Hören wir das Wort Einsamkeit, erscheint vor unserem geistigen Auge eine grauhaarige Dame, die allein auf der Parkbank sitzt. Da wippt ein einzelner Herr mit Blick auf den quäkenden Fernseher in seinem Schaukelstuhl vor und zurück. Wir denken an unsere Großmütter, die verwitwet und allein wohnen, oder den greisen Mann in der Nachbarwohnung, dem man ab und an den Müll hinunterträgt. Nicht aber an: junge Menschen.
Dabei sind Jugendliche und junge Erwachsene nach Senioren die zweite Gruppe, die besonders häufig…
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von dem Gefühl der Einsamkeit geplagt wird. In Untersuchungen, in denen Menschen aus allen Altersgruppen befragt werden, wie oft sie sich einsam fühlen, gibt es recht regelmäßig zwei Ausschläge: einen bei den Menschen im Rentenalter. Den zweiten in der Jugend und bei den jungen Erwachsenen, also etwa zwischen 15 und 25 Jahren.
Ein Report des Instituts der deutschen Wirtschaft aus dem Jahr 2019 beziffert das. Die Studienautorinnen werteten die Befragung von rund 30000 Deutschen im Rahmen des Sozio-oekonomischen Panels aus. Demnach fühlten sich im Jahr 2017 die Ältesten am einsamsten. Von den über 60-Jährigen sagten 10,8 Prozent, dass sie sich oft bis sehr oft einsam fühlten. Bei den unter 20-Jährigen waren es immerhin 8,4 Prozent; mehr als 9 Prozent der 20- bis 29-Jährigen ergeht es genauso.
Inmitten hunderter Menschen
Junge Menschen und einsam? Das passt nicht zusammen. In der Schule, im Sportverein, beim Musikunterricht: Die meisten Jugendlichen haben ein großes soziales Netzwerk. Und auch nach dem Abschluss der Schule treffen sie im Studium oder der Ausbildung neue Leute. Junge Menschen umgeben sich täglich mit einer unzähligen Menge an Freunden, Bekannten oder Familienmitgliedern. Wieso fühlen also ausgerechnet sie sich isoliert?
„Einsamkeit ist zunächst einmal nichts, was sich an der schieren Anzahl von Sozialkontakten ermessen lässt. Einsamkeit ist subjektiv“, erklärt Susanne Bücker, Psychologin an der Ruhr-Universität Bochum. Es ist ein Gefühl, das einen überall beschleichen kann – allein zu Hause oder inmitten hunderter Menschen, beim Seriegucken auf der Couch oder auf einem ausverkauften Festival. Es ist diese Empfindung, ohne Verbindung zu einem anderen Menschen zu sein, kaum jemanden zu kennen, der einen versteht, der einen wirklich kennt, an den man sich wenden kann, der mit einem Zeit verbringt oder dessen Nähe man schätzt. Einsamkeit ereilt Menschen in Partnerschaften ebenso wie solche im Singlehaushalt. Sie kann Instagram-Nutzer mit 700 Followern genauso überfallen wie jene, die nur eine Handvoll Verbindungen zu anderen Personen pflegen.
Wie ein anhaltender Schmerz
„Das Gefühl, einsam zu sein, drückt aus, dass einem etwas in den sozialen Kontakten fehlt. Entweder ist die Qualität der Beziehungen nicht ausreichend oder man hat nicht genug enge Kontakte. Oder zumindest weniger intensive, als jemand es sich wünscht“, erklärt Psychologin Bücker. Sie unterscheidet zwischen Einsamkeit, also dem Gefühl, das per se negativ getönt ist, und Alleinsein. Letzteres ist kein Gefühl, sondern ein Zustand, der vom einen als positiv, der anderen als negativ empfunden wird, denn manche suchen sich das Alleinsein gezielt aus, fühlen sich darin wohl und tanken Kraft dabei. „Das bedeutet, dass sich Singles oder Menschen mit wenigen sozialen Kontakten nicht automatisch auch einsam fühlen“, sagt die Psychologin. Es sei unter den Singles, die allein wohnen, zwar Studien zufolge wahrscheinlicher, dass das Gefühl der Einsamkeit aufkomme. Aber auch Menschen in Partnerschaften erlebten es, und zwar gar nicht so selten.
Egal wen es trifft: Aus akuten Einsamkeitsgefühlen können schlimmstenfalls chronische werden. Das Gefühl ebbt dann nicht ab. Auf Dauer befördert es körperliche und psychische Beeinträchtigungen (siehe Kasten auf Seite 74). Denn stetige Einsamkeit ist für den Körper großer Stress. Experten vergleichen die Wirkung mit der von anhaltenden Schmerzen.
Empfindsame Jugend
Vor allem in kritischen Lebensphasen kommt es dazu, dass wir uns einsam fühlen. „Direkt nach einer Trennung oder wenn jemand Nahestehendes verstorben ist, kann diese Empfindung gehäuft auftreten – selbst wenn jemand objektiv gar nicht allein ist“, sagt Marcus Mund vom Institut für Psychologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena.
Die natürliche Entwicklung von jungen Menschen ist eine kritische Lebensphase. Denn Jugendliche – früher wie heute – fühlen anders als Erwachsene. Sie erleben negative Emotionen und Eindrücke oft verstärkt, fühlen sich zudem allein eher unwohl und empfinden sich dann schneller als einsam. „Unsere Persönlichkeit verändert sich über die Lebensspanne meist wenig, dennoch kann es phasenweise Schwankungen geben, etwa in der Jugend. Viele sind in dieser Zeit weniger verträglich und zugleich deutlich empfindlicher in sozialen Situationen“, sagt Psychologe Mund. Das könne in die Entstehung von Einsamkeitsgefühlen hineinspielen. „Es gibt Menschen, die fühlen sich einfach schneller einsam als andere, unabhängig davon, wie viele enge soziale Kontakte sie tatsächlich pflegen.“
Dass die Persönlichkeit eine wichtige Komponente bei Einsamkeitsgefühlen ist, bestätigte auch Susanne Bücker in einer Metaanalyse. Sie wertete mit Kollegen die Daten von 113 Studien mit rund 93000 Menschen aus. Wer gesellig, verträglich, gewissenhaft oder mit offenem Geist durchs Leben geht, ist seltener einsam. Menschen, die emotional empfindsamer sind, sich mehr Sorgen machen, eher traurige oder negative Gefühle erleben, fühlen sich öfter einsam. Unklar ist aber bislang, was zuerst da war, also ob neurotische Menschen eher einsam sind oder einsame eher neurotisch.
Doch unabhängig von der Entwicklung und Persönlichkeit von Menschen sehen manche Forscher die Zahl der jungen Einsamen steigen. Der Report des Instituts der deutschen Wirtschaft aus dem Jahr 2019 zum Beispiel hält fest: Vor allem bei den jungen Menschen – den unter 20-Jährigen und den 20- bis 29-Jährigen – sind die Einsamkeitsraten gestiegen. Auch andere Forscher wollen das beobachtet haben. Was ist der Grund für diese mögliche Zunahme? Immerhin haben junge Menschen doch heute zusätzlich zu den vielen Begegnungen im Alltag auch noch Kontakte über soziale Medien.
Generation Selfie?
Gerade da liege das Problem, warnen einige Forscher. Die Digitalisierung, sagen sie, sei der größte Motor für Einsamkeit. „Sie bringt Menschen nämlich nicht, wie oft behauptet wird, zusammen, sondern bewirkt eine Zunahme von Unzufriedenheit, Depression und Einsamkeit“, erklärt der Psychiatrieprofessor Manfred Spitzer in seinem Buch Einsamkeit. Insbesondere gelte das für Plattformen wie Facebook, Twitter, WhatsApp, YouTube, Instagram oder Snapchat, schreibt der ärztliche Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Universitätsklinikum Ulm.
Die Psychologieprofessorin Jean Twenge von der San Diego State University in den USA sieht das ähnlich. Sie hat die Altersgruppe untersucht, die zwischen 1995 und 2012 geboren wurde, und bezeichnet sie als „Generation Selfie“. Denn bei ihr habe die Neuheit „Smartphone“ voll durchgeschlagen, wie Twenge aus ihren Erhebungen in den USA abliest. Die Schüler und Studenten dort verbringen demnach heute sieben Stunden pro Woche weniger im direkten Kontakt mit Freunden und Gleichaltrigen.
Sie treffen sich außerhalb von Schule und Studium insgesamt seltener persönlich, gehen seltener aus auf ein Date, zu Partys oder ins Kino. „Die Zeit, die mit Freunden persönlich verbracht wurde, wurde durch die Zeit ersetzt, die online mit Freunden (und virtuellen Freunden) verbracht wird“, erklärt Twenge den Befund in ihrem Buch Me, My Selfie and I. Darin berichtet Twenge auch von Mädchen, die ihre gesamten Sommerferien im Elternhaus am Handy hängen, Studenten, die es sicherer finden, sich in Textnachrichten zu unterhalten als in einem Telefonat oder gar persönlich, oder Jungen, die es zu anstrengend finden, sich mit Freunden zu treffen.
Keine kausalen Schlüsse
Doch ist das wirklich schlimm? Macht das junge Menschen einsam? Wenn es zutrifft, dass soziale Medien Personen miteinander verbinden, dann sollten Jugendliche, die viel Zeit damit verbringen, weniger einsam sein, so Twenges These. „Leider stellt sich heraus, dass dies für die Generation Selfie, die immer online ist, nicht stimmt“, resümiert sie. Junge Menschen, die täglich soziale Medien aufsuchten, sagten mit größerer Wahrscheinlichkeit in Erhebungen „Ich fühle mich oft allein“ oder „Ich wünschte mir oft, dass ich mehr gute Freunde hätte“. „Im Gegensatz dazu sind diejenigen, die persönlich Zeit mit ihren Freunden verbringen oder Sport treiben, weniger einsam“, schreibt Twenge.
Das sehen nicht alle Forscher so. „Die bisherigen Studien, die untersuchen, ob Digitalisierung und Einsamkeit zusammenhängen, erlauben keine kausalen Schlüsse. Sprich: Sie zeigen nicht, ob die Nutzung sozialer Medien einsamer macht“, betont die Psychologin Bücker aus Bochum. Die Theorien klängen oft plausibel – durch die viele Zeit am Handy, könnten junge Menschen keine tiefgreifenden Beziehungen aufbauen und seien eher einsam –, aber die Daten zeigten das nicht, auch nicht die von der US-Psychologin Twenge.
Sie sind die Größten
Die Digitalisierung mache mitnichten nur einsam, meinen Kritiker von Twenge und Spitzer. „Manchen ermöglichen die sozialen Medien überhaupt erst, Kontakt mit anderen aufzunehmen. Ihnen wird hier die Angst vor dem unmittelbaren Zusammentreffen genommen“, sagt Psychologe Mund. Menschen mit sozialen Ängsten, Introvertierte, junge Leute mit Behinderungen und solche, die eher am Rande der Gesellschaft stehen, fänden durch diese Kanäle Anschluss, der ihnen im realen Leben vielleicht verwehrt bliebe oder für sie schwer zu finden sei. Da gibt es Chats für Autisten, Selbsthilfeforen für Sozialphobiker, Onlineberatung für Mobbingopfer. Sie alle finden im Internet ein offenes Ohr, wo es im analogen Leben für sie zu wenig Aufmerksamkeit gibt.
Forscher aus Großbritannien und den USA kamen 2017 in einer Studie zu dem Schluss, dass es letztlich nicht darum geht, ob jemand soziale Medien nutzt, sondern wie. Wer die Dienste aufruft, um bestehende Freundschaften zu pflegen oder neue zu knüpfen, bei dem mildert dies Gefühle der Einsamkeit. Wer darin eine Zuflucht sieht, um der sozialen Welt und möglichen Verletzungen im analogen Miteinander zu entfliehen, wird sich dadurch eher einsam fühlen, ergab ihre Untersuchung.
Die Medienlandschaft ist indes nur ein Trend, der das Einsamkeitsgefühl junger Menschen beeinflusst. Individualismus ist ein weiterer. Das große Streben nach Eigenständigkeit steigere das Risiko für Einsamkeit, so Psychiater Manfred Spitzer. Er kritisiert auch die Eltern: Sie seien nicht unschuldig daran, dass die Kinder heute stärker auf sich selbst und ihre Individualität fokussiert seien. „Was immer die Kinder tun – sie sind ‚die Größten‘ und bekommen dies auch permanent gesagt“, erklärt Spitzer. Die Folge seien selbstverliebte, wenig am Wohlergehen anderer interessierte junge Erwachsene. Das „Ich-tum“ glaubt auch US-Psychologin Jean Twenge in Partnerschaften der Generation Selfie ablesen zu können. Aus persönlichen Gesprächen mit Oberschülern und Studenten zitiert die Forscherin Mädchen und Jungen, die berichten, dass sie sich bewusst von Partnerschaften fernhielten. Diese könnten von dem eigenen Lebensweg, von eigenen Werten und einer beruflichen Karriere abhalten.
Erwartungsdruck kostet Beziehungen
Vielleicht liegt es aber gar nicht am Medienkonsum oder dem Individualisierungsbestreben der jungen Menschen, sondern an gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Schon immer stellte das Lebensjahrzehnt ab der Pubertät die sich entwickelnden Individuen vor immense Herausforderungen. Raus aus dem Elternhaus, umziehen in eine andere Stadt, ein neuer Lebensinhalt. Dies zieht mitunter eine Schneise durch die bisherige Freundschaftslandschaft. Das erleben junge Menschen von Flensburg bis zum Bodensee.
„Die Phase der Adoleszenz, der Jugend, dauert heute länger als früher, bis zum Alter von 25 oder 30 Jahren. In dieser Zeit passiert so viel im Leben wie in sonst kaum einer anderen Lebensphase“, sagt auch Mund. Nicht nur Umzüge, Studium oder Ausbildung, auch erste enge Partnerschaften, Gedanken an Kinderplanung, erste wichtige Karriereschritte zählen mit hinein. „Diese Zeit ist aber vor allem eine Findungsphase, in der wir uns fragen: Was erwarte ich von Beziehungen, was wünsche ich mir und was brauche ich von Freunden?“ Die Antworten darauf können bisherige Beziehungen auf eine Probe stellen, der räumliche Abstand zueinander und unterschiedliche Alltage alte Freunde entzweien.
Doch nicht nur der Trubel dieser Jahre, auch der zunehmende Druck, der mittlerweile auf den Schultern der jungen Generation lastet, wirkt sich aus. Denn die natürlichen Entwicklungsprozesse werden heute nicht nur einfach durchlaufen, sondern Ausbildung und erster Job müssen bestmöglich gestaltet werden. Das Gehalt sollte stimmen, die Aufstiegschancen müssen im Blick behalten werden. Diese hohen Erwartungen haben ihren Preis: Tatsächlich fühlen sich zum Beispiel vollzeitbeschäftigte junge Angestellte einer Studie zufolge genauso häufig einsam wie Gleichaltrige ohne Job und Ausbildung, die sehr viel weniger Möglichkeiten zur Kontaktaufnahme mit anderen haben. Personen in Teilzeit- oder anderen Arbeitsmodellen hingegen empfanden dies deutlich seltener. „Wer früh im Leben viel arbeitet, hat weniger Zeit, soziale Beziehungen aufzubauen, oder pflegt dann eher oberflächliche“, erklärt Mund. Der Druck zu brillieren kann also Freundschaften kosten.
Die Planungswut der Eltern
Und auch Eltern haben einen Einfluss auf den Freundeskreis ihrer Kinder, vielleicht sogar einen negativen. Viele Mütter und Väter planen heute nahezu alle Aktivitäten der Jüngsten. Schon in Kindertagen bleibt nach Kita oder Schulalltag wenig Zeit für Freunde, weil der Tag voll durchstrukturiert ist. Kinderpsychologen warnen vor einer „Verinselung“. Das Kind lernt nicht, Anschluss zu finden und Freundschaften zu schließen – und somit auch nicht, welchen Zugewinn diese emotional bringen können. US-Psychologin Twenge beobachtet bei Jugendlichen und Jungerwachsenen zudem, wie häufig Eltern bei Veranstaltungen dabei sind, die früher die Jugend nur unter sich erlebte: Kinoabende, Shopping, sogar auf Partys seien nunmehr immer wieder Eltern zugegen. Die jungen Leute kämen gar nicht dazu, unter sich zu sein und Verbindungen losgelöst von der Familie zu formen.
„Vieles kann zu Einsamkeit führen. Wenn die Beziehungen zu Eltern, Geschwistern oder wenigen Freunden eng genug sind, muss sie aber nicht unbedingt entstehen“, sagt der Jenaer Psychologe Marcus Mund. Seine Forschung sät nämlich sogar Zweifel daran, dass sich unter den heute Jungen überhaupt mehr Einsame verstecken als früher. In seiner Übersichtsarbeit aus dem Jahr 2019 mit Daten von mehr als 83000 Studienteilnehmern von vier Kontinenten fanden er und sein Forschungsteam in den Analysen zumindest keine Unterschiede zwischen mehreren Generationen.
„Es ist nicht gesichert, ob es heute mehr junge einsame Menschen gibt als noch vor einigen Jahren“, bekräftigt auch Bücker. Und tatsächlich ist die Studienlage widersprüchlich. Es gibt Studien wie die vom Institut der deutschen Wirtschaft, die einen Unterschied finden, und andere wie von Psychologe Mund, die das Gegenteil sagen.
Dem Teufelskreis entkommen
Aber nicht nur hier hat die Forschung Lücken. Es mangelt auch an Hilfsangeboten gegen die Einsamkeit. Denn dass es junge Menschen mit diesem Problem gibt, ist unstrittig. Gesundheitswissenschaftler aus den USA und Australien starteten immerhin vor kurzem ein Onlineangebot für junge Betroffene. In dem sechswöchigen Programm auf dem Smartphone sollen die Teilnehmer lernen, positiver zu denken, und erfahren, wie sie Beziehungen zu besserer Qualität verhelfen können. Denn allein von mehr Kontakten verschwindet Einsamkeit nicht.
„Betroffene neigen dazu, das Verhalten ihrer Mitmenschen verzerrt und besonders kritisch wahrzunehmen sowie Begegnungen negativ zu interpretieren, auch wenn diese es objektiv nicht waren“, erklärt Psychologin Bücker. Das führe vermehrt zur Vermeidung von sozialen Kontakten. Einzelne Elemente der Psychotherapie könnten da hilfreich sein: „Einsamkeit ist keine psychische Störung, sondern ein Gefühl. Aber in der kognitiven Verhaltenstherapie gibt es Methoden, die hier wirksam sein können“, sagt Mund. Etwa solche, die eingeschliffene Denkmuster und schiefe Wahrnehmungen in sozialen Situationen geraderücken. Betroffene lernen zum Beispiel, andere Menschen nicht als bedrohlich wahrzunehmen, oder auch, es nicht als Ablehnung zu werten, wenn jemand sie nicht anlächelt.
Psychologin Bücker rät außerdem: „Offenheit schafft Nähe. Damit eine Beziehung Tiefe erfährt, kann es hilfreich sein, sich selbst zu öffnen, statt darauf zu warten, dass der andere Persönliches mit mir teilt.“ Gespräche seien ohnehin ein wichtiges Werkzeug. „Ein erster Schritt ist, über seine Gefühle sprechen zu lernen“, sagt sie. Ein zweiter: die Scham über die Einsamkeit abzulegen. „Junge Menschen denken oft, es sei schlimm, dass sie sich so fühlen. Dabei ist es ein ganz normales Gefühl, das jeder Mensch mal erlebt“, erklärt die Psychologin. Das zu wissen kann helfen, sich nicht als Außenseiter zu fühlen. Denn schnell entsteht hier ein Teufelskreis: Einsamkeitsgefühle führen zum Rückzug und der zur Isolation mit noch mehr Einsamkeit.
Manchen mag es auch helfen, nach der Ursache des Gefühls zu suchen. Denn obwohl bislang nicht der eine allumfassende Grund dafür entdeckt wurde, warum junge Menschen sich einsam fühlen, findet sich in jedem der Erklärungsansätze wohl ein Teil der Wahrheit.
Die Folgen von Einsamkeit
Lebensweise. Einsame Menschen bewegen sich im Schnitt weniger. Unter ihnen befinden sich doppelt so viele Raucher wie unter nichteinsamen Menschen. Sie nehmen zudem mehr Schmerzmittel und Antidepressiva ein.
Körperlich. Einsame Individuen leiden öfter unter chronischen Erkrankungen oder Gesundheitsproblemen wie etwa erhöhtem Cholesterinspiegel oder Diabetes. Es gibt auch Studien, die darauf hinweisen, dass Herz-Kreislauf-Probleme und Übergewicht bei Einsamen öfter vorkommen. Sie suchen zumindest öfter den Arzt auf: Die Mehrheit der sehr Einsamen ging im vergangenen Monat zum Allgemeinarzt und ein Teil wurde im letzten Jahr stationär behandelt – mehr als weniger einsame Personen.
Psychisch. Unter einsamen Menschen ist das Risiko für eine Depression doppelt so hoch wie bei solchen, die sich nicht einsam fühlen. Auch das Risiko für Angsterkrankungen und Suizidgedanken ist bei ihnen erhöht. Sie berichten beinahe viermal so oft von unangenehmem psychischem Stress.
Zum Weiterlesen
Rebecca Nowland u.a.: Loneliness and social internet use: pathways to reconnection in a digital world? Perspectives on Psychological Science, 13/1, 2017, 70–87 DOI: 10.1177/1745691617713052
Manfred Spitzer: Einsamkeit. Die unerkannte Krankheit. Droemer, München 2019
Jean Twenge: Me, my selfie and I. Was Jugendliche heute wirklich bewegt. Mosaik, München 2018
Quellen
Manfred Beutel u.a.: Loneliness in the generela population: prevalence, determinants and relations to mental health. BMC Psychiatry, 17/97, 2017. DOI: 10.1186/s12888-017-1262-x
Theresa Eyerund und Anja Kathrin Orth: IW-Report 22/2019: Einsamkeit in Deutschland. Aktuelle Entwicklungen und soziodemographische Zusammenhänge. Köln 2019
Michelle Lim u.a.: A pilot digital intervention targeting loneliness in youth mental health. Frontiers in Psychiatrie, 10/604, 2019. DOI: 0.3389/fpsyt.2019.00604
Gerine Lodder: What you don’t know about adolescent loneliness. TedxGroningen 2017. Verfügbar unter: https://www.youtube.com/watch?v=o4m4DPC1jZY
Maike Luhmann und Louise Hawkley: Age differences in loneliness from late adolescence to oldest old age. Developmental Psychology, 52/6, 2016, 943–959. DOI: 10.1037/dev0000117
Marcus Mund u.a.: The stability and change of loneliness across the life span: a meta-analysis of longitudinal studies. Personality and Social Psychology Review, 24/1, 2019, 24-52. DOI: 0.1177/1088868319850738
Rebecca Nowland u.a.: Loneliness and social internet use: pathways to reconnection in a digital world? Perspectives on Psychological Science, 13/1, 2017, 70-87. DOI: 10.1177/1745691617713052
Anja Kathrin Orth und Theresa Eyerund: IW-Kurzreport 38/2019. Einsamkeit in Deutschland: Aktuell keine Zunahme. Köln 2019
Fabian Pels and Jens Kleiner: Loneliness and physical activity: a systematic review. International Review of Sport and Exercise Psychology, 9/1, 2016, 231-260. DOI: 10.1080/1750984X.2016.1177849
Aline Richard u.a.: Loneliness is adversely associated with physical and mental health and lifestyle factors: Results from a Swiss national survey. Plos One, 12/7, 2017. DOI: 10.1371/journal.pone.0181442
Manfred Spitzer: Einsamkeit. Die unerkannte Krankheit. Droemer, München 2019
Jean Twenge: Me, my selfie and I. Was Jugendliche heute wirklich bewegt. Mosaik, München 2018