicht, aber das hat uns auch niemand versprochen. Es ist im Wortsinn not-wendig: zum Wenden der Not. Zum Zweiten sind wir dem Wächter nicht hilflos ausgeliefert, sondern es gibt viele Techniken, das heißt kunstfertige Anwendungen von Wissen, mit denen wir dem Wächter wirkungsvoll begegnen können.
Die vernichtendste Behandlung eines Gegners ist, ihn nicht einmal zu ignorieren. Das gilt auch für den Wächter. Er hat keine Weisheit, kein überlegenes Wissen. Ursprünglich diente er unserem Überleben und der Sicherstellung unserer Zugehörigkeit. Heute aber ist er ein Irrtum in der Zeit, ist substanzlos und hat längst ausgedient.
Argumentieren oder verhandeln, umstimmen, geneigt machen, sich verteidigen oder rechtfertigen– all das ist überflüssig und untauglich, und es kommt aus unserer Kinderseele, die dem Wächter noch imaginäre Macht gibt. Wir sind aber erwachsen und können klar Stellung beziehen gegenüber den Symptomen des Wächters, nachdem wir sie deutlich als solche erkannt haben. Dazu kann gehören: sich an die Substanzlosigkeit, die Leere des Wächters zu erinnern und ihn zu ignorieren. Ohne weitere Auseinandersetzung Abstand zu nehmen, durchaus mit ein paar Schritten rückwärts, konkret oder als innere Bewegung. Und schließlich kann es gelegentlich angemessen sein, den Symptomen des Wächters ein entschiedenes und lautes „Nein!“ mit entsprechender abgrenzender Gestik entgegenzusetzen.
Die Früchte ernten. Die tiefste Lösung für diese Konflikte liegt am Ende in unserem Innersten, dort, wo wir immer unversehrt waren und sind und wo wir fraglos zugehörig waren und bleiben. Dieser Raum des Nichtbedingten wird von allen spirituellen Traditionen als die „wirklichste aller Wirklichkeiten“ beschrieben, mit der Zusicherung, für jeden Menschen unmittelbar zugänglich und erfahrbar zu sein. Ein Sufi sagt von dieser Wirklichkeit, sie sei „uns näher als der eigene Herzschlag“, und bestätigt damit, dass wir längst dort angekommen und heimisch sind, wonach wir uns immer gesehnt haben, weil wir tatsächlich nie davon getrennt waren. Diese Erfahrung setzt voraus, dass wir unsere Hausaufgaben hinsichtlich positiver Hoffnungslosigkeit sorgfältig und geduldig erledigen. Das führt schließlich dorthin, dass wir zu unseren Eltern sagen können: „Heute brauche ich euch und eure Zuwendung nicht mehr so wie damals. Ich bin erwachsen. Und ich bin frei und achte euch genau so, wie ihr wart und heute seid. Und dass ich diese Freiheit gewinnen konnte, verdanke ich euch – dem Leben, das von euch kommt, und den reichen Möglichkeiten, die darin liegen.“
Dr. Albrecht Mahr ist Psychoanalytiker und Facharzt für psychosomatische Medizin und Psychotherapie. Er arbeitet in eigener psychoanalytisch-systemischer Praxis in Würzburg, leitet das Institut für Systemaufstellungen und Integrative Lösungen (ISAIL) und gibt weltweit Trainings in der Kunst des Erwachsenseins. Kontakt: www.mahrsysteme.de.
Der vorliegende Text ist Auszug aus seinem aktuellen Buch, das dieser Tage unter dem Titel Von den Illusionen einer unbeschwerten Kindheit und dem Glück, erwachsen zu sein im Scorpio-Verlag München erscheint.