„Geh mit deiner Angst Tee trinken“

Meistens verdrängen wir unsere eigene Vergänglichkeit. Doch sie bietet große Chancen auf ein erfülltes Leben, sagt Psychotherapeut Jürgen Grieser.

Die Illustration zeigt einen Menschen, der an den Tod denkt.
Ihre Gedanken kreisen um den den Tod? Lassen Sie sie zu! © Vectorios2016/ Getty Images

Herr Grieser, Sie stellen in Ihrem Buch Der Tod und das Leben die These auf, dass Vergänglichkeit eine Chance für mehr Lebendigkeit bietet. Was verstehen Sie unter Lebendigkeit?

Lebendigkeit hat viel mit Beweglichkeit zu tun. Mit dem Erleben, dass die Dinge fließen, dass sie kommen und gehen, sowie mit der Bereitschaft, mich auf diese Dynamik einzulassen und sie mitzugestalten. Menschen fühlen sich dann lebendig, wenn sie lieben und genießen können. So benannte Sigmund Freud die Wiederherstellung der Liebes-, Arbeits- und Genussfähigkeit als zentrale Ziele der Psychoanalyse. Dabei umfasst der Begriff „Libido“ nicht nur die Sexualität, sondern lustvolles Erleben im Allgemeinen, zum Beispiel bei Freundschaften, Hobbies oder einem schönen Sonnenuntergang.

Bedeutet lebensbejahend zu sein, den Tod abzulehnen?

Nein, ganz im Gegenteil. Wer den Tod vermeidet, vermeidet auch etwas im Leben. Die Grundbotschaft ist, dass der Tod zum Leben gehört. Doch viele von uns nehmen eine Abwehrhaltung gegen den Tod ein. So leben wir in der Illusion, wir seien unsterblich, und erschrecken, wenn uns Vergänglichkeit begegnet.

Welche Techniken nutzen wir, um das Thema Endlichkeit beiseitezuschieben?

In großem Maßstab manifestiert sich unsere Haltung gegen den Tod in einer Überbeschäftigung mit Fortschritt und Konsum, die uns nicht zur Ruhe kommen lässt. Die ökonomische Grundidee von einem endlosem Wirtschaftswachstum beinhaltet eine Angst davor, dass mal etwas nicht weitergeht. Unser Alltag besteht darin, Produkte, Ideen und Dienstleistungen anzubieten und in Anspruch zu nehmen. Stets gibt es etwas zu tun und zu konsumieren. Solange ich kaufen kann, lebe ich – das ist gewissermaßen ein Gegengedanke zum Sterben.

Was können wir selbst tun, um den Tod stärker in das Leben zu integrieren?

Zum einen können wir mehr darüber sprechen. Wie oft setzt man sich mit Freundinnen und Freunden zusammen und wie selten tauscht man sich mit ihnen über die Vorstellungen vom Tod aus? Dabei verbindet er uns alle miteinander. Auch in Psychotherapien wird das Thema oft vermieden. Wir können mehr dafür tun, dass wir wirklich in Kontakt mit uns selbst und unseren innersten Bedürfnissen sind, indem wir Momente der Ruhe schaffen und genießen, die Gedanken schweifen lassen. Selbst wenn es absurd klingen mag: Ich kann tatsächlich empfehlen, auf Friedhöfe zu gehen. Oft sind es sehr schöne und friedliche Orte.

Das klingt nicht sehr einladend.

Natürlich lösen Erfahrungen und Orte, die wir mit dem Tod verbinden, Unwohlsein und Ängste aus. Doch eine tibetische Weisheit lautet: Geh mit deiner Angst Tee trinken, schick sie nicht weg. Betrachte den Tod und entsprechende Ängste mehr als natürliche Begleiter, denn als Feinde. In dieser Perspektive können wir sie besser kennenlernen. Wenn wir wissen, womit wir es zu tun haben, nimmt die Angst ab und wir können uns leichter anderen Dingen zuwenden.

Lesen Sie das komplette Interview mit Jürgen Grieser in unserem aktuellen Themenheft der Reihe Psychologie Heute compact: Trauer und Verlust: Was wir verlieren – Wie wir trauern – Was uns tröstet

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute Compact 64: Trauer und Verlust
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