Herr Bujard, in welchem Alter findet denn die Rushhour des Lebens statt?
Wissenschaftler definieren diese Phase unterschiedlich, einige sprechen davon, dass es für die 25- bis 35-Jährigen besonders anstrengend ist, andere wiederum richten ihren Fokus besonders auf das Alter zwischen 30 und 45 Jahren. Wir haben empirische Daten ausgewertet und dabei festgestellt, dass es weniger auf das Alter der Frauen und Männer selbst ankommt, sondern auf das ihrer Kinder. Sind diese unter sechs Jahre alt, ist die…
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Frauen und Männer selbst ankommt, sondern auf das ihrer Kinder. Sind diese unter sechs Jahre alt, ist die Belastung bezüglich Haushaltsarbeit, Fürsorge und beruflicher Arbeit für die Eltern enorm. Insgesamt jedoch unterteilen wir zwei verschiedene Phasen, wenn wir von der Rushhour des Lebens sprechen.
Die wären?
Zunächst geht es um die Rushhour der Lebensentscheidungen, in die vor allem Frauen und Männer nach dem Studium geraten. Innerhalb von fünf bis sieben Jahren erfolgt die Entscheidung, einerseits in den Beruf einzusteigen und Aufstiegschancen zu nutzen, andererseits einen gemeinsamen Haushalt zu führen und eine Familie zu gründen. Danach schließt sich die Rushhour des Familienzyklus an, in dem der Alltag mit kleinen Kindern gemanagt werden muss, was jenseits all der schönen Seiten als enorme Belastung, als Spagat zwischen Berufs- und Familienarbeit erlebt wird.
Trifft das auf alle jungen Eltern zu, unabhängig von Herkunft und Ausbildung?
In die Rushhour des Familienzyklus gelangen alle Eltern mit kleinen Kindern, die Rushhour der Lebensentscheidungen spüren besonders Frauen, die einen hohen Ausbildungsgrad erreicht haben – also Akademikerinnen. Aufgrund der „biologischen Uhr“ wird das Zeitfenster für die Geburt nach einer langen Ausbildungszeit, gefolgt von dem Berufseinstieg, immer kleiner. So entsteht der Druck, sich bald entscheiden zu müssen, und da sind nicht selten Konflikte programmiert.
Ein Beispiel: Beide sind Anfang 30, jeder hat eine befristete Stelle. Der junge Mann bekommt ein attraktives unbefristetes Jobangebot in einer anderen Stadt. Eigentlich wollten sie zusammenziehen und eine Familie gründen. Doch jetzt muss einer von beiden erhebliche berufliche Abstriche machen, wenn die Partnerschaft nicht in eine Fernbeziehung münden soll. Beide müssen nun genau planen: Zusammenziehen? Wenn ja, wann? In welche Stadt? Wie soll es beruflich weitergehen für sie und für ihn? Und passt dann der Kinderwunsch überhaupt und zeitlich in diese Planungen?
Aber darüber musste man sich doch immer schon Gedanken machen. Warum sprechen Sie von einem historisch neuen Phänomen?
Diese Gedanken musste man sich nicht machen, wenn nur einer das Geld für die Familie verdiente. Meistens war das der Mann, und die Frau blieb zu Hause, um sich um Kinder und Haushalt zu kümmern. Das hat sich geändert, Frauen gehen auch als Mütter arbeiten. Ein weiterer Aspekt, der eine wichtige Rolle spielt: Die Gruppe der Akademiker ist gewachsen. Die Bildungsexpansion hat dazu geführt, dass immer mehr junge Menschen studieren. Bei Frauen im Alter von 30 bis 50 Jahren hat etwa jede vierte einen akademischen Abschluss, bei Männern fast jeder dritte. Frauen im vergangenen Jahrhundert haben ihre beruflichen Ambitionen meistens hintangestellt und sind mit ihrem Mann dorthin gezogen, wo er Arbeit fand. Heutzutage sind Frauen besser ausgebildet als in früheren Generationen, oft sogar auch besser als ihre Männer. Da beide arbeiten wollen, müssen die Berufsbiografien aufeinander abgestimmt werden. Außerdem hat sich die Arbeitswelt gewandelt. Trotz hervorragender Ausbildung gibt es oft keine klare Perspektive, Stellen sind befristet, und die berufliche Entwicklung bleibt unsicher. Darüber hinaus führen familienbedingte Unterbrechungen leider immer noch häufig zu Karrierenachteilen.
Ist das ein Grund für die hohe Kinderlosigkeit bei Akademikerinnen?
Die Zahlen sprechen für sich: 29 Prozent der westdeutschen Akademikerinnen, die in den 1960er Jahren geboren wurden, haben keine Kinder. Frauen, die eine Lehre beendet und somit einen mittleren Bildungsstand erreichten, blieben lediglich zu 21 Prozent kinderlos, Frauen ohne Abschluss nur zu 15 Prozent. Bei einer Umfrage unter Studentinnen gaben aber nur sieben Prozent an, gänzlich auf Nachwuchs verzichten zu wollen. Das heißt, die meisten kinderlosen Akademikerinnen wollten ursprünglich Kinder, aber konnten ihren Wunsch nicht realisieren.
Wer sich für eine Familie entscheidet, schlittert wohl zwangsläufig in die Rushhour des Familienzyklus. Wie steht es da um die Belastung?
Wir haben im Institut die wöchentliche Zeit beruflicher Arbeit, Betreuungs- und Hausarbeit zusammengerechnet. Diese Gesamtarbeitszeit beträgt in den Lebensphasen vor der Familiengründung sowie nach dem Auszug der Kinder durchschnittlich etwa 45 bis 50 Stunden. Bei Frauen mit zwei Kindern, bei denen das jüngste unter drei Jahre alt ist, sind es hingegen 65 Stunden! Und das bei einer beruflichen Arbeitszeit von durchschnittlich 15 bis 20 Stunden.
Und wie sieht es bei den Vätern aus?
Nimmt man die berufliche und familiäre Arbeit zusammen, kommen auch sie auf weit über 60 Stunden, wenn die Kinder jünger als sechs Jahre sind. Der Unterschied zu den Müttern ist nach wie vor, dass Väter weniger im Haushalt mithelfen und sich dafür beruflich stärker engagieren.
Väter arbeiten sogar länger als gleichaltrige Männer ohne Kinder. Nach der Geburt des ersten Kindes schränken sie ihre Hobbys ein und treiben weniger Sport. Im Job treten sie hingegen nicht kürzer, im Gegenteil, oft erweitern sie sogar noch ihr Pensum. Und das obwohl zwei Drittel der jungen Männer deutlich weniger arbeiten möchten. Dem steht entgegen, dass sich 80 Prozent der Frauen stärker beruflich einbringen und ökonomisch unabhängig sein wollen. Viele Frauen möchten nach der Elternzeit mit einer Teilzeitstelle beginnen und später dann auf Vollzeit erweitern. Leider sind die wenigsten Arbeitgeber darauf vorbereitet.
Die allgemeine Erwartungshaltung ist noch immer, dass vorrangig Frauen für die Kinder sorgen und Männer im Beruf Gas geben?
Ein Mann, der seine Stundenzahl reduzieren möchte oder Homeoffice vorschlägt, wurde und wird leider immer noch oft schief angesehen. Das Elterngeld hat in einem gewissen Maße ein Umdenken angestoßen, mehr und mehr Männer wünschen sich eine gleichberechtigte Rolle in der Kindererziehung. Allerdings trauen sie sich oft nicht, Elternzeit zu beantragen, da sie Angst haben, dass die Auszeit ihrer Karriere schaden könnte. Denn in der deutschen Wirtschaft herrscht eine strenge Präsenzkultur: Wer abends um 19 Uhr noch im Büro sitzt, macht Karriere. Viele Unternehmen reagieren so gar nicht auf familiäre Bedürfnisse.
Verabschieden sich deshalb mehr und mehr Absolventen von traditionellen Karrieremustern, weil ihnen selbstbestimmtes Arbeiten auch hinsichtlich der Familienplanung wichtig ist?
Auch. Die Start-up-Szene ist zum Beispiel nicht nur eine andere Form der Arbeit, sondern auch ein neuer Lebensentwurf und zeigt, dass junge Menschen sich anders organisieren wollen. Warum nicht auch die Präsenzpflicht abschaffen? Dann können Mitarbeiter entscheiden, wo und wann sie arbeiten, Hauptsache, das Pensum wird geschafft. Dieses Modell lässt sich natürlich nicht auf alle Branchen und Unternehmen übertragen, aber es könnte ein Denkanstoß sein, zu prüfen, wo im Betrieb Flexibilität möglich ist. Dazu braucht es in erster Linie mehr Verständnis vom Arbeitgeber.
… und eine Frauenförderung, die auch bei Männern ansetzt?
Genau. Wenn die Männer mehr für ihre Familie da sein können, erweitert das den Spielraum für ihre Partnerinnen. Laut Statistischem Bundesamt nahmen ein Drittel der Männer, die Väter wurden, das Elterngeld in Anspruch. Und vier von fünf Vätern, die Elterngeld bezogen, entschieden sich lediglich für das Minimum von zwei Monaten beruflicher Auszeit. Elternzeitmodelle sollten erweitert werden. Bis zur Einschulung der Kinder könnte die Politik Väter unterstützen, die ihre Arbeitszeit um zehn Prozent reduzieren, und ihre Partnerinnen hätten die Möglichkeit, ihre berufliche Arbeitszeit zu erhöhen. Das wäre ein Anfang.
Was müsste sich noch gesellschaftlich ändern?
Diese Kluft, einerseits Vollzeit zu arbeiten und Karriere zu machen oder in Teilzeit zu verharren mit einer schlechten beruflichen Perspektive, muss nicht sein. Wir brauchen mehr qualifizierte Teilzeitstellen, mit der Aussicht, auf Vollzeit zu erweitern. Das Doppelverdienermodell, das sich die Mehrheit der jungen Eltern wünscht, müsste anders gestaltet werden. Für Eltern mit kleinen Kindern sollten berufliche Auszeiten und Arbeitszeitreduzierungen in Betrieben möglich sein und eingeplant werden. Beruf und Familie werden nur dann vereinbar sein, wenn es ein gesellschaftliches Umdenken gibt. Wenn bei der Arbeit das Ergebnis zählt und nicht die im Büro abgesessenen Stunden. Wenn Frauen und Männer nicht Kind und Karriere gleichzeitig in die Rushhour des Lebens packen müssen, sondern sich auch nach der Geburt weiterbilden, im Job durchstarten oder einfach zeitlich länger arbeiten können, weil es ein umfangreiches Betreuungsangebot gibt. Wichtig wäre auch, dass Arbeitgeber sich dafür interessieren, ob ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Kinder haben oder nicht.
Gibt es in anderen Ländern Lösungen, die uns Anregungen geben könnten?
Insbesondere in den nordeuropäischen Ländern werden verschiedene Ausbildungsabschlüsse zu unterschiedlichen Zeitpunkten im Leben erworben, damit eröffnet sich die Möglichkeit zur flexiblen Gestaltung eigener Pläne. Ein Vorbild ist auch das gestaffelte Ausbildungssystem in Frankreich, das Concours-System: In diesem Rahmen können Akademiker sich immerzu an Wettbewerben beteiligen, um die jeweils nächste Ausbildungsstufe zu erreichen. Dadurch können Bildungsabschlüsse nachgeholt werden, was mehr Spielraum für die Familiengründung lässt. Mit der Umstellung des deutschen Ausbildungssystems auf Bachelor- und Masterabschlüsse wurden erste Schritte in Richtung eines Ausbildungssystems gemacht, das auf Modulen aufbaut. Diese Entzerrung der Ausbildung sollte stärker genutzt werden.
Wie könnte darüber hinaus die Rushhour des Lebens entzerrt werden?
Wichtig wäre, dass eine Familiengründung sich nicht nur auf die kurze Phase von fünf bis sieben Jahren konzentriert. Dazu ist eine größere öffentliche Akzeptanz notwendig, also eine Offenheit gegenüber Elternschaft während der Ausbildung und auch jenseits des 35. Lebensjahres. Weiterhin sind berufliche Auszeiten wie Elternzeit, temporäre Teilzeit oder Sabaticals häufig mit Karrierenachteilen verbunden. Dabei wird unterschätzt, dass Eltern in diesen Monaten wertvolle soziale Kompetenzen entwickeln.
Was können junge Mütter und Väter selbst tun?
Eltern können in gewissem Maße zu einer Entzerrung der Arbeitsbelastung in der Phase mit kleinen Kindern beitragen: Gerade viele Väter unterschätzen die Möglichkeit, ihre Berufstätigkeit zu unterbrechen oder zu reduzieren – und das auch einzufordern. Es gilt eben, vorhandene Ansprüche an Arbeitgeber besser zu nutzen. Bei der Kinderbetreuung können verstärkt Nachbarn und Großeltern eingebunden werden, eine räumliche Nähe zu den Großeltern ist eine nicht zu unterschätzende Ressource. Andere Entlastungspotenziale liegen darin, Haushaltsdienstleistungen zu delegieren, ein gutes Zeitmanagement zu etablieren und den elterlichen Perfektionsanspruch zu überdenken.
Was meinen Sie damit?
Viele Mütter und Väter, besonders unter den Akademikern, haben einen solch hohen Anspruch an sich als Eltern, dass sie sich das Leben unnötig schwermachen. In Westdeutschland haben viele Mütter ein schlechtes Gewissen, wenn ihr Kind nachmittags im Hort oder in der Kita ist. Man muss auch nicht zu jedem Fußballspiel oder zu jeder Tanzaufführung der Kinder, nur weil es die anderen Eltern auch so machen. Und Kindergeburtstage müssen nicht zu Großveranstaltungen ausarten. Eltern fühlen sich oft bewertet: von ihren Kindern, vom Partner, von den Kollegen, von anderen Eltern und den Schwiegereltern. Es wäre gut, sich davon etwas zu befreien. Man muss es nicht den anderen recht machen – was natürlich leichter gesagt als getan ist. Doch etwas mehr Gelassenheit leben, das ist nicht nur in der Rushhour wohltuend und kommt letztlich auch den Kindern zugute.
Dr. Martin Bujard, Politikwissenschaftler und Psychologe, ist Forschungsdirektor des Bereichs Familie und Fertilität am Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BiB) in Wiesbaden