Kopf oder Bauch: Wie treffen Sie Entscheidungen?

Menschen fällen Entscheidungen auf unterschiedlichen Wegen. Worin unterscheiden sich Kopf- und Bauchmenschen? Welche Strategie ist besser?

Im Juni 2005 hielt Apple-Gründer Steve Jobs vor frischgebackenen Absolventen der Eliteuniversität Stanford eine sehr persönlich gefärbte Rede. Jobs erzählte von seinem etwas holprigen Start ins Leben: Seine leibliche Mutter hatte ihn zur Adoption freigegeben. Sie hatte seinen Adoptiveltern jedoch ein Versprechen abgerungen: Ihr Sohn solle später eine Universität besuchen. 17 Jahre später begann Jobs tatsächlich ein Studium an einer kleinen, sündhaft teuren Privathochschule in Oregon. Schon nach einem halben…

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an einer kleinen, sündhaft teuren Privathochschule in Oregon. Schon nach einem halben Jahr schmiss er hin: „Ich hatte keine Idee, was ich mit meinem Leben anstellen wollte. Ich wusste auch nicht, wie mir mein Studium helfen sollte, das herauszufinden. Und dennoch war ich hier und gab die gesamten Ersparnisse meiner Eltern aus. Also beschloss ich, aufzuhören– es würde schon irgendwie gutgehen. Es war eine der besten Entscheidungen, die ich jemals getroffen habe.“ Manchmal, so räsonierte Jobs, müsse man darauf bauen, dass sich die Punkte irgendwann in der Zukunft zu einem Bild verbinden. „Du musst auf irgendetwas vertrauen – dein Bauchgefühl, Schicksal, Leben, Karma, was auch immer.“

Auch in anderen Zusammenhängen betonte der Computerpionier immer wieder, wie wichtig es sei, auf seine innere Stimme zu hören. Jahre nach seiner Stanford-Rede diktierte er seinem Biografen Walter Isaacson in die Feder: „Intuition ist eine sehr mächtige Sache, meiner Meinung nach noch mächtiger als der Intellekt. Das hatte einen großen Einfluss auf meine Arbeit.“

Jobs’ Kontrahent, der Ex-Microsoft-Chef Bill Gates, propagiert dagegen eine ganz andere Strategie, mit Problemen umzugehen. Die Suche nach einer Lösung durchlaufe immer wieder dieselben vier Schritte, gab er 2007 Harvard-Studenten mit auf den Weg: „Bestimme ein Ziel. Finde den wirksamsten Ansatz. Identifiziere die ideale Technologie für diesen Ansatz. Solange diese nicht verfügbar ist, nutze die Möglichkeiten, die du schon hast.“

Steve Jobs, der visionäre Bauchmensch – Bill Gates, der rationale Technokrat: Das ist sicher ein sehr schwarz-weiß gezeichnetes Bild der beiden Manager, die die Computerbranche in den letzten Jahrzehnten maßgeblich geprägt haben. Dass Menschen Informationen unterschiedlich verarbeiten, ist heute aber weitgehend unstrittig. Manche denken eher systematisch und bewerten sorgfältig die möglichen Alternativen. Andere folgen ihrem Instinkt und treffen die Wahl, die sich richtig „anfühlt“. Psychologen sprechen von unterschiedlichen kognitiven Stilen – dem systematischen (oder rationalen) und dem intuitiven Stil.

Ob wir uns eher systematisch oder eher intuitiv entscheiden, scheint ein sehr stabiler Wesenszug zu sein. „Wir haben zwar beide Systeme – das intuitive und das systematische“, erklärt die israelische Psychologin Lilach Sagiv von der Hebrew University of Jerusalem. „Mit der Zeit entwickeln wir aber eine feste Vorliebe für einen der beiden Denkstile.“ Viele Forscher sind davon überzeugt, dass sich diese Vorliebe im Laufe des Lebens nur wenig ändert. Aus einem Bill Gates wird nie ein Steve Jobs, aus einem Captain Kirk nie ein Mr. Spock, aus einer Claudia Roth nie ein Wolfgang Schäuble: einmal Bauchmensch, immer Bauchmensch. (Zu welcher Gruppe Sie gehören, können Sie anhand des Selbsttests auf Seite 72 abschätzen.)

Der bevorzugte kognitive Stil scheint zudem einen bedeutenden Einfluss auf wichtige Lebensentscheidungen zu haben. Das konnte Lilach Sagiv zusammen mit Kollegen in einer Reihe von Studien zeigen. So beeinflusst unser Denkstil die Wahl des Studiengangs: Kunststudenten denken in der Regel eher intuitiv, Studenten des Rechnungswesens dagegen eher rational. Angehende Mathematiker finden sich irgendwo in der Mitte. Das ist nur auf den ersten Blick erstaunlich: „Um einfache Matheaufgaben zu lösen, muss man nur systematisch die entsprechenden Regeln anwenden“, erklärt Lilach Sagiv. „Bei komplexeren Problemen braucht man dagegen auch Intuition.“

Das Arbeitsgedächtnis für die Ratio, das Langzeitgedächtnis für die Intuition

Wieso denken manche systematisch, andere intuitiv? Der Bremer Hirnforscher Gerhard Roth vermutet den Grund in der Kapazität des Arbeitsgedächtnisses. Dort findet die bewusste, systematische Verarbeitung von Informationen statt. Das Arbeitsgedächtnis habe aber eine sehr geringe Kapazität, erklärt Roth (siehe Interview auf Seite 73). Bei zu viel Input qualmt uns daher schnell der Kopf. Wann dieser Punkt erreicht ist, ist weitgehend genetisch bestimmt und lässt sich kaum trainieren. Manche Menschen haben also von Geburt an ein leistungsfähigeres Arbeitsgedächtnis als andere. Sie denken einer australischen Studie zufolge häufig rationaler – vermutlich einfach deshalb, weil es ihnen leichterfällt.

Bei sehr komplexen Aufgaben stößt aber auch ein leistungsfähiges Arbeitsgedächtnis an seine Grenzen. In diesen Fällen kommen wir mit einer bewussten logischen Analyse nicht weiter. Wir haben aber glücklicherweise ein zweites System, das uns in diesen Fällen unter die Arme greift: unsere Intuition. Sie hat ihre Wurzeln im Langzeitgedächtnis – genauer gesagt in den Regionen, in denen wir unsere Erfahrungen speichern. Das Langzeitgedächtnis analysiert jede neue Situation und fragt sich: Was habe ich in der Vergangenheit bei ähnlichen Problemen gemacht? Und hatte ich damit Erfolg? Es erlaubt uns so, erprobte und für gut befundene Lösungen zu recyceln.

Steve Jobs hat also recht, wenn er Intuition als wichtige Ressource begreift. Er steht damit übrigens nicht allein: Britische Forscher haben vor einigen Jahren Börsenhändler befragt, nach welchen Kriterien sie ihre Anlageentscheidungen treffen. Gerade die erfolgreichsten Trader verwiesen immer wieder auf die wichtige Rolle der Intuition. Sie folgen ihrem Instinkt allerdings nicht blind, sondern versuchen herauszufinden, welche Wurzeln ihre Bauchgefühle haben. So können sie besser einschätzen, ob sie ihnen vertrauen können.

Das Beispiel zeigt, dass beide kognitiven Systeme im Idealfall Hand in Hand arbeiten. „Am besten ist es, komplexe Sachverhalte zunächst einmal rational zu durchdenken“, rät der Hirnforscher Gerhard Roth. „Bei Entscheidungsprozessen zum Beispiel können Sie so die unsinnigen Alternativen schon einmal aussieben. Was übrig bleibt, ist aber häufig immer noch sehr kompliziert. Dann sollten Sie sich sagen: Jetzt höre ich auf, und morgen treffe ich meine Wahl.“

Weibliche Intuition? – Fehlanzeige!

Mit Intelligenz hat der bevorzugte kognitive Stil übrigens rein gar nichts zu tun. Lilach Sagiv spricht daher auch ungern von einer „rationalen“ Denkweise. „Ich bevorzuge den Begriff ,systematisch‘ – rational hat bei uns im Westen den Beigeschmack, dem intuitiven Stil überlegen zu sein.“ Fehlanzeige auch bei der vielbeschworenen „weiblichen Intuition“: Es gibt ähnlich viele intuitive Männer wie Frauen. Darin sind sich Psychologen inzwischen weitgehend einig.

Bauchmenschen meiden die Routine. Sie mögen es, ständig vor neue Herausforderungen gestellt zu werden, konnte Lilach Sagiv zeigen. Sie sind zudem extravertierter und weniger gewissenhaft als Kopfmenschen. Letztere arbeiten dagegen gerne nach festen Regeln – wahrscheinlich auch, weil diese ihnen Sicherheit geben.

In diesem Zusammenhang hat Sagiv in einem Experiment Überraschendes zutage gefördert: Kreativität galt bislang als ein Feld, auf dem intuitive Menschen systematischen überlegen sind. Bauchmenschen falle es leichter, out of the box zu denken, ungewöhnliche Assoziationen zu bilden und zu originellen Lösungen zu kommen, so die vorherrschende Meinung. Doch auch ein Mr. Spock kann überraschend kreativ sein, wenn man ihm durch Regeln Halt gibt: Sagiv gab Kopfmenschen eine Schritt-für-Schritt-Anweisung an die Hand, nach der diese eine Werbeanzeige für einen Joggingschuh entwerfen sollten. Anschließend ließ sie die Ergebnisse von Werbeprofis bewerten. Die Konzepte der Kopfmenschen ernteten ähnlich gute Noten wie die der Bauchmenschen.

Wann der Bauch den Kopf schlägt

In einem anderen Punkt schlägt der Bauch allerdings häufig den Kopf: Die innere Stimme kann eine enorme Überzeugungskraft entfalten. Menschen, die sich hautkrebsgefährdet fühlen, sind oft sehr konsequent bei der Prophylaxe. Sie meiden beispielsweise die Sonne und cremen sich häufiger ein. Menschen, die lediglich rational um ihr Risiko wissen, folgen den Empfehlungen dagegen weit seltener. Ähnlich sieht es bei der Berufswahl aus, wie eine israelische Studie zeigen konnte: Probanden, die sich systematisch mit den Merkmalen verschiedener Berufe auseinandersetzen mussten, vertrauten ihrer Wahl nachher weniger als Versuchspersonen, die sich intuitiv entschieden hatten.

Diese Macht der Intuition kann uns jedoch ganz gehörig aufs Glatteis führen. Ein besonders schönes Beispiel bewog den Spiegel 1991 zu einem ziemlich hämischen Artikel. Anlass war ein Leserbrief, den die US-Journalistin Marilyn vos Savant einige Monate zuvor bekommen hatte, und zwar in Zusammenhang mit einem beliebten Showrätsel:

Stellen Sie sich vor, Sie müssten als Teilnehmer an einer Gameshow eine von drei Türen auswählen. Hinter einer Tür befindet sich der Gewinn, ein Auto, hinter den beiden anderen befinden sich dagegen Ziegen. Sie wählen Tür 1, die allerdings zunächst verschlossen bleibt. Der Showmaster, der weiß, was sich hinter den jeweiligen Türen befindet, muss nun stattdessen eine der beiden anderen Türen öffnen, und zwar eine, hinter der sich eine Ziege befindet. Er öffnet also zum Beispiel Tür 3, und tatsächlich erscheint dahinter die Ziege. Nun fragt er Sie, ob Sie bei Tür 1 bleiben oder stattdessen Tür 2 wählen wollen. Sollte man besser wechseln?

Vos Savant riet dazu, auf jeden Fall zu wechseln – so könne der Kandidat seine Gewinnchance aufs Doppelte steigern. In den darauffolgenden Wochen erhielt die Journalistin mehr als 10 000 Zuschriften. Die meisten Briefeschreiber widersprachen; viele verhöhnten sie oder bezeichneten sie gar selbst als „Ziege“. Die erbittertsten Kritiker seien Mathematiker und Wissenschaftler gewesen, schrieb der Spiegel später.

So wenig intuitiv ihr Rat erscheinen mag: Marilyn vos Savant hatte tatsächlich recht. Um das zu zeigen, bedarf es nicht einmal besonders großer logischer Klimmzüge (mehr dazu: http://de.wikipedia.org/wiki/Ziegenproblem). Vielleicht benötigt man aber einen besonders großen Geist, um sich über die Macht der Intuition hinwegzusetzen: Vos Savant hat einen der höchsten Intelligenzquotienten, die jemals gemessen wurden.

Literatur

  • Lilach Sagiv, Adi Amit, Danit Ein-Gar, Sharon Arieli: Not all great minds think alike: Systematic and Intuitive cognitive styles. Journal of Personality, 82/5, 2014, 402–417. DOI: 10.1111/jopy.12071

  • Eyal Winter: Kluge Gefühle. Warum Angst, Wut und Liebe rationaler sind, als wir denken. DuMont, Köln 2014

Sind Sie ein Bauchmensch?

Beantworten Sie die folgenden Fragen und addieren Sie die hinter Ihrer jeweiligen Wahl stehenden Ziffern. Je geringer Ihre Gesamtpunktzahl ausfällt, desto mehr hören Sie auf Ihre innere Stimme. Ausgeprägte Bauchmenschen erreichen Werte von 20 oder niedriger. Bei 40 oder mehr Punkten vertrauen Sie dagegen weitgehend Ihrer Ratio.

1. Bevor ich etwas Wichtiges tue, plane ich meine Handlungen sorgfältig.

Trifft überhaupt nicht zu (1)

Trifft eher nicht zu (2)

Trifft manchmal zu und manchmal nicht (3)

Trifft eher zu (4)

Trifft vollkommen zu (5)

2. Ich folge oft meinem Instinkt.

Trifft überhaupt nicht zu (5)

Trifft eher nicht zu (4)

Trifft manchmal zu und manchmal nicht (3)

Trifft eher zu (2)

Trifft vollkommen zu (1)

3. Ich weiß, dass eine Vorgehensweise zu mir passt, wenn sie sich „richtig“ anfühlt.

Trifft überhaupt nicht zu (5)

Trifft eher nicht zu (4)

Trifft manchmal zu und manchmal nicht (3)

Trifft eher zu (2)

Trifft vollkommen zu (1)

4. Bevor ich eine Aufgabe beginne, sammle ich alle Informationen, die ich dazu benötigen werde.

Trifft überhaupt nicht zu (1)

Trifft eher nicht zu (2)

Trifft manchmal zu und manchmal nicht (3)

Trifft eher zu (4)

Trifft vollkommen zu (5)

5. Wenn ich etwas sehr Wichtiges mache, bemühe ich mich, meinen Arbeitsplan einzuhalten.

Trifft überhaupt nicht zu (1)

Trifft eher nicht zu (2)

Trifft manchmal zu und manchmal nicht (3)

Trifft eher zu (4)

Trifft vollkommen zu (5)

6. Ich beginne oft mit einer Aufgabe, ohne zu wissen, was ich genau tun werde.

Trifft überhaupt nicht zu (5)

Trifft eher nicht zu (4)

Trifft manchmal zu und manchmal nicht (3)

Trifft eher zu (2)

Trifft vollkommen zu (1)

7. Ich treffe Entscheidungen normalerweise in einer systematischen und organisierten Weise.

Trifft überhaupt nicht zu (1)

Trifft eher nicht zu (2)

Trifft manchmal zu und manchmal nicht (3)

Trifft eher zu (4)

Trifft vollkommen zu (5)

8. Wenn ich mich für eine Vorgehensweise entscheide, folge ich meinen inneren Gefühlen.

Trifft überhaupt nicht zu (5)

Trifft eher nicht zu (4)

Trifft manchmal zu und manchmal nicht (3)

Trifft eher zu (2)

Trifft vollkommen zu (1)

9. Wenn ich mich zwischen zwei Alter­nativen entscheiden soll, analysiere ich beide und wähle die beste aus.

Trifft überhaupt nicht zu (1)

Trifft eher nicht zu (2)

Trifft manchmal zu und manchmal nicht (3)

Trifft eher zu (4)

Trifft vollkommen zu (5)

10. Ich treffe häufig gute Entschei­dungen, ohne wirklich zu wissen, wie ich das gemacht habe.

Trifft überhaupt nicht zu (5)

Trifft eher nicht zu (4)

Trifft manchmal zu und manchmal nicht (3)

Trifft eher zu (2)

Trifft vollkommen zu (1)

Dieser Selbsttest, angelehnt an einen Fragebogen von Lilach Sagiv, liefert Ihnen einen ersten Eindruck von Ihrem kognitiven Stil. Er ist jedoch kein genormtes psychometrisches Verfahren oder diagnostisches Instrument.

„Intuition spielt sich im Kopf ab“

Der Bremer Hirnforscher und Philosoph Gerhard Roth über den Ursprungund den Nutzen des „Bauchgefühls“

Herr Professor Roth, sind rationale Menschen intelligenter als intuitive?

Nein. Im Gegenteil: Viele Untersuchungen zeigen, dass gerade intelligente Menschen ihre Intuition nutzen, um komplexe Sachverhalte besser verarbeiten zu können.

Wie das?

Nehmen wir an, Sie müssen sich zwischen verschiedenen Alternativen entscheiden. Wenn Sie das bewusst-rational machen, nutzen Sie dazu Ihr Arbeitsgedächtnis. Dessen Kapazität ist aber äußerst beschränkt: Wenn Sie den dritten Gedanken haben, ist der erste schon wieder vergessen. Das Arbeitsgedächtnis ist also schnell überlastet: Ihnen raucht dann der Kopf, und Sie müssen erst einmal abschalten.

Und die Intuition?

Die Intuition hat ihre Wurzeln im Langzeitgedächtnis. Das Langzeitgedächtnis verarbeitet Informationen parallel; es stößt daher nicht so schnell an seine Grenzen. Intuition hilft uns, neue Informationen mit unseren Vorerfahrungen abzugleichen: Sie findet Gemeinsamkeiten zu dem, was uns schon einmal passiert ist. Die Datenmenge, mit der unser Arbeitsgedächtnis fertig werden muss, wird dadurch kleiner. Intelligente Menschen sind darin oft besonders gut. Dadurch nutzen sie die Kapazität ihres Arbeitsgedächtnisses besser aus.

Also basiert Intuition auf erlernten Erfahrungen, die wir aber nicht bewusst anwenden?

Wir können die Grundlagen unserer Intuition zumindest nicht explizit in Worte fassen. Wir meinen, wir müssten uns so oder so entscheiden, und sind von der Richtigkeit überzeugt. Wir können diese Überzeugung aber nicht begründen. Die Antworten, die uns das Langzeitgedächtnis gibt, basieren auf unserer gesammelten Lebenserfahrung. Und wenn mein Gefühl aus 40 Jahren sagt: Ja, das ist so, dann ist das in aller Regel bei komplexen Problemen auch die beste Entscheidung.

Heißt das, wir sollten besser auf unser Gefühl bauen als auf unseren Verstand?

Ganz und gar nicht. Stattdessen gilt: Die Kombination aus beidem ist das Allerbeste. Zunächst sollten Sie versuchen, die Fragestellung rational zu durchdringen, soweit es geht. Dann sollten Sie aber den Mut aufbringen, die Dinge ruhen zu lassen, um nach dieser Pause intuitiv zu entscheiden.

Wird die Macht der Intuition unterschätzt?

Ja, das stimmt schon. Intuition beeinflusst als konservierte Erfahrung weite Teile unseres Verhaltens. Intuition ist ein riesiger Ozean, Rationalität nur eine kleine Insel darin. Dennoch war der rationale Mensch lange Zeit eine Art Leitbild. Denken Sie nur an den Homo oeconomicus in den Wirtschaftswissenschaften, der sich angeblich nur nach rationalen Kriterien entscheidet. Obwohl es offensichtlich ist, dass das nicht stimmen kann. In der Naturwissenschaft ist das nicht anders: Viele große Erkenntnisse sind auch das Ergebnis von Intuition. In den Veröffentlichungen werden sie aber als das Resultat rationaler Schlussfolgerungen dargestellt.

Das scheint sich aber etwas zu ändern. Es gibt inzwischen jede Menge Ratgeber, die ihre Leser dazu anhalten, auf ihre innere Stimme zu hören.

Das ist zwar richtig. Ich finde es aber unsäglich, wie Intuition in diesen Büchern oft dargestellt wird: das Bauchgefühl, das Bauchgehirn. Auch Intuition spielt sich im Kopf ab. Höre auf deinen Bauch? Das sollte man nur tun, wenn man Bauchschmerzen hat.

Mit Gerhard Roth sprach Frank Luerweg

Gerhard Roth, Professor für Verhaltensphysiologie, leitet das Institut für Hirnforschung der Universität Bremen.

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 4/2015: Depressiv oder nur schlecht drauf?