Das Buch der Tränen

Heather Christles Buch ist eine literarische Fundstücksammlung über das Weinen und gibt intime Einblicke in das Innenleben.

Der Verlag kündigte an, eine Woche lang zu weinen. Und wir durften hemmungslos mitweinen. Mitten in München. An einem Ort, an dem man auch Bücher kaufen und Gedichte hören kann. Abends gab es eine „Sad Disco“ mit traurigen Songs. Zum Heulen schön.

Verlage werden immer einfallsreicher mit Events, Podcasts und Mailings. Wie die Weinbegleitung zum Essen bot nun der Hanser-Verlag die Weinenbegleitung zum Buch.

Autorin ist die amerikanische Dichterin Heather Christle. Ursprünglich hatte sie den Einfall, eine Karte aller Orte anzufertigen, an denen sie je geweint hat. Nun, Jahre später, fügt sie zusätzlich zu den Orten Fundstücke aus Literatur und Kunst, aus dem eigenen tränenreichen Leben sowie wissenschaftliche Studien in losen Textbausteinen zusammen. Jeder Lesehappen ist durch Sternchen vom nächsten getrennt. Damit sind die Stärken und die Schwächen des Buchs benannt: Einerseits verhindert diese Struktur einen längeren Lesefluss, andererseits öffnet sie den Raum für eigene Gedanken und Gefühle. Viele Textstücke sind nur wenige Zeilen oder eine Frage lang: „Erinnerst du dich an das trostlose Gefühl, Mutter oder Vater weinen zu sehen?“

Die drei Tränenarten

Christle, eine verletzliche und kluge Frau, gibt Einblicke in ihr Seelenleben. Vier Lyrikbände sind bislang erschienen, ihre Gedichte werden im New Yorker gedruckt.

Der Leser erfährt von drei Tränenarten: Basaltränen als Gleitmittel fürs Auge; Reiztränen, um Fremdkörper herauszuspülen; psychogene Tränen, die Emotionen entspringen. Die Autorin stellt die bedrückende Frage, zu welcher Sorte jene Tränen gehören, die hirntote Patienten manchmal produzieren, wenn ihre Organe entfernt werden. Christle versammelt Tränenforscher und Klageweiber, wir lesen von einer holländischen Designstudentin, die unter dem Motto „Tränen sind die Waffen der Frau“ eine besondere Pistole baute: Über einen Plastikschlauch werden an ihrem Auge Tränen gesammelt, in die Pistole geleitet, dort eingefroren und als Eiskügelchen verschossen – in ihrem Fall auf den Rektor der Akademie.

Nach wie vor ist ungeklärt, warum wir emotionale Tränen weinen. Christle zitiert Darwin, der auch schon keine rechte Antwort wusste. Obwohl sich der Tränenapparat Wochen vor der Geburt bildet, „weinen“ Babys zunächst trocken, womit bewiesen ist, dass auch Schreien ohne Tränen Leid zum Ausdruck bringen kann. Manche Forscher behaupten, Menschen würden weinen, wenn Worte den gefühlten Schmerz nicht angemessen ausdrücken können. Andere vertreten die These, Weinen sei eine Art Ausscheidung, durch die der Körper sich von chemischen Substanzen befreit, die durch Stress entstehen. Diese These ist widerlegt. Es stimmt jedoch, dass Zwiebeltränen wässriger sind als Kummertränen. Letztere enthalten mehr Proteine und Hormone.

Wer ein normales Sachbuch über die Psychologie oder Kulturgeschichte des Weinens erwartet, wird von diesem Buch vielleicht enttäuscht werden. Dafür ist es zu subjektiv, oft vage und tastend. Wer jedoch bereit ist, sich in die Welt einer Poetin einzulassen, der kann etwas Besonderes erleben.

Ilona Jerger

Heather Christle: Weinen. Aus dem Englischen von Sabine Hübner. Carl Hanser, München 2019, 192 S., € 19,–

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 6/2020: An Krisen wachsen
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