Veganer essen keinerlei tierische Produkte, aus moralischen Gründen. Tieren soll Leid erspart werden, sie sollen nicht benutzt oder getötet werden. Auf die Umwelt möchten die Freeganer mehr Rücksicht nehmen. Sie kritisieren unsere Überflussgesellschaft als unmoralisch und ausbeuterisch. Frutarier gehen noch weiter. Denn in ihren Augen kommen nicht nur Tiere, sondern auch Pflanzen zu Schaden, wenn sie zu Lebensmitteln weiterverarbeitet werden (siehe Kasten Seite 77).
Moderne Ernährungstrends, so…
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zu Lebensmitteln weiterverarbeitet werden (siehe Kasten Seite 77).
Moderne Ernährungstrends, so unterschiedlich sie im Detail sind, haben etwas gemeinsam: Wenn wir essen, sollte möglichst wenig Schaden entstehen – für andere Menschen, für Tiere und möglichst auch für die natürlichen Ressourcen der Erde oder das Klima. Christian Neuhäuser, Professor am Institut für Philosophie und Politikwissenschaft der TU Dortmund, fasst den derzeitigen Zusammenhang zwischen Ernährung und Moral zusammen: „Dem dominanten liberalen Moralverständnis nach geht es dabei um eine Problematisierung der Schädigung anderer. Bei Ernährung betrifft das offensichtlich das Leid von Tieren, die zu Nahrungsmitteln verarbeitet werden. Es betrifft aber auch die Produktionsbedingungen von Lebensmitteln, die auf Ausbeutung beruhen können.“ Auch der verbreitete Wunsch, sich gesund zu ernähren, dient dem Ziel, Schaden zu vermeiden: Denn sich ungesund zu ernähren kann uns krank machen.
Ernährung und Essen waren schon immer mehr als nur reine Nahrungsaufnahme mit dem Ziel zu überleben. Claus Vögele, Professor für klinische Psychologie und Gesundheitspsychologie an der Universität Luxemburg, stellt fest: „Was, wie viel und wann wir essen, wird auch von kulturellen Einflüssen mitbestimmt, also beispielsweise moralischen oder religiösen Verhaltensregeln. Dies ist kein neues Phänomen, sondern wahrscheinlich so alt wie die Menschheitsgeschichte. Für Essen gibt es biologische Grundlagen, die jedoch weitgehend kulturell überformt und über diese kulturellen Normen gesellschaftlich reguliert werden.“ So prägten beispielsweise religiöse Regeln jahrhundertelang den Essensalltag in allen Kulturen – im Christentum war es ein Wechselspiel zwischen Fasten und üppigen Festmahlen.
Seit einigen Jahren rücken moralische Vorstellungen im Zusammenhang mit der Ernährung in den Mittelpunkt. Das Ziel, Schaden zu vermeiden, ist der gemeinsame Nenner. Darüber hinaus geht es sehr individuell zu – und sicherlich sind nicht alle Ernährungsstile auf dem gleichen moralischen Level. Oft geht es um subjektive Einschätzungen dessen, was wir persönlich für moralisch halten und was uns in dieser Hinsicht wichtig ist. Psychologe Claus Vögele erklärt: „Heutige Ernährungstrends decken das gesamte Spektrum von Empfehlungen aus dem gesundheitlichen und normativ-ethischen Spektrum ab. Viele dieser Trends sind nur sehr kurzlebig, weil sie wissenschaftlich kaum begründbar sind oder nur instrumentell eingesetzt werden, um bestimmte Nahrungsmittel oder Produktlinien zu vermarkten. Beispiele dafür sind laktose- und glutenfreie Lebensmittel, die nachgewiesenermaßen nur für einen kleinen Prozentsatz der Bevölkerung notwendig sind.“
Riesiges Angebot
In früheren Jahrhunderten war Essen viel weniger vielfältig – individuell unterschiedliche Ernährungsstile waren mangels Angebot kaum möglich. Das habe sich in den vergangenen Jahren massiv verändert, sagt Christoph Klotter, Professor für Ernährungspsychologie und Gesundheitsförderung an der Hochschule Fulda: „Essen ist erst ein Thema, seitdem wir unbegrenzt viele Lebensmittel zur Verfügung haben. In unseren Supermärkten stehen 170000 verschiedene Lebensmittel zur Auswahl. Eine unüberschaubare Fülle, die jederzeit verfügbar und noch dazu günstig ist. Diese immense Verfügbarkeit von Essen können wir jedoch nicht mehr handhaben. Deshalb orientieren sich die Konsumenten auch an wissenschaftsfernen Experten. Dabei vollzieht sich der Trend zu einer Identitätsbildung über die Ernährung hauptsächlich in den wohlhabenden Gesellschaften. Über unsere Lebensmittelauswahl entwickeln wir Identität und grenzen uns von anderen ab.“ Zurzeit sind offenbar Moralvorstellungen das Mittel der Wahl, um sich abzugrenzen.
Unterschiedliche Moralvorstellungen beim Essen können besonders in Familien Konflikte befeuern. Wer eine gesundheitsschädliche Sahnetorte anbietet, erntet vielleicht skeptische Blicke von erwachsenen Kindern, denen gesunde Ernährung sehr wichtig ist. Während umgekehrt vielleicht die selbstgebackene Obsttorte aus Dinkelmehl von Anhängern von Sahnetorten skeptisch beäugt wird. Vielleicht macht sich die ältere Verwandtschaft wenig Gedanken über eine artgerechte Tierhaltung und hat mit dem Essen von Rind- oder Schweinefleisch kein Problem – junge Erwachsene sehen womöglich schon in der Haltung von Tieren unmoralisches Handeln. Für sie ist es dann nicht ganz einfach, wenn die Eltern den traditionellen Braten auf den Tisch bringen. Wahrscheinlich werden diese unterschiedlichen Sichtweisen in den meisten Familien nicht direkt angesprochen – spürbar sind sie vermutlich schon. Bei privaten Einladungen außerhalb von Familien ist es hingegen normal geworden, vorher die Gäste nach No-Gos zu fragen und Rücksicht zu nehmen. Auch immer mehr Restaurants stellen sich auf die unterschiedlichen Ernährungswünsche ein.
Menschen wollen gerne moralisch gut sein, wie sozialpsychologische Forschungen über die Identität schon lange zeigen. Moralvorstellungen haben für den Einzelnen meistens einen Allgemeinheitsanspruch: Die meisten von uns wünschen sich, dass möglichst viele ihre moralischen Überzeugungen teilen. Menschen, die diese persönliche Regel verletzen, werden dann als nicht zur selben Gruppe gehörend oder amoralisch betrachtet. Und so können besonders Familientreffen zu einem Anlass werden, bei dem die Essensnormen eher die Unterschiede zwischen den Mitgliedern verdeutlichen als die Gemeinsamkeiten.
Dies beantwortet noch nicht die Frage, warum viele heutzutage übers Essen so sehr ihre moralischen Überzeugungen ausdrücken. Christoph Klotter erklärt es so: „Das moralisierte Essen ist eine Antwort der sozial Bessergestellten auf den Umstand, dass seit den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts alle genug zu essen haben, alle täglich Fleisch essen können. Verzicht auf Fleisch, ethisch begründet, ist dann ein Mittel der sozialen Distinktion, ein Klassenkampf von oben gegen den fleischfressenden Proll.“ Darüber hinaus habe sich das Essen wegen der nun deutlich wahrnehmbaren Klimakrise noch stärker moralisiert. Indem sie einen bestimmten Ernährungsstil pflegen, suchen viele heute offenbar verstärkt nach moralischer Orientierung. Die Ernährung wird zum Teil der eigenen moralischen Identität.
Doch je nachdem, wie hoch die eigenen moralischen Ansprüche an die Ernährung sind, kann das auch weitreichende Folgen haben, wie der Psychologe Carl Vögele erläutert: „Wenn in diesem Normensystem beispielsweise der globale Welthandel keinen Platz hat, muss man zum Selbstversorger werden.“ Andernfalls könne man bei sehr strengen moralischen Vorgaben eine hundertprozentig moralisch „saubere“ Ernährung schlicht nicht leisten.
Vögele plädiert vor diesem Hintergrund generell für mehr Gelassenheit in puncto Ernährung: „Wir Menschen können versuchen, uns moralisch zu ernähren. Im Sinne von Nachhaltigkeit. Essen ist jedoch immer mit Schuld verknüpft, laut Sigmund Freud ein vielschichtiger Prozess und ein zerstörerischer Akt. Wir zerstören dadurch anderes Lebendiges.“ Auch Pflanzen gelten bei manchen als „beseelt“. Aber irgendetwas muss man essen. Eine definitive Grenze, die einzuhalten ist, um sich moralisch keine Gedanken mehr machen zu müssen, existiert nicht. Das eigene Leben berührt immer die anderen Kreaturen – ein Lebensstil ohne moralische Fragen ist kaum möglich. Doch jeder kann für sich entscheiden, wie er mit dieser Situation umgeht. Für Claus Vögele stellt eine moralisch unbedenkliche Ernährung jene dar, die mit dem eigenen Ethikkodex übereinstimmt.
Eine generelle Moralisierung – also die Anwendung der eigenen Essensmoral auf andere – sei nicht zielführend, da sie ganz zwangsläufig Konflikte mit sich bringe, darauf macht Christian Neuhäuser aufmerksam: „Eine Ernährung ohne irgendeine Beteiligung an ungerechtfertigten Schädigungen erscheint kaum möglich. Sogar Selbstversorger sind auf Energie und andere Infrastrukturen angewiesen, die mit Schädigungen einhergehen. Das liegt einfach daran, dass wir ein Wirtschaftssystem geschaffen haben, das diese Schädigungen massiv zulässt. Es kann also nur darum gehen, diese Schädigungen zu minimieren. Besonders klar ist das beim Verzicht auf Fleisch aus Massentierhaltung und beim bewussten Kauf von Fair-Trade-Produkten. Außerdem besteht natürlich immer die Möglichkeit, durch politische Arbeit an den grundlegenden Strukturen etwas zu ändern.“
ZUM WEITERLESEN
Christoph Klotter: Identitätsbildung über Essen. Ein Essay über „normale“ und alternative Esser. Springer, Wiesbaden 2016
Christoph Klotter: Einführung Ernährungspsychologie. Utb/Ernst Reinhardt, München 2017 (3., aktualisierte Auflage)