Das Ego, das uns nicht gehört

Wie andere uns sehen, wissen wir oft nicht. Aber es lohnt sich, den eigenen Ruf im Auge zu behalten.

Die Illustration zeigt einen Menschenkopf mit vielen Gedanken darüber, was andere über ihn denken
Was die anderen über mich denken? Reputation ist soziales Kapital, für das wir viel investieren. © Karolin Nusa

Die Autorin und Philosophin Gloria Origgi wunderte sich: Warum machten Kollegen auf Tagungen dauernd Selfies, auf denen sie mit berühmten Professoren ihres Fachs zu sehen waren? Als sie viele dieser Fotos in sozialen Medien wiederfand, beschloss Origgi, das selbst einmal auszuprobieren. Auf einer Konferenz schoss sie ein Selfie mit Tim Berners-Lee, dem Erfinder des Internets. Zu Hause in Paris postete Origgi das Bild auf ihrer Facebook-Seite und erhielt schnell die Antwort auf ihre Frage: Binnen Stunden…

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Stunden wurde sie zu gut dotierten Vorträgen und einem Thinktank für neue Technologien eingeladen.

„Den Betrachtern des Bildes erschien meine Verbindung mit Berners-Lee nicht zufällig“, so erklärt sich Origgi diese Reaktionen, „die Leute dachten einfach, wer so nah an den Mann herankommt, muss eine große Nummer sein.“ Für die Philosophin zeigt ihr kleines Experiment, „wie Reputation von einer Person zu einer anderen fließt – in einer Art und Weise, die sich rational nicht begründen lässt“. Natürlich hat Origgis eigener Ruf den Effekt des Selfies verstärkt. Sie ist zwar nicht so berühmt wie Tim Berners-Lee, aber auch keine Unbekannte. Origgi arbeitet am Centre national de la recherche scientifique in Paris, einer in Fachkreisen hochgeschätzten Einrichtung. Und sie verfolgt seit Jahren ein Projekt zum Thema, das sie sehr beschäftigt: die Bedeutung der Reputation, die sie in ihrem Buch Reputation. What It Is and Why It Matters diskutiert.

Reputation begleitet uns überall

Reputation – der gute Ruf oder das Ansehen einer Person – ist für Origgi „ein zweites Ego, ein Porträt unseres Selbst, das wir nicht autorisiert haben und das uns auch nicht gehört, aber eine erstaunliche Macht über uns hat, weil es unsere Gedanken, Gefühle und Entscheidungen beeinflusst“. Reputation begleite uns überall, so das Fazit der Philosophin. Sie sei die Wertschätzung, der Respekt und das Vertrauen, das uns andere geben. Sie helfe dabei, solide soziale Beziehungen zu knüpfen. Wir bräuchten sie, um beruflich erfolgreich zu sein. Rufschädigungen, ob durch absichtliches In-die-Welt-Setzen falscher Tatsachen oder versehentlich durch Tratsch und Klatsch entstanden, könnten als tiefe Kränkungen wahrgenommen werden, die – sofern sie ungenügend verarbeitet würden – zu Aggression oder Schuldgefühlen führten.

Kinder sorgen sich um ihren Ruf

Dass Reputation wichtig ist, ahnen schon Fünfjährige. Forscher um Michael Tomasello vom Leipziger Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie haben in Experimenten ermittelt: Kinder dieses Alters stehlen weniger und helfen öfter, wenn sie von einem Gleichaltrigen beobachtet werden. Es kommt ihnen auch darauf an, wer anwesend ist: Die Sorge um die Reputation stieg bei den Kleinen, sobald ein Mitglied ihrer Ingroup sie beobachtete oder jemand, der ihnen bei einer Aufgabe helfen konnte, die sie gerade in Angriff nehmen wollten.

Studien anderer Forscher bestätigen, wie wünschenswert Vorschulkinder einen guten Ruf finden und wie sie entsprechend sozial handeln. Die Kinder wägen sogar strategisch ab, wie sehr sie sich für andere ins Zeug legen – abhängig davon, wie oft sie einen anderen in Zukunft wahrscheinlich treffen werden.

Diese Untersuchungen belegen, dass Reputation im menschlichen Sozialleben eine entscheidende Rolle spielt. Die Reputation eines Menschen liefert Hinweise darauf, ob man ihm vertrauen kann. Ohne Reputation keine Kooperation, ohne Kooperation kein menschliches Leben, wie wir es kennen.

Das persönliche Punktekonto

Um unseren guten Ruf zu erhalten, helfen wir Menschen, auch wenn wir keinen direkten Nutzen daraus ziehen, meint Manfred Milinski vom Max-Planck-Institut für Evolutionsbiologie in Plön, der das Phänomen in zahlreichen Experimenten untersucht hat. Nach seinen Erkenntnissen bewerten wir den Leumund der Mitmenschen anhand einer Art innerem Punktekonto, das sofort ein Update bekommt, wenn wir Nachrichten von anderen über diese Person erhalten.

In dieses Punktekonto fließt einiges ein: wie man sich kleidet, wie man spricht, die körperliche Erscheinung, wie wir arbeiten, wie wir uns anderen gegenüber zeigen – vor allem aber unser ethisches Verhalten entsprechend den sozialen Normen der Gesellschaft, in der wir leben. Jedes Investment in andere – direkte Hilfe, Spenden für die Allgemeinheit und so weiter – erhöht die Anzahl der Punkte, verbessert also die Reputation.

„Ein guter Ruf zahlt sich aus, wenn andere uns helfen sollen“, erklärt Milinski: „Ich lasse am Bahnhof einen Fremden am Schalter vor, der sonst seinen Zug verpasst. Meine Bekannten in der Schalterhalle sehen das und reden gut über mich. Ich werde also später von meinem guten Ruf profitieren.“ In diesem Sinne funktioniere die Reputation wie „eine universelle Währung unserer sozialen Interaktionen, wie Geld, das eingesetzt wird, wenn ein Mensch einen anderen Menschen braucht“.

In seinen Versuchen hat Milinski herausgefunden: Steht die eigene Reputation auf dem Spiel, tragen Menschen mehr zum öffentlichen Gemeinwohl bei – und am meisten, wenn sie dabei beobachtet werden, ob sie sich sozial benehmen oder nicht. „Menschen“, so Milinski, „haben sich entwickelt, um ihren Ruf zu wahren und auf die Reputation der anderen aufzupassen.“ Das ist wahrscheinlich schon seit der Steinzeit so.

Klatsch und Tratsch

Allerdings können wir das Handeln anderer nur zu einem Bruchteil aus eigener Anschauung heraus beurteilen. Um etwas über sie zu erfahren und uns eine Meinung über sie zu bilden, sind wir also auf die Berichte Dritter angewiesen, sprich auf Klatsch und Tratsch. Studien zeigen: Frauen wie Männer im gleichen Maße reden besonders gerne über Leute, die nicht anwesend und selbstsüchtig oder unkooperativ sind. Wer andere betrügt oder ihnen schadet, kann also damit rechnen, dass sich die Botschaft rasch verbreiten und den Ruf lädieren wird.

Ein schlechtes Ansehen möchte wohl kaum jemand haben, das belegt eine Studie des Psychologen Andy Vonasch an der University of North Carolina in Chapel Hill. Sein Team befragte 111 Amerikaner, wie wichtig ihnen ihre Reputation sei. 40Prozent der Leute gaben an, sie würden lieber ein Jahr im Knast verbringen als ein Jahr mit dem Image eines Kriminellen zu leben. 53 Prozent schrieben, sie wären lieber tot als mit dem Ruf eines Kinderschänders behaftet. Und in einer anderen Studie wollten die meisten Leute ihre Hand in eine Schale mit ekelerregenden Würmern stecken, nur um zu vermeiden, dass ihre gerade ermittelte schwach rassistische Einstellung öffentlich gemacht würde.

Bereitschaft für den guten Ruf zu zahlen

Forscher von der Universität Lund in Schweden schufen folgendes Studienszenario, um herauszufinden, wie wichtig den Teilnehmern ihr guter Ruf war: Diese konnten entweder kooperieren und sich im Sinne ihrer Reputation „gut benehmen“. Das kostete sie aber Geld! Oder sie verhielten sich weniger kooperativ und bekamen dafür ein paar Euro zugesteckt. Alle Probanden erfuhren dann, dass ihr Verhalten namentlich im Internet veröffentlicht werden würde, was sie aber gegen Zahlung einer Gebühr unterbinden könnten. Tatsächlich wollten die unkooperativen Teilnehmer dies sofort nutzen, um ihren Ruf zu erhalten – erst recht als sie erfuhren, dass ihre mangelnde Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit einem Selfie von ihnen gepostet werden würde, das sie vor dem eigentlichen Experiment gemacht hatten.

Was die Sorge um den Leumund realiter anrichten kann, bewies drastisch vor einigen Jahren der britische Historiker Orlando Figes, damals mit bestem Ruf gesegnet. Der Mann verriss auf Amazon unter Pseudonymen die Werke seiner Kollegen – und stellte gleichzeitig seine eigenen Bücher als herausragend dar. Alles nur, um seine Reputation noch weiter zu verbessern. Damit erreichte er das Gegenteil: Der Fall flog auf – und Figes Ruf ging in den Keller.

Was denken wir, was andere über uns denken?

Unzählige solcher Beispiele aus dem wahren Leben und die Studien zu dem Thema bestätigen den Kern von Origgis These: „Das zweite Ego, die Reputation, beeinflusst unsere Gedanken und unser Verhalten.“ Aus Sicht der Philosophin geht es dabei hierum: „Reputation ist nicht nur die Meinung der anderen über uns, sondern was wir denken, was die anderen über uns denken könnten.“

Tatsächlich sinnieren und sprechen die Mitmenschen nur selten über uns aus den Gründen, die uns genehm wären. Allzu oft widersprechen ihre Ansichten dem, wie wir uns selbst mit unserem ersten Ego sehen. „Die Lücke zwischen Eigen- und Fremdwahrnehmung kann groß sein und frustrierend oder klein und entsprechend belohnend. In diesem Sinne triggert die Reputation starke Gefühle wie Scham, Verlegenheit, Peinlichkeit, Schuld – aber auch Stolz. Denn erscheint einem der Ruf gerade glänzend, wirkt das wie Doping für den Selbstwert.“ Nach Ansicht Origgis manipuliert also das zweite, soziale Ego unser erstes Selbst, „wahrscheinlich so stark wie unser Unbewusstes“.

Die Imagepflege im Netz als Bürgerpflicht

Doch wider besseres Wissen über die dramatischen Folgen des Verlusts des guten Rufs „handeln viele Menschen nicht entsprechend und konsequent genug“, erklärt Origgi. In Zeiten von Internet und sozialen Medien findet sie ein „modernes Reputationsmanagement zwingend“. Die Philosophin wundert sich vor allem über die Gewohnheit vieler Internetnutzer, aus einem Impuls heraus und ohne Überlegung Fotos und Texte zu veröffentlichen, die dann Leser und Betrachter zu ihrem ganz eigenen Eindruck der Person umdeuten. „Mit gedankenlosem Posten tut man sich im Sinne seiner Reputation keinen Gefallen“, sagt Origgi. Sie hält wohlbedachtes Veröffentlichen von Beiträgen für erste Bürgerpflicht, um das zweite Ego von sich aus in der richtigen Spur zu halten. „Das Internet ist gefüllt mit sozialen Informationen über uns“, sagt die Expertin, „dass wir dieses soziale Kapital besitzen, sollten wir uns immer wieder bewusstmachen.“

Origgi hält es außerdem für ratsam, auch auf die Reputation von potenziellen oder tatsächlichen Arbeitgebern zu achten. Wer bei einer Firma mit zweifelhafter Reputation lande, schade im Zweifel seinem zweiten Ego. „Reputation färbt bis zu einem gewissen Maße ab“, so Origgi, „der Ruf von Freunden, Verwandten, Vereinen, der Partei oder der Firma geht von der Gruppe auf die einzelne Person über.“ Wer bei VW gearbeitet hat – einst ein Arbeitgeber mit hervorragender Reputation –, trägt seit einiger Zeit bei seiner nächsten Bewerbung für einen Job das Päckchen des Dieselskandals mit sich: „Das ist ein neues Phänomen“, sagt Origgi.

Informationen aus vierter Hand

Die Existenz der Reputation schafft einen inneren Konflikt zwischen unserem Selbst und unserem scheinbaren Selbst in den Köpfen der Artgenossen. „Reputation ist eine Wolke von Meinungen, die nach ihren ganz eigenen Gesetzen über uns schwebt“, erklärt Origgi. Viele dieser Meinungen seien geformt von Meinungen, die andere verbreiten. Von Informationen aus zweiter, dritter, vierter Hand: im Tratsch auf der Straße oder beim Telefonieren, in sozialen und in klassischen Medien, in Diskussionen.

So entsteht ein Porträt von uns, das wir nicht autorisiert haben und das uns auch nicht gehört. „Der Mensch im Zeitalter des Internets ist weder authentisch noch gefälscht oder unecht“, betont Origgi, „der Mensch heute ist ein intensives soziales Wesen, das laufend Rückmeldungen von anderen über sich selbst bekommt und sich darauf basierend immer wieder neu konstruiert.“

Die Glaubwürdigkeit dieser Botschaften über die Reputation der anderen ist allerdings so eine Sache. Das bestätigt auch Manfred Milinskis Forschung: „Bei jeder Runde geht ein Drittel der Information verloren“, sagt der Evolutionsökologe. Doch diese Unzuverlässigkeit von Tratsch und Klatsch stört uns offenbar kaum. Wir glauben oft einfach, was wir dabei erfahren, und machen uns daraus ein Bild anderer Leute.

Quelle der Selbstkenntnis

Letzlich, meint Gloria Origgi, bleibe die Reputation „rätselhaft“. Was einen guten Namen ausmacht und was nicht, entzieht sich oft einer genauen Erklärung. Eines aber steht für sie nach vielen Jahren des Nachdenkens fest: „Ohne sich bewusst zu sein, wie meine Reputation und mein Verhalten zusammenhängen und mich beeinflussen, kann ich nicht verstehen, wer ich bin und was ich tue.

Bin ich so, wie ich bin?

„Ist der Ruf erst ruiniert, lebt's sich gänzlich ungeniert.“ Diesen Satz, der unter anderem Wilhelm Busch zugeschrieben wird, könne man heute so nicht mehr stehenlassen, meinen die Autoren des Buchs Wie gut ist mein Ruf?, der Soziologe Bernhard Bauhofer und der Unternehmensberater Michael Neubert. Es gehöre ein starker Charakter dazu, sich um sein Ansehen nicht zu kümmern und einfach zu sagen: „Ich bin so, wie ich bin, und will mich nicht verbiegen.“ Selbst wenn man so lebe, gerate man doch immer wieder in Situationen, in denen man sich neu entscheiden müsse, ob man sich den Erwartungen anderer anpassen oder seinen Prinzipien treu bleiben wolle.

Wer wissen möchte, welchen Ruf er hat, erfahre dies beispielsweise durch direktes Nachfragen – sinnvoll sei auch, das eigene Kommunikationsverhalten im Internet zu prüfen. Ein solcher Reputationscheck könne sich sogar bis zur Frage ausweiten, was man im Leben erreichen will und ob die gesellschaftlichen Normen mit den eigenen Werten übereinstimmen. Im Kern gehe es dabei um Berechenbarkeit und den Umgang mit den eigenen Erwartungen und denen anderer.

SAC

Quellen und Literatur

Gloria Origgi: Reputation. What it is and why it matters. Princeton University Press, Princeton 2017

Bernhard Bauhofer, Michael Neubert: Wie gut ist mein Ruf? Die besten Strategien für eine gute Reputation. Gabal, Offenbach 2012

Brittany C. Solomon und Simine Vazire: Knowledge of identity and reputation: Do people have knowledge of others' perceptions? Journal of Personality and Social Psychology, 111/3, 2016. DOI: 10.1037/pspi0000061

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 11/2019: Mut zur Angst