Die Kleider meines Lebens

Unsere Kleider erzählen Geschichten: Für die Textilwissenschaftlerin Annette Hülsenbeck ist Kleidung ein Schlüssel zum Verstehen der eigenen Biografie.

Das Foto zeigt eine junge Frau, die vor ihrem Kleiderschrank sitzt.
Die meisten von uns haben einen vollen Schrank. Die Kleider darin erzählen ihre eigene Geschichte. © plainpicture

Frau Hülsenbeck, warum haben wir eigentlich einen ganzen Schrank voller Kleidung und tragen doch immer nur dieselben zehn Stücke?

Vielleicht mögen wir diese Stücke, weil sie komfortabel und praktisch sind, vielleicht fühlen wir uns in ihnen besonders wohl, also identisch mit uns selbst. Tatsächlich gibt es in unseren Schränken aber nur wenige Lieblingsstücke in einem Meer aus Kleidung. Laut einer Umfrage tragen wir höchstens 50 Prozent unserer Kleidung, pro Jahr werden in der Bundesrepublik 1,2 Milliarden…

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Umfrage tragen wir höchstens 50 Prozent unserer Kleidung, pro Jahr werden in der Bundesrepublik 1,2 Milliarden Kleidungsstücke weggeworfen. Das legt die Frage nahe, wie diese Teile überhaupt in unsere Kleiderschränke kommen und warum sie eine nur so geringe Lebenszeit haben.

Was vermuten Sie? Woher stammt unsere Begeisterung für Kleidung, die wir gar nicht brauchen?

Mit vielen Kleidungsstücken, die wir kaufen, leben wir inzwischen ja nur ganz kurz zusammen, für eine Phase der modischen Aktualität. Weil die Produktion von Kleidung mittlerweile so gut wie abgekoppelt ist von Modesaisons oder Jahreszeiten, gibt es inzwischen einen enormen modischen Durchlauf. Durch die immense Geschwindigkeit in der Herstellung und die Globalisierung überholen sich Trends rasend schnell. H&M zum Beispiel bietet seinen Kunden inzwischen jeden Tag ein brandneues Kleidungsstück in den Läden an. An den Konsumgewohnheiten vieler Jugendlicher kann man aber auch sehen, dass es nicht mehr unbedingt auf das Tragen der Kleidung ankommt, sondern auf den Event-Charakter eines Outfits. Viele Klamotten werden auf Instagram nur in die Kamera gehalten und danach nicht mehr angezogen. Auf diese Weise wird man nicht mehr vertraut mit den Kleidern.

Aber mit Lieblingsstücken besteht diese Vertrautheit?

Genau, oft zeichnen sich diese Teile dadurch aus, dass man eine Beziehung zu ihnen hat, sie oft anzieht, zu ihnen Geschichten erzählen kann. Das gilt auch für Kleidungsstücke, die man vielleicht gar nicht häufig trägt, aber unbedingt im Schrank behalten möchte. Gerade diese Lieblingskleidungsstücke verorten uns vielleicht in einer bestimmten Zeit unseres Lebens, erinnern uns an die Zeit als junge Frau oder an eine ganz spezielle Lebensphase. Man sieht, welche Phasen es im Leben gegeben hat, welche Personen uns wichtig waren. Und in welchen Kontext wir uns früher eingeordnet haben. War ich eher der Kostümtyp oder die Hosenträgerin? Auf eine sehr sinnliche Weise verankern die Stücke uns in unserer Lebensgeschichte.

Und natürlich in der Zeitgeschichte …

Klar, ich erkenne ja an den unterschiedlichen Moden, dass ich Mitglied einer Generation bin und dass die Zeiten sich mit der nächsten Generation ändern. Darüber kann ich mich gut mit Gleichaltrigen unterhalten. Die sagen dann: „Ach ja, genau so ein Teil hatte ich auch mal.“ Die eigene Biografie verlinkt sich dann mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Die Geschichte der eigenen Kleidung ist also immer auch die gemeinsame Geschichte der eigenen Generation.

Sie geben auch biografische Schreibworkshops zum Thema „Kleidergeschichten – Lebensgeschichten“. Inwiefern kann unsere Kleidung – oder Kleidung generell – uns denn zum Geschichtenerzählen inspirieren?

Kleidung ist ein schöner Impuls zum Schreiben von Geschichten. Ich bringe oft Kleidungsstücke mit in meine Seminare oder Workshops und lasse die Teilnehmerinnen dann ein ausgewähltes Kleidungsstück intensiv beschreiben. Fast sofort fällt jeder eine passende Figurenkonstellation ein. Und schon entwickelt sich eine Geschichte zu diesem Kleidungsstück. Auch auf viele Schriftstellerinnen üben Kleider mit ihrem Eigenleben ja eine besondere Faszination aus. Virginia Woolf oder Margaret Atwood etwa haben viele Geschichten über Kleider oder Kleidung geschrieben.

Eignet sich Kleidung besonders für die Biografiearbeit?

Dafür sind unsere Kleidungsstücke hervorragende Utensilien. Wir wissen, dass die narrative Identität wichtig für die Konstruktion des Selbst ist, dass es wichtig ist, das eigene Leben als sinnerfüllte Geschichte zu begreifen und Geschichten darüber erzählen zu können. Kleidung eignet sich besonders, weil sie uns kontinuierlich begleitet, weil ich sie anfassen und in konkrete gesellschaftliche Zusammenhänge verorten kann. Man kann den eigenen Lebenslauf in besonderer Weise an der Kleidungsbiografie entlang rekonstruieren. Zugleich, und das ist das Interessante, wendet sich Kleidung gegen die Vereindeutigung der Welt: Sie hat eine Außenseite, die gesehen wird, und eine Innenseite, die wir fühlen, in der wir uns selbst wahrnehmen. In Kleidung zeigt man sich und überlegt zugleich immer schon mit, wie die anderen auf einen blicken und wie man wirkt. Mit Kleidung deklinieren wir also unsere Identität und Zugehörigkeit durch, spielen aber auch mit möglichen Erscheinungsweisen. Wir probieren, wer wir sind und wer wir sein könnten.

Das gilt vermutlich insbesondere für diejenigen Kleidungsstücke im Schrank, die man wunderschön findet, aber nie trägt.

Ja, in ihnen begegnet man sich selbst als Potenzial.

Können wir mithilfe unserer Kleiderbiografie unsere Individualität besser verstehen lernen?

Schwierige Frage. Vielleicht in dem Sinne: Wie schaffe ich es, mich inmitten des ständigen Wechsels, der Veränderungen selbst als roten Faden zu begreifen? Wir sind uns ja alle im Grunde ähnlich: Wir sind Teil einer generativen Kohorte, erleben vieles gemeinsam, tragen und trugen Kleidung des jeweiligen Zeitgeschmacks. Das, was an uns unverwechselbar ist, ist das, was wir individuell getan, erlebt und erlitten haben. Also: Mit welchen Menschen wir zusammenleben, was wir arbeiten, gern essen, wohin wir reisen, welche Bücher wir lieben und so weiter und so fort. Kleider sind Erinnerungsträger, die uns helfen können, darüber nachzudenken. Und in vieler Hinsicht sind wir alle – auch in unserer Kleidung – weniger individuell, als wir denken. Das finde ich nicht schlimm. Die meisten Menschen leiden eher an Einsamkeit und fehlender Gemeinschaft als an zu wenig Individualität.

Aber durch Kleidung versucht man doch ganz gezielt, seine Individualität auszudrücken.

Studierende erzählen mir in fast jedem Seminar, wie individuell sie gekleidet seien und wie viele Möglichkeiten sie hätten. Wenn wir dann ihre Sachen vergleichen und eine Gestaltanalyse ihrer Kleidungsstücke machen, sind sie erstaunt bis erschrocken über die Erkenntnis, wie ähnlich sie doch gekleidet sind. Von jedem Kleidungsstück, das wir tragen, gibt es so viele andere, die genauso aussehen. Der individuelle Spielraum in Bezug darauf, wie ich mich anziehen kann, ist sicher größer als etwa in den 1950er Jahren. Aber das hat nichts mit Individualität im Sinne einer Individuation zu tun, sondern entspricht dem, was wir Zeitgeist nennen können.

Inwiefern?

Heute muss ich viel flexibler sein, werde an verschiedenen Orten zum Arbeiten eingesetzt, muss mich permanent an neue Situationen gewöhnen. Dafür braucht es die entsprechende Kleidung und die entsprechenden Auswahlmöglichkeiten. Die Vielfalt ist dabei allerdings weniger ausgeprägt, als wir das im Allgemeinen wahrnehmen: Bestimmte Farben, Formen und Muster können wir heute gar nicht kaufen. Wir erleben unsere Wahlfreiheit also innerhalb eines vorgegebenen Rahmens. Dass wir diese Wahlmöglichkeiten als individuelle Freiheit empfinden, finde ich schon interessant.

Seit wann ist es überhaupt möglich, durch seine Kleidung Identität oder sogar Individualität auszudrücken?

Die Wahlmöglichkeit, mir meine Kleidung auszusuchen, gibt es im Grunde genommen erst seit Beginn des 19. Jahrhunderts. Vor der Französischen Revolution kodifizierte die Ständegesellschaft, wo man von Geburt an hingehörte: zum Adel, Klerus, Besitzbürgertum oder Bauerntum. Mit den Ständen war gleichzeitig eine Kleiderordnung verbunden, die vorschrieb, was wer anziehen durfte. Man konnte also mithilfe der Kleidung zuordnen, wer welche Position innehatte. Individualität oder Persönlichkeit war mithilfe der Kleidung nur sehr schwer zu demonstrieren.

Dennoch gab es damals schon Mode, oder? Wenn man sich prunkvolle Gemälde von Herrschern im Lauf der Zeit anschaut, haben sich die Kleidungsstile schon geändert.

Von Mode sprechen wir erst seit der höfischen Mode im 13. oder 14. Jahrhundert, der sogenannten burgundischen Mode. Norbert Elias führt die Entstehung von Mode auf die beginnende Konkurrenz zwischen Adel und aufstrebendem Bürgertum zurück. In dieser Zeit entwickelte sich dann das Schneiderhandwerk als zünftige Profession. Durch die Erfindung des Abnähers oder der Teilungsnähte wurde erstmals eine körpernahe Passform möglich, zuvor hatten Männer und Frauen in West- und Mitteleuropa einfache bodenlange Hängerkleider getragen. Die modische Pracht der Herrschenden in den folgenden Epochen des Feudalismus hatte aber nichts mit Individualismus oder Persönlichkeit zu tun. Denken Sie an die unglaubliche Prunkkleidung auf den Porträts der englischen Königin Elisabeth im 16. Jahrhundert. Bei Elisabeths Kleidern ging es stets um die Verkörperung des Weltreiches, ihre Kleider waren teils bestickt mit Abbildern aller Tiere und Pflanzen des englischen Empires.

Erst die Aufklärung und die Französische Revolution führten dann zum Fall der Kleiderordnung?

Ja, durch die Industrialisierung und die Anonymität der Großstädte wurde es schwieriger, an der Kleidung abzulesen, wer welcher Schicht angehörte. Das schuf Spielraum, wie wir auch an der literarischen Figur des Hochstaplers sehen können, der mit seiner Kleidung eine Stellung indizierte, die er nicht wirklich innehatte. Ab 1850 entstand dann die Haute Couture als Arbeitsfeld der Modeschöpfer, und parallel dazu entwickelten sich die Konfektionsgrößen und ein Angebot an Fertigkleidung in den neuen Warenhäusern. Ende des 19. Jahrhunderts überholte sich schließlich die Idee der Formung des weiblichen Körpers durch Mieder und Korsett, die Reformbewegung befreite die Körper von diesen Einschnürungen.

Gab es dann in den 60er und 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts einen Bruch? Über Mode wurde doch in dieser Zeit ein starker Generationenkonflikt sichtbar.

Es entwickelten sich neue gesellschaftliche Auffassungen davon, wie man leben will. Es gab den erotisch-sexuell aufgeladenen Minirock, die langen Haare der Hippies, die Lederjacken und Sicherheitsnadeln der Punks. Über Kleidung setzte man sich mit den Eltern auseinander, das stimmt. Es wurde auch wichtig, durch die Kleidung die Zugehörigkeit zur eigenen, selbst gewählten Gruppe zu zeigen. Den Äußerungsformen der Subkultur wurde allerdings oft ihr politischer Stachel genommen, indem sie – etwas abgemildert – von den Modehäusern in die Mainstreamkultur überführt wurden. Anfang der 1970er kamen Pullover mit riesigen Löchern auf die Couture-Bühnen in Paris, auch die Sicherheitsnadeln der Punks, umgeformt zu Broschen aus Silber. In den 2000ern hatten wir dann die Baggy Pants der Rapper, die eigentlich Teil der Häftlingskleidung in den USA waren. Und heute sehen wir diesen postmodernen Mix, in dem der Stilbruch modisch ist und nichts mehr richtig passen darf: Kleider werden als Mäntel getragen, Unterwäsche als Oberbekleidung, alles Mögliche wird durchdekliniert.

Aber eines bleibt: das Rentnerbeige.

Ich muss Sie enttäuschen, nein, auch das ändert sich gerade. Der Subtext, der bei diesem Rentnerbeige mitschwingt – das Alter ist farblos, das Leben ist vorbei –, ist immer weniger stimmig für viele ältere Menschen. Inzwischen fühlt man sich lange jung und zieht sich entsprechend an. Es gibt viele alte Leute, die modisch hellwach sind.

Gibt es dennoch Entwicklungen, die Sie nachdenklich stimmen?

Was mir zu denken gibt, ist die starke geschlechtsspezifische Zuordnung bei Kinderkleidung. Wenn man heute in einen Laden geht, ist die Kleidung klar getrennt zwischen Jungen und Mädchen, natürlich in Blau und Rosa. Das gab es in den 1970ern und 1980ern so nicht. Ich denke auch an die extrem sexualisierte Kleidung von vielen sehr jungen Mädchen und die Rückkehr zu einer vorgeprägten Weiblichkeit. Wenn mir jemand vor dreißig Jahren erzählt hätte, dass es zu Beginn des 21. Jahrhunderts wieder Abiturbälle mit Ballkleidern und einen riesigen Hype um Hochzeiten geben würde … Es findet also gerade ein Rollback statt mit vielen unbewussten Prägungen, die ich für bedenklich halte.

Annette Hülsenbeck ist Textilwissenschaftlerin und beschäftigt sich mit der Kulturgeschichte der Kleidung sowie Kleidung in literarischen Texten. Sie lehrt als Dozentin an der Universität Osnabrück. Ihr Buch Die Kleider meines Lebens. Erzählungen von Margaret Atwood bis Virginia Woolf

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 2/2019: Zwischen Liebe und Pflichtgefühl