Drei Dinge sind sicher im Leben

Sprichwörter sind meist unsympathisch oder falsch. Doch es gibt auch solche, die wahr sind, muss unsere Kolumnistin Mariana Leky feststellen.

Die Illustration zeigt drei Menschen mit Sprichwörtern im Kopf
Wir alle haben eine Menge Sprichwörter im Kopf. © Elke Ehninger

Mein zehnjähriger Sohn nimmt im Deutschunterricht gerade Sprichwörter durch und kommt nach Hause mit der Idee, die Nachbarn nach ihren Lieblingssprichwörtern zu fragen. Weil er heute etwas schüchtern ist, bittet er mich mitzukommen. Ich bin gespannt. Es gibt ja extrem unsympathische Sprichwörter. Solche, die sich, wenn jemandem etwas Ungutes passiert, naseweis und schadenfroh danebenstellen. Wie zum Beispiel der Sinnspruch, dass man den Tag nicht vor dem Abend loben soll. Was soll das? Darf man sich an…

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Beispiel der Sinnspruch, dass man den Tag nicht vor dem Abend loben soll. Was soll das? Darf man sich an einem Sonntag, den man beispielsweise mit dem Zubereiten eines mehrgängigen Menüs verbringt, nicht wortreich über das glückliche Geschick freuen, nur weil einem womöglich am Abend die Dunstabzugshaube auf den Herd fallen könnte?

Auch „Morgenstund hat Gold im Mund“ ist eher höhnisch, wenn man sich beispielsweise die ganze Nacht mit schwatzhaften Gespenstern herumgeschlagen hat. Ich muss beim Gold im Mund der Morgenstund immer an die Zahnzusatzversicherung denken, die ich nicht habe. Und ich möchte der Morgenstund auch nur ungern ins Maul schauen, wie man das bei einem geschenkten Gaul ja auch unterlassen sollte.

Wir fragen zuerst Achim, den Cafébesitzer unten im Haus, nach seinem Lieblingssprichwort. Er muss nicht lange nachdenken: „Alte Füchse gehen schwer in die Falle.“ Er sagt das, weil er schon wieder versucht, sich das Rauchen abzugewöhnen. Achim ist Mitte vierzig. Er raucht schon seit dem Schulhof, und er will es schon lange lassen. Er hat sich akupunktieren, hypnotisieren und mit Nikotinpflastern bekleben lassen, er hat versucht, die Zigarette durch eine Karotte, eine Salzstange und einen Bleistift zu ersetzen, er hat sogar, auf Anraten eines Coaches, angefangen, einen Abschiedsbrief an seine Zigaretten zu schreiben (der Brief blieb unvollendet, weil Achims Sucht behauptet, ­Schreiben gehe nur mit Rauchen). Die Sucht, der steinalte räudige Fuchs, lässt alle Fallen links liegen.

„Danke schön“, sagt mein Sohn und schreibt Achims Sprichwort auf. Es ist das einzige, das er ohne ein eingeklammertes Fragezeichen dahinter notiert.

Als Nächstes klingeln wir beim Ehepaar Schwerters, das vor kurzem silberne Hochzeit gefeiert hat. Die beiden wirken, als hätten sie bereits hinter der Tür gestanden und nur auf unser Klingeln gewartet, denn sie sind randvoll mit Sprichwörtern. „Ein Heute ist besser als zwei Morgen“, sagt Herr Schwerters, „persisches Sprichwort.“ Mein Sohn runzelt die Stirn. „Das stimmt aber nicht, wenn man morgen Fußballtraining hat“, findet er.

„Warten bringt Heilung“, sagt Herr Schwerters, „mongolisches Sprichwort.“ Frau Schwerters guckt kritisch und sagt: „Nicht wenn gerade ein Herzinfarkt aufzieht.“ – „Wo ein Wille ist, ist ein Weg“, lädt Herr Schwerters nach. „Sag das mal zu jemandem, der im Aufzug feststeckt“, sagt Frau Schwerters, und Herr Schwerters seufzt und sagt: „Irisches Sprichwort: Wenn du kritisiert werden willst: heirate.“

„Alte Liebe rostet nicht“, sagt jetzt Frau Schwerters. Sie sagt das aus tiefstem Herzen, und ich frage mich, ob es sich bei Frau Schwerters alter rostfreier Liebe tatsächlich um die zu Herrn Schwerters handelt. Ich stelle mir vor, dass sie sich vielleicht vor kurzem, im Dunstkreis der silbernen Hochzeit, mit einer längst abgelegt geglaubten Liebe zum Kaffee getroffen hat. Und dann bebten Erde, Herz und Hände, als die ganz und gar nicht abgelegte Liebe in der Cafétür erschien.

Mein Sohn notiert, und man sieht ihm deutlich an, dass er sich um die Rostanfälligkeit von Liebe noch keine Gedanken machen musste.

„Ich weiß auch noch eins“, sage ich, während wir vor der Tür von Herrn Wiesberg warten: „Sag niemals nie.“ – „Das hab ich schon“, sagt mein Sohn. „Sag niemals nie“ ist das Lieblingssprichwort meines Onkels, der Psychoanalytiker war. Er wollte sich immer ein Plakat des gleichnamigen James-Bond-Films über seine Behandlungscouch hängen, aber leider fand meine Tante das unpassend. Mein Onkel griff zu diesem Sprichwort, wenn es galt, jemanden von irgendwoher runter- oder hochzuholen. Wenn jemand behauptete, ab heute nie wieder glücklich oder nie wieder unglücklich zu werden.

Herr Wiesberg holt erst mal eine Tüte Gummibärchen und bietet uns und sich selbst reichlich daraus an. Herr Wiesberg arbeitet beim Finanzamt. „Zwei Dinge sind sicher im Leben“, zitiert er mit dem Mund voller Gummibärchen, „eins davon ist die Steuer.“

„Und das andere?“, fragt mein Sohn.

Herr Wiesberg hört auf zu kauen und schaut mich unsicher an, er weiß nicht, ob mein Sohn darüber informiert ist, dass wir alle sterben müssen. Ich sage: „Der Tod“, und Herr Wiesberg sagt gleichzeitig: „Gummibärchen“, und jetzt ist mein Sohn verunsichert, und Herr Wiesberg und ich sagen, wieder gleichzeitig: „Beides.“ Herr Wiesberg räuspert sich. „Ich habe mich versprochen“, sagt er, „ich meinte natürlich: drei Dinge.“

Auf dem Treppenabsatz begegnen wir Herrn Pohl und seinem Hund Elise. „Wir wollten gerade bei Ihnen klingeln“, sagt mein Sohn. „Ich mache eine Umfrage. Was ist Ihr Lieblingssprichwort?“

„Tempus fugit“, sagt Herr Pohl spontan, „die Zeit fliegt. Das lässt sich sehr schön an dir beweisen“, sagt er zu meinem Sohn, „du lagst gestern noch im Kinderwagen, und jetzt machst du schon Umfragen.“ Und wieder guckt mein Sohn kritisch, und ich ahne, was hinter seiner zehnjährigen Stirn gedacht wird: Das stimmt nicht, wenn man auf das nächste Fußballtraining wartet, es stimmt nicht, wenn man angehalten ist, sein Zimmer aufzuräumen, und beim Matheüben stimmt es schon mal ganz und gar nicht.

Ich schaue meinem Sohn, der eben noch im Kinderwagen lag, beim Notieren zu. Die Zeit fliegt, schreibt er und dann, in Klammern, zwei Fragezeichen dahinter.

Herr Pohl und ich sind noch ungefähr zweieinhalb Köpfe größer als mein Sohn. Von hier aus können wir sie fliegen sehen, die Zeit.

Mariana Leky ist mit ihrem Roman Was man von hier aus sehen kann seit vielen Wochen in den Bestseller­listen. In Psychologie Heute schreibt sie jeden Monat darüber, was die Menschen, die sie umgeben, bewegt. Mit psychologischen ­Themen kennt sich Leky aus: In ihrer Familie sind zehn ­Psychoanalytiker

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 2/2019: Zwischen Liebe und Pflichtgefühl