Alle Eltern haben Angst um ihre Kinder, und die brauchen sie auch, um diese zu beschützen. Sie setzen ihren Kindern Fahrradhelme auf, lassen sie nicht unbeaufsichtigt am Wasser spielen und kaufen sichere Autositze. Das ist üblich und normal. Der Wunsch nach allumfassender Sicherheit kann aber auch dazu führen, dass Eltern ihre Kinder kaum noch aus dem Blick lassen oder sogar versuchen, ihnen jegliches Hindernis aus dem Weg zu räumen. Doch wo beginnt die Überbehütung? Und wann übertragen die Eltern eigene…
Sie wollen den ganzen Artikel downloaden? Mit der PH+-Flatrate haben Sie unbegrenzten Zugriff auf über 2.000 Artikel. Jetzt bestellen
übertragen die Eltern eigene Ängste auf ihre Kinder?
Den Vorwurf, dass die nächste Generation falsch erzogen und dadurch lebensuntauglich werde, gab es in den vergangenen Jahrzehnten schon oft. Und so sind auch die Schreckensszenarien mit Vorsicht zu betrachten, die vor einer Generation überbehüteter und lebensunfähiger Kinder durch sogenannte Helikoptereltern warnen (siehe Kasten unten).
Diese Polemisierung verhindert zudem einen differenzierten Blick auf die entscheidende Frage, die sich wohl alle Eltern stellen: Wo liegt die richtige Balance zwischen gesunder Angst und einem ängstlichen Verhalten, das dem eigenen Kind schadet? Ist es übertrieben ängstlich oder verantwortungsvoll, sein Grundschulkind nicht allein an einer stark befahrenen Straße zur Schule gehen zu lassen oder den Jugendlichen zu bitten, abends von unterwegs anzurufen?
Viele Gründe für ängstliche Kinder
Wenn Eltern ein hohes Sicherheitsbedürfnis haben, wirke sich das auf die Kinder aus, sagt der Kinder- und Jugendpsychiater Ingo Spitczok von Brisinski – und das könne krankhafte Ausmaße annehmen: „Wir sehen sehr viele Kinder mit Ängsten, bei denen mindestens ein Elternteil selbst eine Angsterkrankung hat oder ein sehr ängstlicher Typ ist. Da gibt es einen engen Zusammenhang.“ Ängstliche Eltern seien weniger risikobereit, ihre Kinder Situationen auszusetzen, in denen diese auch mal Mut beweisen und sich ausprobieren müssten.
„Damit tragen sie mit dazu bei, dass die Kinder ihre Ängste nicht bewältigen, sondern die Ängste immer größer werden lassen“, sagt Spitczok von Brisinski, der die Kinder- und Jugendpsychiatrie und Institutsambulanz an der LVR-Klinik Viersen leitet. Doch daraus lässt sich nicht einfach ableiten: Ängstliche Kinder haben ängstliche Eltern und umgekehrt. Der Arzt betont, dass es vielfältige Faktoren sind, die dazu führen, dass Kinder überhaupt übermäßige Ängste entwickeln. „Es gibt genug mutige Mütter, die ängstliche Kinder haben. Und es gibt auch genug ängstliche Mütter, die mutige Kinder haben.“ Und dass Kinder überhaupt Ängste hätten, sei an sich auch nichts Schlechtes.
„Angst ist zunächst einmal eine lebens- und überlebenswichtige Emotion, die uns schützt“, erklärt Julian Schmitz, Kinder- und Jugendpsychotherapeut und Professor für klinische Kinder- und Jugendpsychologie an der Universität Leipzig. Das Gefühl von Angst kann uns helfen, Gefahren und Risiken für uns und andere zu vermindern. Angst dient dem Selbstschutz und aktiviert das Bindungsverhalten, so dass Kinder, die Angst spüren, Schutz, Trost und Zuflucht suchen. Aber Ängste können auch zu stark werden und dazu führen, dass Kinder und Jugendliche unter ihnen leiden, sich zurückziehen, unbekannte Situationen vermeiden und so in der Entwicklung beeinträchtigt werden.
Studien mit widersprüchlichen Ergebnissen
Die Forschung hilft bei der Klärung der Frage nach Einflüssen und Wirkungen nur begrenzt weiter. Viele wissenschaftliche Studien zeigen einen Zusammenhang zwischen elterlicher Überfürsorge beziehungsweise überbeschützendem Verhalten und den Ängsten bei Kindern. Motivieren Eltern ihr Kind hingegen, selbständig zu handeln und sich immer wieder neuen Herausforderungen zu stellen, reduzieren sie demnach das Risiko, dass das Kind übermäßige Ängste entwickelt.
Andere Studien legen allerdings nahe, dass gerade die Mischung der Erziehungsstile – die Mutter überfürsorglich, der Vater herausfordernd – gut ist für die psychische Entwicklung des Kindes. Doch ebenso gibt es Untersuchungen, die zu dem Schluss kommen, dass der Einfluss des elterlichen Verhaltens auf die Entwicklung von kindlichen Ängsten insgesamt nur einen sehr geringen Anteil ausmacht. Außerdem können, so weitere Forschungsergebnisse, umgekehrt auch Kinder das Verhalten ihrer Eltern beeinflussen, je nachdem wie wild und risikofreudig sie sind.
Grundsätzlich bergen viele Studien die – auch bei anderen Themen verbreitete – Schwierigkeit, dass sie meist unter Laborbedingungen stattfinden und nur einen kleinen Ausschnitt abbilden können.
Der überschätzte Einfluss der Eltern
Dabei zweifeln Wissenschaftlerinnen nicht an, dass Eltern eigene Ängste auf Kinder übertragen oder durch zu beschützendes Verhalten auch Ängste verstärken können. Umstritten ist aber, wie stark der Einfluss der Eltern tatsächlich auf die Entwicklung der kindlichen Ängste ist. Julian Schmitz beurteilt den Einfluss des überbeschützenden Elternverhaltens auf die Entwicklung von Angststörungen nur als mittel bis klein und keineswegs als zentralen Faktor.
Stärkeren Einfluss hätten das angeborene Temperament eines Kindes und die biologischen Dispositionen, wie es auf neue Situationen reagiert. Und natürlich könnten auch schlimme gewalttätige oder andere traumatische Erlebnisse und Erfahrungen dazu führen, dass Kinder Ängste entwickeln, so Schmitz, der auch die Psychotherapeutische Hochschulambulanz für Kinder und Jugendliche an seiner Universität leitet, an der Patientinnen und Patienten von 0 bis 21 Jahren mit einem breiten Störungsspektrum behandelt werden – Ängste gehören auch dazu.
„Wenn man bei Angststörungen die Eltern in die Psychotherapie miteinbezieht und die Eltern ihr Verhalten ändern“, habe dies keinen positiven Effekt auf die Ängste der Kinder – das zeige die große Mehrheit aller guten Forschungsstudien. Viel entscheidender sei hingegen die Arbeit mit den Kindern selbst, mit ihnen zu trainieren, mutig zu werden, eigene Angstgedanken zu überwinden, sich Situationen zu stellen, Kompetenzen aufzubauen. „Es gibt auch Fälle, da schirmen die Eltern ihre Kinder so ab, dass es schädlich ist. Aber das sind nur Einzelfälle“, so Schmitz. Einen Trend, dass es heute viel mehr ängstliche Kinder und Eltern gebe als früher, könne er nicht ausmachen – abgesehen von den Zeiten der Coronapandemie, in denen Ängste und Depressionen unter Kindern deutlich angestiegen sind.
„Überbehütung eines der größten Probleme unserer Gesellschaft“
Veit Roessner, Leiter der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universitätsklinik Dresden, beurteilt die aktuelle Entwicklung etwas anders. Er beobachte eine deutliche Zunahme von ängstlichen Eltern zumindest im Klinikalltag, sagt Roessner. „Dass Kinder überbehütet und überängstlich betreut werden, ist neben der zeitweisen Vereinsamung als Konsumenten und Konsumentinnen von digitalen Medien eines der größten Probleme unserer Gesellschaft“, so der Kinder- und Jugendpsychiater.
Wenn Eltern rund um die Uhr ein Beschäftigungs- und Unterhaltungsprogramm für ihre Kinder organisieren, könnten diese die Selbstwirksamkeit nicht spüren. Dürften Kinder sich nicht ausprobieren, auch unbeobachtet spielen, toben, raufen, sich streiten und ihre eigenen Grenzen erfahren, und verbrächten stattdessen mehr Zeit im sicheren Zuhause, etwa als passive Konsumenten von Medien, führe das „zu sozialer und emotionaler Vereinsamung“.
Seit Jahren steigt die Zahl von Kindern, die stationär oder ambulant psychotherapeutische Hilfe suchen. Doch es fehlen zweifelsfreie kausale Zusammenhänge, um zu belegen, dass die Zahl psychisch erkrankter Kinder tatsächlich zugenommen hat. Die psychotherapeutische Versorgung für Kinder wurde in den vergangenen Jahrzehnten stark ausgeweitet, der gesellschaftliche Umgang ist anders: Eltern, Lehrerinnen und Erzieher reagieren sensibler auf viele Probleme, und die Hemmschwellen, sich Unterstützung bei psychischen Erkrankungen zu suchen, sind gesunken.
Hier können Sie mehr über die Überbehütung von Kindern lesen:
Eine Erziehung zum Mut – nicht zur Angst
Wohl eindeutig lässt sich sagen: Mut tut allen Kindern gut. Mut bedeutet, sich neuen Herausforderungen zu stellen, sich weiterzuentwickeln, eigene Grenzen auszuweiten und Scheu abzulegen. „Mut aus kinderpsychologischer Sicht ist ein treibender Faktor für die Entwicklung von Selbstbewusstsein, für Selbstwirksamkeit: Ich merke, ich kann etwas bewegen. Und das ist sehr wichtig“, sagt Julian Schmitz. Kinder brauchen für ihr Alter angemessene Herausforderungen, um daran zu wachsen.
Laut Untersuchungen spielen sie heute allerdings tatsächlich viel weniger unbeobachtet und frei draußen und können dadurch auch weniger Risiko beim Spielen erleben. Eine Übersichtsstudie, vornehmlich von Forscherinnen und Forschern aus Kanada, hat 21 wissenschaftliche Publikationen auf den Zusammenhang zwischen riskantem Spielen draußen und der Gesundheit von Kindern untersucht.
Die Wissenschaftler kommen zu dem Ergebnis, dass die positiven gesundheitlichen Auswirkungen eines riskanten Spiels im Freien größer sind als die gesundheitlichen Auswirkungen, die sich ergeben, wenn man das riskante Spiel vermeidet. Anders gesagt: Wer sein Kind nicht allein draußen spielen lässt, weil es vom Baum fallen, sich im Wald verirren oder im Fluss ertrinken könnte, geht langfristig ein höheres Risiko für psychische Belastungen oder Erkrankungen ein.
Leben in Deutschland so sicher wie nie
Objektiv betrachtet war das Leben in Deutschland wohl noch nie so sicher wie heute. Die medizinische Versorgung von Kindern hat sich stetig verbessert, die Zahl der Verletzungen mit Todesfolge bei Kindern und Jugendlichen ist in ganz Europa in den vergangenen Jahrzehnten stark gesunken. Auch die Zahl der tödlichen und schweren Verkehrsunfälle sinkt seit Jahren kontinuierlich. Was macht Eltern dann Angst?
Die Kinder- und Jugendärztin Karella Easwaran führt seit mehr als 20 Jahren eine eigene Praxis in Köln und hat zwei Bestseller über gesunde Kinder und Mütter geschrieben. Sie beobachtet, dass die Sorgen der Eltern zunehmen, während die körperlichen Kinderkrankheiten bei den Kindern eher abnehmen. Viele Mütter und Väter trauten sich nur noch wenig zu und seien verunsichert angesichts der Fülle an Informationen und Nachrichten in den Medien, die täglich auf sie einströmen, während ihnen gleichzeitig oft der Rückhalt durch die Großfamilie oder ein starkes soziales Netzwerk fehle. Im Grunde seien sie es, denen es an Sicherheit und Selbstvertrauen mangele und denen es aufgrund einer Fülle von Möglichkeiten und Herausforderungen schwerfalle, einfach auf eine gesunde Entwicklung ihrer Kinder zu vertrauen – und loszulassen.
Steht immer die Mutter helfend neben ihrem Kind am Klettergerüst, bringt der Vater es jeden Tag mit dem Auto zur Schule, machen die Eltern das mit den besten Absichten. Sie vermitteln aber gleichzeitig unbewusst die Botschaft an ihr Kind: Ich traue dir das nicht zu, und die Welt ist gefährlich. „Eine gute Elternschaft bedeutet, das eigene Kind Schritt für Schritt loszulassen und Sicherheit zu vermitteln“, sagt Klinikdirektor Veit Roessner.
„Wenn Eltern ständig vor Gefahren warnen und vieles verbieten, was ein Risiko bergen könnte, führt es dazu, dass Kinder weniger lebenstüchtig sind, aber auch dazu, dass sie bestimmte Erfahrungen, die zu einem glücklichen Leben gehören, nicht machen. Warum gehen auch wir Erwachsene gefährlichen Trendsportarten nach? Weil es Spaß macht und wir die Grenzerfahrung suchen“, so Roessner. Doch anstatt dem Kind den Besuch im öffentlichen Frei- oder Hallenbad zu erlauben, werde lieber im Garten der eigene Pool aufgebaut. Dabei sei die Gefahr, dort zu ertrinken, im Zweifel viel größer als im Schwimmbad, wo andere Badegäste und Bademeister mitaufpassen.
Hinfallen – und lernen
Sollten Eltern sich also so wenig wie möglich einmischen? „Es geht nicht um Fahrlässigkeit und auch nicht darum, die Kinder in Gefahr zu bringen“, sagt Pädagoge Jürgen Einwanger, der die Akademie des Österreichischen Alpenvereins leitet und mit dem Projekt risk’n’fun die Risikokompetenz von Kindern und Jugendlichen fördern möchte.
„Kinder brauchen Orientierung, aber sie brauchen auch den Freiraum, um sich auszuprobieren“, so seine Einschätzung. Sie müssten scheitern, hinfallen und sich verletzen dürfen – und lernen, Situationen selbst einzuschätzen. „Und Eltern müssen lernen, das auszuhalten.“
Helikoptereltern: Ruf und Statistik
Wenn es um das Thema Überbehütung geht, spricht man heute schnell von „Helikoptereltern“ – eine Bezeichnung, die negativ konnotiert ist.
Diesen Müttern und Vätern wird vorgeworfen, immerzu um ihre Kinder zu kreisen, sie ständig vor drohenden Verletzungen zu warnen und jedes Spiel zu verbieten, das ein Risiko bergen könnte, sich zu verletzen, zu fallen oder zu scheitern. Im Sandkasten wird das Isolierkissen bei Kälte unter den Po geschoben, unters Spielgerät stets die weiche Matte gelegt und sogar im Studium noch versucht, die Probleme (mit) zu lösen.
Während das Phänomen in den Medien immer wieder aufgegriffen wird, sind belastbare Erhebungen zu dem Thema rar. Einer Schätzung aus dem Jahr 2013 zufolge üben 10 bis 15 Prozent der Eltern in Deutschland einen Erziehungsstil aus, bei dem sie sich ständig an der Seite ihres Nachwuchses aufhalten und sich permanent in alle Lebensbereiche und Belange der Kinder einmischen.
Allerdings lassen jüngere wissenschaftliche Untersuchungen vermuten, dass es doch deutlich weniger Kinder sind, die tatsächlich dermaßen überbehütet erzogen werden. Eine Studie von Claudia Dickhäuser und Oliver Dickhäuser etwa kam 2021 zu dem Ergebnis, dass nur 2,1 Prozent der befragten Studierenden Eltern mit ausgeprägtem Helikopterverhalten hatten.
Zum Weiterlesen
Mariana Brussoni u.a.: What is the relationship between risky outdoor play and health in children? A systematic review. International Journal of Environmental Research and Public Health, 12/6, 2015, 6423–6454
Claudia Dickhäuser, Oliver Dickhäuser: Engagierte Eltern – engagierte Kinder? Zum Zusammenhang zwischen Helicopter Parenting und Selbstwirksamkeit, Autonomie und Engagement im Studium. Perspektiven der empirischen Kinder- und Jugendforschung, 2/2021, 113–134
Karella Easwaran: Das Geheimnis gesunder Kinder. Was Eltern tun und lassen können. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2018
Karella Easwaran: Das Geheimnis ausgeglichener Mütter. Starke Mütter – Starke Familien – Starke Gesellschaft. Kösel, München 2020
Jürgen Einwanger (Hg.): Mut zum Risiko. Herausforderungen für die Arbeit mit Jugendlichen. Ernst Reinhardt, München 2007
Ellen Beate Hansen Sandseter u.a.: Associations between children’s risky play and ECEC outdoor play spaces and materials. International Journal of Environmental Research and Public Health, 18/7, 2021, 3354
Patricia Obee u.a.: Lessons learned from Norway on risky play in early childhood education and care (ECEC). Early Childhood Education Journal, 49/4, 2021, 99–109
Eline L. Möller u.a.: Associations between maternal and paternal parenting behaviors, anxiety, and its precursors in early childhood: A meta-analysis. Clinical Psychology Review, 45, 2016, 17–33