Einbrecher-Herzen

Kolumnistin Marina Leky über tiefsinnige Schlüsseldienst-Mitarbeiter und über Ex-Häftling Elmar, der ihr als Kind die Haare flocht.

Die Illustration zeigt einen Räuber auf der Flucht mit einem riesigen Schlüsselbund an dem kleine Herzen sind
Lieber Kleinkriminellen vertrauen als Schlüsseldiensten? Mariana Lekys Antwort darauf ist eindeutig. © Elke Ehninger

Meine Badezimmertür ist über hundert Jahre alt, und sie hat mir im Laufe unserer gemeinsamen Zeit mehrfach zu verstehen gegeben, dass etwas mit ihr nicht stimmt. Und ausgerechnet jetzt, in einer Samstagnacht, fliegt sie durch einen Windstoß zu und geht nicht mehr auf, egal was wir, meine Freundin Katja und ich, versuchen. Nachdem wir mit allerlei Kugelschreibern und Schraubenziehern hantiert haben, rufen wir einen Schlüsseldienst an. „Ich bin in dreißig Minuten da“, sagt der Schlüsseldienst putzmunter.

Weder…

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an. „Ich bin in dreißig Minuten da“, sagt der Schlüsseldienst putzmunter.

Weder Katja noch ich haben jemals Kontakt zu einem Schlüsseldienst gehabt. Katja sagt, sie habe gelesen, dass Schlüsseldienste oft von ehemaligen Einbrechern betrieben werden, und schaut mich dabei an, als rechne sie nicht nur mit einem Einbrecher a.D., sondern mit einem Serienkiller.

Immer wenn jemand von Einbrechern anfängt, muss ich an meine frühe Kindheit denken. Als ich im Vorschulalter war, arbeitete mein Vater als Gefängnispsychologe, und manchmal wohnten entlassene Strafgefangene übergangsweise bei uns. Einer davon war Elmar, er war damals Mitte zwanzig und lebte zwei Jahre lang bei uns. Er war – aus meiner Sicht – turmhoch, trug eine Voku­hila-Frisur und weiße Schlaghosen, die am Saum Stockflecken hatten, und er roch intensiv nach Ernte 23. So rochen auch meine Haare, wenn Elmar mir Zöpfe geflochten hatte, was meine Kindergärtnerin weit weniger angenehm fand als ich.

Ich liebte Elmar. Er brachte mir die Schleife bei, das Alphabet und wie man Kakao anrührt; also eigentlich alles, was man wissen muss. Ich hatte keine Ahnung, was Elmar sich hatte zuschulden kommen lassen. Mein Vater erzählte mir später, er sei wiederholt in Geschäfte ein- und habe Zigarettenautomaten aufgebrochen – so dermaßen wiederholt, dass man ihn schließlich, wie es in den 1970er Jahren hieß, verknackt hatte. Elmar hat später keinen Schlüsseldienst eröffnet, sondern einen Kiosk in Köln-Kalk.

Nicht zuschauen beim Aufbrechen des Schlosses!

Das alles erzähle ich Katja, und sie schaut mich skeptisch an und sagt, dass ich durch Elmar ein sehr verklärtes und überholtes Bild vom Kleinkriminellenmilieu hätte, und dann klingelt es endlich. Es ist jetzt ein Uhr nachts.

„Guten Morgen! Kalscheuer mein Name“, schmettert der Mann vom Schlüsseldienst uns entgegen. Er sieht kein bisschen aus wie Elmar, sondern eher wie eine Mischung aus Peter Handke und Peter Lustig, und er legt eine etwas verzweifelte Munterkeit an den Tag, wie ein Dozent, der weiß, dass alle Teilnehmer seine Veranstaltung nicht aus Interesse, sondern aus Pflichtschuld belegt haben. Er hat einen Koffer dabei und, wie sich herausstellen wird, eine Menge Besinnlichkeit.

Herr Kalscheuer kniet sich vor die Badezimmertür und sagt: „Ich muss Sie bitten, nicht zuzuschauen.“ Man darf, lernen wir, beim Aufbruch eines Schlosses nicht zusehen, damit sich kein verheerender Lerneffekt einstellt. Wir wenden uns also ab und die Tür lässt sich sehr lange bitten. Ich bin zu müde und Katja ist zu angespannt für Konversation, Herr Kalscheuer aber nicht. „Was machen Sie denn beruflich?“, fragt er. Da Katja nicht antwortet, sage ich: „Ich bin Autorin.“

„Aha“, sagt er, „dann öffnen Sie ja auch viele Türen.“ Ich schaue Katja an. Sie lächelt. Katjas Vorbehalte konnte man schon immer mit Besinnlichkeit im Handumdrehen knacken. „Die Türen zu den Herzen Ihrer Leser nämlich“, schiebt Herr Kalscheuer nach, weil er nicht sicher ist, ob wir das Bild verstanden haben.

„Und was machen Sie?“, fragt er, und als Katja sagt, sie sei Grundschullehrerin, sagt Herr Kalscheuer nachdenklich: „Dann öffnen auch Sie ja viele Türen. Türen zu den Herzen Ihrer Schützlinge“, und ich frage mich, ob Herr Kalscheuer das mit den Türen wohl auch sagt, wenn jemand seiner Kunden auf die Frage nach dem Beruf „Ordnungsamt, Parkraumüberwachung“ antwortet. Ich hoffe es sehr. Und außerdem hoffe ich, dass die ganz und gar unmetaphorische altersstarrsinnige Badezimmertür jetzt endlich mal auf­geht. Abgewandt fiebern wir mit.

Bislang kein Serienkiller

Dann fliegt die Tür auf, zeitgleich mit der Tür zu Katjas Herz, sie klatscht in die Hände vor Freude, dass das Bad wieder begehbar und Herr Kalscheuer bislang kein Serienkiller ist, und bevor ich sie davon abhalten kann, hat sie Herrn Kalscheuer schon einen Kaffee angeboten, sitzen wir schon am Küchentisch und Herr Kalscheuer erzählt von den Türen und Herzen, die er schon geöffnet hat. Es sind zahllose.

Weil ich finde, dass es reicht, wenn eine von uns begeistert zuhört, ziehe ich mein Telefon aus der Hosentasche. Lieber Elmar, schreibe ich, sehen wir uns im Herbst in Köln? Ich hoffe, ich piepse dich nicht wach.

Du piepst mich nicht wach, schreibt Elmar zurück, ich stehe hier am Fenster und rauche und ich bin alt und mir ist langweilig. Wie geht es dir?

Ich sehe Elmar vor mir, wie er am Fenster seiner Einzimmerwohnung in Köln-Kalk steht, wie ihm langweilig ist, wie er auf die siebzig zugeht.

Heute habe ich meine Badezimmertür nicht mehr aufgekriegt, schreibe ich. Sie ist noch ein wenig älter als du.

Jetzt ist mir nicht mehr langweilig, schreibt Elmar sofort zurück, pass auf: Ruf bloß keinen Schlüsseldienst an. Das sind oft ganz zwielichtige Gestalten, habe ich gehört. Was ist es für eine Tür? Kannst du mir ein Foto schicken? Zusammen kriegen wir die wieder auf, ich verspreche es dir. Ich führe dich durch den Vorgang. Kein Problem! Viele Grüße! Bis gleich!

Ich schaue von meinem Telefon hoch, Herr Kalscheuer ist immer noch dabei, von geöffneten Türen zu erzählen, und Katja schielt vor Müdigkeit und hört tapfer weiter zu. Ich tippe „Zu spät“ in mein Telefon, lösche das dann aber wieder, weil ich an Elmars Herz denke, dessen Tür durch meine verschlossene Badezimmertür aufgeflogen ist.

Danke!, schreibe ich, ja, bitte führe mich durch den Vorgang.

Mariana Leky stand mit ihrem Roman Was man von hier aus sehen kann über ein Jahr auf der Spiegel-Bestsellerliste. In Psychologie Heute schreibt sie jeden Monat darüber, was die Menschen, die sie umgeben, bewegt. Mit psychologischen Themen kennt sich Leky aus: In ihrer Familie sind zehn ­Psychoanalytiker.

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 10/2020: Die Macht des Selbstbilds